«Tropfen wie Honig im Ich»
Franz Felix Züsli, promovierter Rechtshistoriker und einstiger Sekretär der Universität Zürich, veröff entlichte mit «Hoff en in der Dämmerung» (1982) und «Dennoch» (1990) beachtenswerte Gedichtbände. Unvergesslich ist für den Rezensenten ein «Moskau»-Gedicht aus der Zeit vor der Perestrojka, in dem liebevoll formulierte poetische Ahnungen der politischen Wirklichkeit bedachtsam vorgreifen. Der Gedichtband «ember», von Rahel Wepfer […]
Franz Felix Züsli, promovierter Rechtshistoriker und einstiger
Sekretär der Universität Zürich, veröff entlichte
mit «Hoff en in der Dämmerung» (1982) und «Dennoch»
(1990) beachtenswerte Gedichtbände. Unvergesslich ist für
den Rezensenten ein «Moskau»-Gedicht aus der Zeit vor
der Perestrojka, in dem liebevoll formulierte poetische Ahnungen
der politischen Wirklichkeit bedachtsam vorgreifen.
Der Gedichtband «ember», von Rahel Wepfer mit diskretschlichten,
lichtspielenden Tuschzeichnungen illustriert,
rechtfertigt mit «Lauschen» den abermaligen lyrischen Versuch:
«Mich rühren Gesänge an/Tropfen wie Honig im Ich/
durchfunkeln leuchtend Dunkles/bis mein Lauschendes/erduftet
Holunderblüten/ und Lied um Lied singt im Ohr.» Der Text
kennt keine Satzzeichen. Die Bild- und Klangwelt hat etwas
Psalmodierendes, das Lied vom Honig, das «singt im Ohr»,
verrät biblische und antike Anklänge. Wenn indes beim Gedicht
unter dem Titel «Inner» die «raben heimwärts/ziehen
ziehn ins dämmer» sowie schon im allerersten Text «bin»
das «nebelwollen» und die «einsamkeit» bildlich beschworen
wird, lässt trotz moderner Form das 18., 19. und frühe 20.
Jahrhundert abermals grüssen. «Über die Einsamkeit» des
poetisch inspirierten, von der Aussenwelt nicht verstandenen
Künstlers im Mief der Kleinstadt hat seinerzeit Johann
Georg Zimmermann (1728–1795) in seinem vierbändigen
Monumentalwerk fast alles gesagt, was diesem eremitischen
Zustand an schöpferischer Entfaltung abgerungen werden
kann. Bei Züsli gerinnt es zur Kurzformel: «bin werdend».
Das «nebelwollen» und die heimwärtsziehenden Raben klingen
derart stark an Hermann Hesse (das diesbezügliche Gedicht
wurde mehr als tausendmal gedruckt) und Friedrich
Nietzsche an, dass der Autor es wohl besser hätte bleibenlassen.
Auch Wintergedichte haben es heutzutage, im Zeichen
der Klimaerwärmung, schwer. Die «gefrorne eisluft» und «wo
hunger lebt im winter» sind Formulierungen, die heutzutage
eher Mühe machen. Bei Sozialkosten von 127 Milliarden
jährlich und dem Seltenheitswert der klirrenden Kälte müsste
der Poet sich da wohl etwas Neues einfallen lassen.
Eher schon bleibt die kurze Ballade über Judas Ischariot
anzuerkennen, dessen fundamentale Täuschung und Enttäuschung
wohl nicht zu Unrecht politisch verstanden wird:
«Jesus – König in Israel!». Bei der Form der Ballade, dem
dramatisch strukturierten Gedicht, geht es auch bei Züsli
nicht ohne Satzzeichen. Und im überzeugendsten Text des
Bandes, «Sage mir», einer Studie zum Th ema «Krebs», spielt
der Gedankenstrich eine konstituierende Rolle: «meinem
rücken fehlen fl ügel/die weiten der wahrheiten/zu erfl iegen
und aus dem/urgrund wachsen tollkirschen/ungefragt – /du
sage mir/woraus entspringen die quellen/von krebs –».
Gewidmet ist der schön ausgestattete Band Silvia und
Klaus Weimar. Der bekannte Th omas-Mann-Kenner hat
schon vor Jahren einen Gedichtband Franz Felix Züslis mit
einem kenntnisreichen Begleittext kommentiert. Eine verdiente
Reverenz für einen Poeten, dessen Anliegen es ist, «ohne
Pathos Ausbruchsmöglichkeiten aus der Banalität des Alltäglichen
und der abgestumpften Wahrnehmung zu vermitteln».
besprochen von Pirmin Meier, Beromünster
Franz Felix Züsli: «ember». München: Erwin Friedemann, 2006.