Triumph des Wortes
Salman Rushdie: Victory City. München: Penguin, 2023.
Ja, es muss zunächst das Attentat auf Salman Rushdie thematisiert werden, bevor dessen neuer Roman vorzustellen ist. Nachdem Ruhollah Chomenei, das damalige geistliche Oberhaupt der «Islamischen Republik», 1989 eine Todesfatwa gegen den indisch-britischen Schriftsteller ausgesprochen hatte, folgte eine bis anhin beispiellose Welle an Hass aus der «Dritten Welt» gen Westen. Der unverhohlene staatliche Aufruf zur Ermordung des Autors, dessen nach wie vor lesenswerter Roman «Die satanischen Verse» einen symbolträchtigen Anlass für eine politisch-religiöse Mobilmachung bot, führte vielen Europäern und Nordamerikanern erstmalig vor, wohin der Herrschaftsanspruch der Mullahs geografisch reicht. Für das Opfer dieser Kampagne folgten lange Jahre unter konstanten Sicherheitsmassnahmen und unvorstellbarem Druck. Zahlreiche westliche Kolleginnen und Kollegen zeigten sich solidarisch, weil diese Ereignisse noch vor der Ära des demagogischen «Islamophobie»-Geschwätzes lagen, mit dem jedwede Kritik an diesem und an ähnlichen Phänomenen seit nunmehr zwei Jahrzehnten moralisch diskreditiert werden soll. Die Gefahr blieb, und im Sommer 2022 stach ein Islamist bei einem Auftritt Rushdies in Chautauqua im Bundesstaat New York zu, verletzte den Schriftsteller mit mehreren Messerstichen schwer und blendete ihn auf Lebzeit auf einem Auge.
Nur eine Woche zuvor hatte Rushdie die Arbeit am Manuskript seines nun veröffentlichten 15. Romans «Victory City» beendet, den Bernhard Robben ins Deutsche übertragen hat. Er erzählt vom neunjährigen Mädchen Pampa Kampana, das im Indien des 14. Jahrhunderts zunächst mit ansieht, wie die frisch verwitweten Frauen des Königreichs, in dem es lebt, nach einer verlorenen Schlacht Massenselbstmord verüben – auf einem Scheiterhaufen «aus duftendem Sandelholz, dem man reichlich Nelken, Knoblauch, Kreuzkümmelsamen und Zimtstangen beigegeben hatte, als wollte man aus den brennenden Frauen ein gut gewürztes Gericht zubereiten». Nachdem auch die Mutter des Kindes in die Flammen geschritten ist, erhält Pampa Kampana «den himmlischen Segen» der Göttin Pampa, die die Vollwaise an Ort und Stelle zur Schöpferin macht. Ausgestattet mit dem Auftrag, eine Stadt zu errichten und anschliessend in Form epischer Dichtung von dieser zu berichten, wird die Heranwachsende mit magischen Fähigkeiten ausgestattet. So weist sie zwei Viehhirten an, diesen Ort wortwörtlich auszusäen, und aus den Samen von «Okra, Bohnen, Schlangengurke» erwächst plötzlich ein Wunder, Bisnaga, besagte «Stadt des Sieges». Dank überirdischer Kräfte beobachtet die Gesegnete für zweieinhalb Jahrhunderte ihr Werk deren Aufstieg und Fall mitsamt allen zugehörigen menschlichen Leidenschaften und Intrigen, Randgeschehnissen und reichlich Unerwartetem.
Von den ersten Seiten an ist klar, dass es hier um die Kraft der Mythen und deren politische Relevanz für die Gegenwart geht. Das Geschichtenerzählen beherrscht Rushdie meisterhaft, wiewohl ein paar Figuren hier mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, und es ist äusserst unterhaltsam, seinen opulenten und witzigen Ausschmückungen zu folgen. Gewichtige Anspielungen finden sich auch: «Wenn ich euch selbst schon nicht verbrennen kann», frohlockt etwa ein Opponent von Pampa Kampana, «kann ich doch wenigstens euer Buch verbrennen, das ich gar nicht zu lesen brauche, um zu wissen, dass es voll unangemessener und verbotener Gedanken steckt.» Ideologen fürchten bekanntlich nichts mehr als die Macht des Wortes. Dass dieses stets triumphieren wird, auch wenn der Preis dafür immens ist, hat Rushdie mit «Victory City» einmal mehr bewiesen.