Über Umwege wird man ortskundig
Im hinteren Glarnerland forscht und arbeitet es sich als Künstler weitgehend ungestört – der künstlerische Umgang mit den Elementen ist mitunter gar leichter als derjenige mit den Nachbarn. Annäherung an den Maler Patrick Rohner und seine Arbeit in und mit rauer Landschaft.
Patrick, was macht die Kunst?
Die Kunst gibt uns die Möglichkeit einer alternativen Wahrnehmung der Welt, die ausserhalb herkömmlicher Funktionalitäten steht. Kunst kann Systeme aufbrechen, irritieren und sie bringt uns dazu, innezuhalten. Kunst ist ein Ausstieg aus alten funktionellen Mustern.
Wie bist du «ausgestiegen»?
Zuerst habe ich ja ein Primarlehrerstudium gemacht. Und habe damit eine Funktion erfüllt. Für die Gesellschaft, auch für mich selbst. Wenn du Künstler wirst, steigst du da weitgehend aus. Du versuchst, eine ganzheitliche Sichtweise einzunehmen. Eine Funktion, die über ein Erfüllen eines gewissen Berufsfeldes hinausgeht. Du versuchst, das Leben als Ganzes zu verstehen.
Einem Lehrer fehlt dieses ganzheitliche Verständnis?
Ja. Ich bin ja immer noch eineinhalb Tage pro Woche als Lehrer tätig. Unsere Aufgaben da nehmen immer mehr zu, so dass es unmöglich wird, Zeit für kritisches und ganzheitliches Denken und Reflektieren zu haben. Der Mensch wird zunehmend in Nischenberufsfelder getrieben, dadurch wächst auch sein generelles Unwissen. Ein Altsteinzeitmensch verfügte über ein grösseres Allgemeinwissen, als wir es heute haben. Er war als Einzelner überlebensfähig, wir sind das eigentlich nicht mehr. Hier sehe ich auch die Rolle des Künstlers: dieser fortschreitenden Spezialisierung etwas entgegenzuhalten. Den Menschen zu motivieren, selbst zu überleben, um nicht irgendwann in ein Cyberwesen verwandelt zu werden.
Und wie erfolgreich bist du damit, im hinteren Glarnerland?
Das Verständnis hinsichtlich der alternativen gesellschaftlichen Rolle des Künstlers ist hier recht bescheiden. Meine Frau arbeitet Vollzeit als Lehrerin und die meisten haben Bedauern mit ihr, dass sie arbeiten müsse und ich daneben ein «glückliches Künstlerdasein» führen könne. Es gibt nur wenige hier, die meine Arbeit sehen und verstehen.
Du bist im Luzernischen aufgewachsen, hast später in der renommierten Düsseldorfer Kunstakademie studiert und lebst nun seit über 25 Jahren im Glarnerland. Im Winter kaum Sonne, links und rechts steile Felsen. Was hat dich an dieses Ende der Schweiz verschlagen?
Der Entscheid, nach Düsseldorf zu gehen, war auch eine Reaktion auf die Enge des Kunstbetriebes in Luzern, ich bin mit meinem Denken zunehmend auf Widerstand gestossen. Die Aufbruchsstimmung um Joseph Beuys hat mich angezogen. Nach Ende des Studiums kam ich wieder in die Schweiz zurück, weil ich meinen Sohn aufwachsen sehen wollte. Dass wir dann ins Glarnerland zogen, war aber ein ganz bewusster Entscheid: Pragmatisch, weil man hier in leerstehenden Industriehallen für 300 Franken 800 Quadratmeter grosse Atelierräume bekommen konnte. Und inhaltlich, weil ich mich zunehmend mit Landschaft, Material und der Kritik am Urbanen beschäftigte.
Das hättest du aber auch in anderen Tälern der Schweiz finden können. Was hatte Glarus, das die anderen nicht haben?
Im Gegensatz etwa zu Luzern mit seinen Postkartenlandschaften hast du es hier wirklich mit einem Hochgebirge zu tun, also mit einer nicht nur angenehmen, schönen Landschaft. Das Glarnerland kann schon ziemlich heftig sein. Es rumpelt hier immer wieder und ich habe in den letzten 27 Jahren schon einige Naturkatastrophen erlebt: Erdrutsche, Überschwemmungen, Lawinen, Steinschläge, kleine Erdbeben. Es ist eine Herausforderung, hier zu leben.
Diese Landschaftstransformationen spiegeln sich auch direkt in deinen Bildern und Arbeitsprozessen wider: Überlagerungen, Abspaltungen, Risse, Schrunden, Pressen, Schaben etc.
Die Landschaft des Glarner Hinterlands verändert sich ständig – durch die kleinen und grossen Bedrohungen. In meinen ersten Jahren hier war ich noch ein fleissiger Kneipengeher und habe den Menschen zugehört, wie sie sich hier stoisch in «sisyphushafter Weise» der überfordernden Natur entgegenstellen. Den Forstarbeitern, den Kraftwerkarbeitern, dem Wildhüter, den Einheimischen. Die Verbauungen von Runsen, Lawinenhängen, Schutzdämmen führten dann auch zu meinen ersten «Mauerbildern» – meine Arbeitsweise an den Bildern hat sich immer mehr den Landschaftsprozessen angenähert.
«Der Mensch wird zunehmend in Nischenberufsfelder getrieben, dadurch wächst auch sein generelles Unwissen.»
Diese dicken, schweren Schichtenbilder spiegeln also konkret die geologischen Abläufe und komprimierte Landschaft des Glarnerlands wider?
Genau. Über dreihundert Millionen Jahre Erdzeitgeschichte sind hier auf nur 40 Kilometern im ganzen Spektrum zu begreifen, das ist ziemlich einzigartig und erlaubt mir, den ganzen Kanton als überschaubare Laborsituation für meine Arbeit zu benutzen.
Dieses Studieren von Landschaft findet bei dir auf verschiedenen Ebenen und mittels unterschiedlicher Techniken statt. Du begehst einerseits die Landschaft und fotografierst sie, hast ein immenses Archiv an gesammelten Informationen angelegt und auch ein eigenes Notationssystem entwickelt, das deine Werkprozesse begleitet. Wie läuft das genau ab, wie entstehen deine Bilder?
Meine Gemälde bestehen in der Regel aus sehr vielen Farbschichten, die mit verschiedenen Vorgehensweisen aufgetragen und bearbeitet werden. Sie bleiben so lange im Prozess, d.h. es kommt so lange eine neue Schicht dazu, bis ich sie für gut befinde. Es ist eine Art Kreislauf: am Anfang steht das Bestimmen einer nächsten Farbschicht. Das geschieht anhand von vier Fotos, die ich von der – das Atelier umgebenden – Landschaft gemacht habe. Je nach Jahreszeit fällt der Farbton anders aus. Ein weiterer Input kommt aus meinem «Postkartenarchiv» mit klassischen Landschaftspositionen der Kunstgeschichte. Der finale Farbton für die nächste Farbschicht entsteht auch im Dialog mit den etwa vierzig in Arbeit stehenden Ölarbeiten im Atelier. Habe ich eine Farbe bestimmt, versuche ich davon 100 bis 150 Kilogramm Ölfarbe zu produzieren. Diese Farbmasse wird dann mittels verschiedener Auftragstechniken und Arbeitsprozesse auf die Bilder aufgetragen – bis die Farbe aufgebraucht ist. Dann kommen die nächste Farbe und die nächste Schicht. Das wiederhole ich so lange, bis ich ein Bild als fertig betrachte und aus dem Kreislauf herausnehme. Am Ende folgt manchmal auch eine Abzeichnung der Arbeit, die mir dann die letzte Sicherheit gibt, dass sie fertig ist. All diese Schritte halte ich tagebuchartig in meinen «Notationen» auf einer Archivkarte fest.
Wie lange arbeitest du also durchschnittlich an einem Bild?
Pro Farbschicht brauche ich etwa eineinhalb Monate. Und ich mache – wenn es gut geht – etwa sechs bis acht Farbschichten pro Jahr. Ein Bild ist mindestens ein Jahr im Prozess, bei den meisten dauert es aber mehrere Jahre. Und einige sind gar über zehn Jahre in Arbeit.
An dieser Stelle noch einmal zurück zu den Recherchearchiven, die du anlegst. Das hat auch eng mit deinem Tagesablauf zu tun.
Ich stehe um halb sechs auf, um halb sieben starte ich mit der Arbeit. Zunächst beantworte oder schreibe ich Mails und bediene meine Archive. Seit 1997 führe ich etwa das Katastrophenarchiv: ich arbeite dafür die ganze NZZ durch und schneide alles, was an Naturkatastrophen passiert, aus und lege es in einem A3-Ordner ab. Nach und nach sind weitere Archive zu anderen Themen dazugekommen: Verschiedene Bereiche der Naturwissenschaften, wie Geologie, Klimawissenschaft oder Physik. Weiter sammle ich geologische Karten, Panoramakarten, Kriegsbilder, Kirchenführer und Steine. Grundsätzlich versuche ich, mit meinen Archiven «alles» zu erfassen.
Wie wichtig sind wiederkehrende Strukturen und Abläufe für deine Arbeit?
So strukturiert, wie ich den Morgen beginne, geht es eigentlich den ganzen Tag weiter, auch in den Erholungsphasen. Gegen
9 Uhr beginne ich mit der künstlerischen Arbeit, dazu höre ich Kultursendungen im Radio. Über Mittag mache ich meist eine «Raucherzeichnung». Vor sieben Jahren hörte ich mit dem Rauchen auf, seither mache ich anstelle der Rauchpause immer eine Zeichnung: Das sind so ganz kontrollierte, abgemessene Zeichnungen, die mich sehr auf die Nähe fokussieren, wo ich mich einfach wohlfühle und erden kann, sitze und schaue. 50 Bücher sind seither damit gefüllt worden. Nachmittags arbeite ich bis gegen sieben weiter im Atelier, gleichzeitig höre ich mir wissenschaftliche Vorträge an. Nach dem Abendessen spiele ich Alphorn, lese und versuche – im Gegensatz zu früher –, wirklich um zehn im Bett zu sein. Ich sehe im Leben zwar nicht wahnsinnig viel Sinn, aber über die strukturierte Arbeit kann ich diese Sinnlosigkeit relativ gut ertragen.
Die Arbeit gibt dir den Sinn zu existieren?
Ja, es ist wie ein Motor zum Leben. Und für diese Arbeit brauche ich einen Körper, der funktioniert, ich brauche einen Geist, der funktioniert. Ich wollte schon im Studium immer alles begreifen. Werkzeuge wie das Begehen der Landschaft, die Sammlungen und Archive, die Notation, das Abzeichnen und anderes helfen mir dabei. Das Gute ist, dass diese Werkzeuge eigentlich fast überall funktionieren. Und man kann es auch immer noch etwas besser machen. Und es entsteht auch immer wieder etwas Neues. Umwege sind oft viel besser als die direkten Wege. Ich habe in meinem Leben viele Umwege gemacht – aber das war produktiv.
Über Umwege wird man ortskundig?
Genau.
Deine Recherchen und Begehungen führen dich oft auch in die Landschaft hinaus – wie hast du es mit der Land Art, arbeitest du auch in der Landschaft?
Es gab einige Versuche, in der Landschaft zu intervenieren – es hat mich bisher nicht zufriedengestellt. Es geht mir eher ums Wahrnehmen und Wandern, nicht um das Eingreifen. Was mich beeindruckt hat, ist aber die Arbeitsweise des Land-Künstlers Hamish Fulton. Seine Eingriffe in die Natur sind minimal: Er hebt einen Stein auf, legt ihn auf ein Papier, umkreist seine Umrisse und legt den Stein wieder zurück. Vielleicht hat mich das auch zu meinen «Steinzeichnungen» geführt.
«Über dreihundert Millionen Jahre Erdzeitgeschichte sind hier auf nur 40 Kilometern zu begreifen, das erlaubt mir, den Kanton als Laborsituation für meine Arbeit zu benutzen.»
Du arbeitest im Rahmen der Tektonik-Wanderausstellung für das Jubiläum des Unesco-Welterbes Tektonikarena Sardona an einer Gruppe dieser «Steinzeichnungen» – wie funktionieren sie?
Ich platzierte im Juni rund um die Sardonahütte SAC vierzehn grosse Büttenpapiere in der Landschaft, beschwert durch einen vor Ort gefundenen grossen Stein. Unter dem Papier im Format 56 mal 76 Zentimeter gibt es eine Holzplatte als Basis – obendrauf kommt ein 50 bis 100 Kilo schwerer Stein, das ging natürlich nur dank zwei Helfern. Nun lasse ich Wind, Wasser und Sonne ihre Arbeit machen: Unter anderem lösen sich Partikel vom Stein, Spuren, die dann auf dem Papier sichtbar werden, irgendwann beginnt sich das Papier auch zu zersetzen.
Die Zeichnung entsteht weder als Druck noch als Frottage, eher als Sedimentation und Erosion. Wie lange lässt du die Blätter der Witterung ausgesetzt?
Einige Monate, je nach Spuren und Stand des Zerfalls – gegen Ende September, anfangs Oktober hole ich sie zurück. Die Steine verbleiben am Fundort, die Blätter und Tafeln kommen wieder ins Tal. Auf die Zeichnung kommt dann noch ein abschliessender Firnis, dann werden sie gerahmt und zur Finissage meiner aktuellen Einzelausstellung in Zürich präsentiert.
Die Auswahl der Steine vor Ort ist nicht willkürlich, du wählst sie nach geologischen Gesichtspunkten. Wie eignest du dir dieses Wissen an?
Ich machte zu Beginn mehrere sogenannte Begehungen im Gebiet, auch gemeinsam mit dem Geologen Helmut Weissert. Natürlich ist auch viel Erfahrung dabei. Bei einer Begehung wandere ich über Stunden durch eine ausgewählte Landschaft, je nach Länge der Wanderung entstehen dabei 500 bis 2000 Fotos, die mein Denken oder meine Wahrnehmung dabei sichtbar machen.
Von diesen Digitalfotos lässt du dann billige Fotoabzüge drucken, die du an einem anderen Ort – dem Atelier oder einem Ausstellungsraum – als eine Art Teppich oder Assemblage horizontal ausbreitest. Warum?
Es fasst den «abgelaufenen» Ort in einem abgeschlossenen Ganzen zusammen. Es ist eine Wiederholung und Vertiefung der Begehung. Es entsteht eine gelegte und nicht fixierte Collage, die ein verwirrendes Muster von erfahrenen Wirklichkeiten komplex begreifen lässt.