«Tutti fratelli»: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz
Im Dienst der Menschlichkeit
Das Rote Kreuz hat seit seiner Gründung 1863 eine eigene Neutralitätskonzeption, die auf Henry Dunant zurückgeht. Nach Dunants Vorschlag sollten in jedem Staat private Hilfsgesellschaften zur Pflege der Verwundeten im Krieg gebildet werden. Die Regierungen sollten ihrerseits ein völkerrechtliches Abkommen schliessen, das den Helfern der privaten Gesellschaften und den Sanitätsdiensten der Heere Schutz garantiert. Neutralität wurde in zweierlei Hinsicht vorgesehen. Erstens sollten alle Teile der neuen Hilfsorganisation verpflichtet werden, sich der Teilnahme an Feindseligkeiten sowie an politischen, religiösen, rassischen und ideologischen Auseinandersetzungen zu enthalten. Zweitens sollte ihre Hilfe unparteilich geleistet werden, also ohne Unterscheidung zwischen eigenen und feindlichen Angehörigen. Diese Grundsätze wurden 1864 in der Genfer Konvention verankert, in späteren Konventionen präzisiert und auf Kriegsgefangene und Zivilpersonen ausgedehnt. 1965 wurden die Grundprinzipien des Roten Kreuzes, darunter Neutralität und Unparteilichkeit, in einer Erklärung der Internationalen Rotkreuzkonferenz näher definiert. Die dort festgelegten Prinzipien gelten für die ganze Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.
Während die Neutralität des Roten Kreuzes ausschliesslich darauf ausgerichtet ist, humanitäre Dienstleistungen zu ermöglichen, bedeutet die Neutralität eines Staates vorwiegend Nichtteilnahme an bewaffneten Konflikten und Verzicht auf militärische Unterstützung von Kriegführenden. Im übrigen überlässt das Neutralitätsrecht dem neutralen Staat eine weite Freiheit. Dieser darf auch zu politischen Fragen Stellung nehmen, und seine Neutralität hat keine spezifisch humanitäre Ausrichtung. Die Verschiedenheit der beiden Neutralitätsauffassungen hat zur Folge, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Schweiz in bestimmten Konfliktsituationen unterschiedliche Haltungen einnehmen. In der Periode zwischen den zwei Weltkriegen etwa weigerte sich die Schweiz, mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen aufzunehmen; sie widersetzte sich 1934 auch der Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund und stimmte 1939, nach dem sowjetischen Angriff auf Finnland, für ihren Ausschluss. Das IKRK andererseits unterhielt während dieser ganzen Zeit hilfreiche Beziehungen mit der sowjetischen Regierung und dem russischen Roten Kreuz. Ähnliches galt für die Beziehungen zum Taliban-Regime in Afghanistan in den 1990er Jahren sowie für jene mit Irak nach dessen Angriff auf Kuwait 1990. Die Schweiz beteiligte sich an den vom Sicherheitsrat beschlossenen Wirtschaftssanktionen gegen Irak, das IKRK aber führte seine Beziehungen mit der Regierung Iraks fort und konnte wesentliche humanitäre Fragen im Einvernehmen mit beiden Konfliktparteien lösen. Für das IKRK ist es wichtig, mit allen Parteien bewaffneter Konflikte Beziehungen zu unterhalten, weil es nur so seine Aufgabe erfüllen kann.
Zur Neutralität des IKRK gehört auch der Grundsatz der Vertraulichkeit. Das IKRK erhält nur dann Zugang zu Kriegsgefangenen und anderen der Freiheit Beraubten, wenn es auf öffentliche Stellungnahmen zum Verhalten der Kriegführenden verzichtet. Seine Berichte über Besuche werden nur den betroffenen Regierungen zugestellt und bleiben vertraulich. Das IKRK hat sich jedoch das Recht vorbehalten, an die Öffentlichkeit zu gelangen, wenn humanitäres Völkerrecht wiederholt schwerwiegend verletzt wird und vertrauliche Schritte bei der verantwortlichen Regierung wirkungslos bleiben. So nahm es 1992 Stellung zur ethnischen Säuberung in Bosnien, später zur Verwahrung Verdächtiger in Guantanamo und unlängst zur Mauer zwischen Israel und dem besetzten Westjordanland, soweit diese nicht auf der 1949 festgelegten Waffenstillstandslinie, sondern auf palästinensischem Gebiet verläuft. Trotz der Verschiedenheiten der Neutralität des IKRK und jener der Schweiz bestehen mannigfaltige Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Ein schweizerisches Komitee
Eine erste Beziehung zur schweizerischen Neutralität ergab sich anlässlich der Annahme der Genfer Konvention von 1864. Das Komitee der fünf Genfer unter dem Vorsitz von General Dufour, das 1863 die Aufgabe übernahm, Dunants Ideen zu verwirklichen, berief im selben Jahr eine internationale Konferenz von Vertretern interessierter Behörden und privater Kreise nach Genf ein, an der die Bildung privater nationaler Hilfsgesellschaften beschlossen wurde. Zur Annahme eines völkerrechtlichen Vertrags aber war eine Konferenz von Regierungsvertretern erforderlich. Der schweizerische Bundesrat erklärte sich sofort bereit, eine solche einzuberufen. Sie bot ihm Gelegenheit, die internationale Stellung des noch jungen Bundesstaates zu festigen und der schweizerischen Neutralität neues Profil zu verleihen. Die Zusammenarbeit von IKRK und Bundesrat hat sich seither eingespielt. Das IKRK ergreift jeweils die Initiative und erstellt einen Entwurf, während der Bundesrat die diplomatischen Konferenzen durchführt. Der Bundesrat wurde überdies Depositar der Genfer Konventionen. Er ergreift auch Massnahmen für die Einhaltung der Konventionen.
Ohne den Rückhalt in der dauernden Neutralität der Schweiz hätten die Genfer Konventionen nicht die bemerkenswerte Entwicklung nehmen können, die sie genommen haben. Sie gehören zu den am weitesten anerkannten und am stärksten ratifizierten völkerrechtlichen Abkommen. Den Abkommen von 1949 gehören heute 192 Staaten an. Dies sind alle Staaten der Welt mit Ausnahme eines einzigen Nachzüglers (Nauru). Die schweizerische Neutralität war nicht nur Voraussetzung dieser Entwicklung, sondern wurde ihrerseits durch sie befruchtet. Zum bisherigen «Stillesitzen» kam die spezifische Rolle bei der Entwicklung und Einhaltung des humanitären Völkerrechts hinzu. Das Vertrauen, das die Eidgenossenschaft und das IKRK dadurch erwarben, trug massgeblich dazu bei, dass nach dem Ersten Weltkrieg Genf als Sitz des Völkerbundes und weiterer internationaler Organisationen gewählt wurde.
Das Komitee der fünf Genfer wurde an der Konferenz von 1863 «provisorisch» als zentrale Verbindungsstelle der neu zu gründenden nationalen Gesellschaften bezeichnet. Dabei wurde als selbstverständlich angenommen, dass diese neuen Gesellschaften in der Folge ein international zusammengesetztes Komitee wählen würden. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 bereitete dieser Absicht aber ein Ende. Die Rotkreuzgesellschaften der an jenem Krieg beteiligten Länder nahmen eine scharf parteiliche Haltung ein. Dies führte zur Erkenntnis, dass ein Komitee, dem Angehörige der Kriegführenden angehören, wegen inneren Zwiespalts im Kriegsfall nicht wirksam handeln könnte. An der rein schweizerischen Zusammensetzung und der Selbstergänzung des Komitees (das 1875 den Namen «Internationales Komitee vom Roten Kreuz» annahm) wurde deshalb nichts geändert. An den Internationalen Rotkreuzkonferenzen der folgenden Jahrzehnte wurden zwar verschiedene Vorstösse für die Wahl der Mitglieder des Komitees durch die nationalen Gesellschaften unternommen. Sie alle wurden jedoch abgelehnt, vorwiegend aus der Überzeugung, ein kriegführender Staat werde kein Vertrauen in ein Komitee haben, in dem Angehörige von Feindstaaten sitzen. 1946 wurde von schwedischer Seite der Vorschlag der Internationalisierung des Komitees wieder aufgenommen, jedoch mit dem Zusatz, dass im Kriegsfall die Angehörigen kriegführender Staaten aus dem Komitee ausscheiden und durch Angehörige neutraler Staaten ersetzt würden. Auch dieser Vorschlag blieb erfolglos, weil bei Kriegsausbruch, wenn der wirkungsvolle Einsatz des Komitees am dringendsten ist, seine Zusammensetzung hätte gewechselt werden müssen.
Die Problematik der rein schweizerischen Zusammensetzung des IKRK wurde in neuerer Zeit dadurch entschärft, dass das Personal des IKRK zunehmend internationalisiert wurde, was auch angesichts der umfassender gewordenen Tätigkeit in allen Teilen der Welt und des grösseren Personalbedarfs geboten war. Heute sind 43 Prozent der insgesamt gut 1’200 Mitarbeiter der Zentrale und der Delegationen Angehörige anderer Staaten. Dazu kommen die von den Delegationen selbst angestellten, über 9000 lokalen Hilfskräfte, die in der Regel Angehörige des betreffenden Staates sind.
Mit der schweizerischen Neutralität und der schweizerischen Zusammensetzung des IKRK hängt natürlich auch zusammen, dass das IKRK seinen Sitz in Genf behielt. Im Kriegsfall könnte es nicht vom Gebiet eines kriegführenden Staates aus wirksam tätig werden.
Unabhängigkeit von der Schweiz
Die Unabhängigkeit des IKRK ist wesentlich für die Ausübung seiner Funktionen. Durch das System der Kooptation ist sichergestellt, dass keine aussenstehende Wahlbehörde auf das Komitee Einfluss nehmen kann. Auch der Sitz in einem neutralen Kleinstaat ist von Bedeutung. Hätte das IKRK seinen Sitz auf dem Gebiet einer Grossmacht, könnte es sich dem Einfluss derselben kaum ganz entziehen. Die Unabhängigkeit des IKRK hat in den letzten Jahrzehnten durch sein internationales Wirken eine zunehmende Stärkung erfahren. Ursprünglich nur als Bindeglied zwischen den nationalen Gesellschaften vorgesehen, ist es heute primär Mittler zwischen Regierungen in humanitären Fragen. Die seit 1929 abgeschlossenen Genfer Konventionen übertragen ihm ausdrücklich Aufgaben im zwischenstaatlichen Bereich. Das IKRK wird heute allgemein als Völkerrechtssubjekt betrachtet, das mit den Regierungen direkt verkehrt und mit ihnen völkerrechtliche Vereinbarungen schliessen kann. Obwohl es rechtlich immer noch ein privatrechtlicher Verein nach schweizerischem Recht ist, hat es auf internationaler Ebene eine den zwischenstaatlichen Organisationen entsprechende Stellung. 1990 verlieh ihm die Generalversammlung der Uno den Beobachterstatus. Mit den meisten der über 70 Staaten, in denen das IKRK Delegationen unterhält, hat es Sitzabkommen geschlossen, in denen ihm und seinen Mitarbeitern die für internationale Organisationen üblichen Privilegien und Immunitäten gewährt werden. 1983 schloss es auch mit der Schweiz ein Sitzabkommen ab. Darin werden seine Völkerrechtspersönlichkeit und seine Unabhängigkeit besonders hervorgehoben, dies aus der Überlegung, dass im Fall einer engeren Verbindung der Schweiz mit der Europäischen Union die Stellung des IKRK nicht beeinträchtigt werden sollte. Rückwirkungen auf das IKRK könnten sich wohl nur dann zeigen, wenn die Schweiz sich zur Teilnahme an militärischen Zwangsmassnahmen verpflichten würde.
Auch in finanzieller Hinsicht ist das IKRK unabhängig. Zur Deckung seiner Ausgaben ist es vollumfänglich auf freiwillige Beiträge angewiesen. Im Jahre 2002 erhielt es Beiträge von insgesamt 788 Millionen Franken. 84 Prozent davon wurden von Regierungen geleistet. Die grössten Beiträge leisteten die USA (25 Prozent), Grossbritannien (15 Prozent) und die Schweiz (12,6 Prozent). Die Beiträge werden ohne Bedingungen geleistet, was eine Anerkennung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des IKRK voraussetzt. Beiträge, die an Bedingungen geknüpft werden, werden nicht angenommen.
Gegenwärtige Probleme
Neutrale und unparteiliche Haltungen stossen heute auf mannigfaltige Schwierigkeiten. Auf drei derselben sei hingewiesen. Erstens hat die Neutralität – die staatliche wie jene humanitärer Organisationen – viel von ihrer Wertschätzung verloren. Die staatliche Neutralität, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Achtung erlebte, verlor durch die zwei Weltkriege an Ansehen. Im Völkerbund und in den Vereinten Nationen verpflichteten sich die Staaten, gegen Friedensbrecher gemeinsam vorzugehen. Neutralität wurde ausgeschlossen. Zwar zeigte die Neutralität bald erneut ihre Nützlichkeit, doch wird die Parteinahme in Konfliktsituationen in der Regel bevorzugt. Neutralität wird auch oft als unmoralische Haltung betrachtet.
Die Abwertung neutralen und unparteilichen Verhaltens führt zu einem zweiten Problem, zur zunehmenden Vermengung humanitärer mit politischen Aktionen. Kennzeichnend dafür ist, dass zahlreiche Organisationen entstanden, die humanitäre und politische Ziele miteinander verbinden und damit auf Unparteilichkeit verzichten. Zwar bleibt ihnen der Zugang zu Kriegsgefangenen und anderen ihrer Freiheit Beraubten verschlossen, doch finden sie in der Öffentlichkeit beträchtlichen Anhang. Die Regierungen zeigen dieselbe Tendenz. Als es nach Ende des Kalten Krieges in zahlreichen Staaten wie Jugoslawien, Somalia, Liberia, Sierra Leone zu Zerfallserscheinungen und ethnischen Konflikten kam, schritten die Vereinten Nationen zwar ein, konnten aber wegen der mangelnden Bereitschaft der westlichen Staaten, Truppen in genügender Zahl zur Verfügung zu stellen, nicht wirksam für die Wiederherstellung der Ordnung sorgen. Als Ersatz sicherten die Regierungen humanitäre Hilfe zu, die jedoch oft nur unter militärischem Schutz geleistet werden konnte. Es zeigte sich dabei, dass humanitäre Hilfe, die unter militärischem Schutz geleistet wird, von der Gegenpartei als Parteinahme empfunden und bekämpft wird. Selbst humanitäre Organisationen wurden Ziele von Angriffen. Das IKRK setzte sich deshalb ein für eine strenge Trennung zwischen Wiederherstellung der Ordnung, die durch Truppen erfolgen muss, und humanitärer Hilfe, für die unparteiliche Organisationen zuständig sind, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg.
Drittens werden Neutralität und Unparteilichkeit durch die Wandlungen der bewaffneten Konflikte beeinträchtigt. Fast alle bewaffneten Konflikte der Gegenwart sind interne Konflikte, in denen die Gewalt vorwiegend von nichtstaatlichen Gruppen ausgeht, die keine klaren Strukturen aufweisen und deren Führer oft nicht zu erkennen sind. Dem IKRK wird es in solchen Fällen unmöglich, mit allen Konfliktparteien in Verbindung zu treten, um seine Aktionen unbehindert durchführen zu können. Zahlreiche Konflikte sind überdies asymmetrischer Natur. Die eine Partei verfügt über hoch entwickelte Technologie, die andere, die über keine entsprechenden Mittel verfügt, sieht die einzige Möglichkeit, den Gegner wirksam zu bekämpfen, in terroristischen Angriffen. Diese stellen schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts dar und veranlassen die Gegenpartei, ihrerseits den humanitären Erfordernissen weniger Bedeutung beizumessen.
Unparteiliche humanitäre Tätigkeit ist somit schwieriger geworden, das Bedürfnis dafür besteht aber weiterhin, und sie wird in grossem Umfang geleistet.