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Tribe and Prejudice

Warum europäische Rezepte in Afrika so oft scheitern.

Es war der November 2000. In einer Lodge in Nordkenia kamen fünfzehn Südsudanesen zusammen, um über die politische Ordnung nach Beendigung des Krieges zu beraten. Sie stammten aus verfeindeten politischen Lagern und ethnischen Gruppen, und zu je einem Drittel aus den drei Provinzen des Südsudans. Was sie vereinte, war die Sorge um eine mögliche Selbstzerstörung des Landes, nachdem der lange Bürgerkrieg die Clans und Stämme nachhaltig auseinanderdividiert hatte.

Wie liessen sich, fragten die Teilnehmer, in stark tribalisierten Gesellschaften solche Wunden wieder heilen? Was würde die Völker Südsudans noch verbinden, wenn einmal der gemeinsame Feind im Norden verschwunden war? Nach teils hitzigen Debatten kamen die Teilnehmer überein, dass im Südsudan ohne Stämme kein Staat zu machen sei. Es gelte, Stämme nicht auf Ethnizität zu reduzieren, sondern sie als kulturell und sozial unterschiedlich geprägte Identitäten wahrzunehmen. Genau besehen stellten die Stämme nichts weniger als kleine Nationen dar. Folglich müsse man ihnen als Nationalitäten einen festen Platz in der politischen Ordnung einräumen. War dies nun ein mutiger Schritt in die Moderne oder ein nostalgischer zurück in die Vergangenheit?

Seit der Entkolonisierung der Sechzigerjahre sieht sich die afrikanische Elite mit der Frage konfrontiert, was aus dem vorkolonialen Erbe und was aus der kolonialen Erfahrung für den Aufbau ihrer Staaten herangezogen werden soll. Auf diese Zeit – nicht auf die Kolonisierung an sich – will ich meine Überlegungen richten. Eine Einschränkung scheint mir an dieser Stelle angebracht. Ich schildere meine Sicht der Dinge nicht als Afrikaner, sondern als langjähriger Gast auf diesem Kontinent. Ich hoffe aber trotzdem, dass meine Schilderungen dazu beitragen, den europäischen Blick auf die afrikanische Realität zu schärfen.

 

Die neuen Herrscher

Bedeutsam für die Zeit nach der Entkolonisierung ist die Feststellung, dass die abziehenden Kolonialmächte die Macht einer andern Herrscherschicht übergaben als jener, von welcher sie diese ursprünglich geraubt hatten. Eine solche Umwälzung der Machtverhältnisse birgt notgedrungen Chancen und Risiken. Ob die Transition gelingt, hängt wesentlich von der Qualität der neuen Herrscherschicht ab, von ihren Interessen, von ihrer politischen Kultur und vor allem auch von den Voraussetzungen ihres Aufstiegs zur Macht.

Nun, welche Herrscherschicht wurde durch Entkolonisierungskriege an die Macht gespült? Es war meistens eine Schicht, die es vorher so nicht gab und deren Aufstieg von zwei Strategien geprägt war: zum einen in der Anpassung an neue Herrschaftsformen, in welchen herkömmliche Legitimität kaum eine Rolle spielte; zum andern in einer Militarisierung des Widerstandes. Die Kolonisierung hat somit wenig zur Bildung einer verantwortungsvollen politischen Elite beigetragen. Dies wurde offensichtlich, als die Befreiungskämpfer im Zug ihrer Machtübernahme fast lautlos zu modernen Raubrittern mutierten.

Auch fünfzig Jahre nach der Befreiung besteht für viele afrikanische Staaten die Herausforderung noch immer darin, die Plage der einheimischen Raubritter wieder loszuwerden. Vergleichbares Unglück ist schon andern Völkern widerfahren, welche sich von Fremdherrschaft befreien konnten – und erfahren mussten, wie die Herrschaft in den Händen einer siegreichen Militärkaste hängenblieb. Eindrücklich ist das Beispiel der Mameluken, welche sich nach dem Sieg über die Mongolen drei Jahrhunderte an der Macht halten konnten1. Dies verdeutlicht die Schwierigkeit, siegreiche Befreiungsarmeen daran zu hindern, sich als neue Raubritter einzunisten.

 

Zähmung militärischer Macht

Wir sehen uns hier nicht mit einem typisch afrikanischen Problem konfrontiert, sondern mit einer ganz grundsätzlichen politischen Frage: Wie kann eine Gesellschaft nichtmilitärische Kontrolle über ihre Militärstreitkräfte ausüben, wo doch das Militär selber das grösste Gewaltpotenzial darstellt? Zwar werden auf dem politischen Markt allerlei Rezepte dafür angeboten. Man müsse, so heisst es, in der Verfassung garantieren, dass gewählte Politiker über dem Militär stünden. Wer hindert jedoch Kriegsfürsten daran, die Verfassung zu ignorieren oder, noch eleganter, sich in ziviler Kleidung zu Präsidenten wählen zu lassen?

Eine gewaltlose Kontrolle des Gewaltapparates erscheint nicht nur schwierig, sondern auch ganz unnatürlich. Weshalb sollten Mitglieder der herrschenden Militärkaste freiwillig auf eine direkte Kontrolle ihrer Streitkräfte verzichten? Douglass North versucht in «Violence and Social Orders»2 darauf Antworten zu geben. Zu den wichtigsten Voraussetzungen gehört seiner Ansicht nach eine ausdifferenzierte Gesellschaft mit eigenständigen Organisationen. Es bedarf einer besonderen Konstellation von in der Gesellschaft verankerten Gegengewichten. Oder in den Worten Montesquieus: «Le pouvoir peut arrêter le pouvoir.»

In Europa waren es oft Allianzen von Händlern, Grundbesitzern oder Unternehmern, von Bauern, Parteien oder Gewerkschaften, welche in unterschiedlicher Kombination komplexe Gegengewichte zu bilden vermochten. In afrikanischen Gesellschaften sind heute jedoch ähnliche Organisationen kaum vorhanden, jedenfalls nicht vergleichbar mit jenen, welche die Entwicklung in Europa jahrhundertelang prägten.

Im Unterschied dazu stellen in Afrika clangeprägte Gemeinschaften oft die wichtigsten Netzwerke und sozialen Bezugspunkte dar. Deren Institutionen haben den afrikanischen Völkern seit jeher das Überleben ermöglicht – und tun dies oft auch heute noch. Weder nationalistischer Rhetorik noch forcierter Modernisierung ist es bisher gelungen, die Bedeutung der ethnischen Identitäten und Institutionen zu tilgen. So schwer das Eingeständnis einigen auch fallen mag: Clans und Stämme spielen in afrikanischen Ländern weiterhin eine bedeutende Rolle. Ist es klüger, deren Mobilisierungspotenzial brachliegen zu lassen – oder mit ihrer Hilfe zu versuchen, die Macht der neuen Raubritter einzugrenzen?

 

Dem Clan und Stamm verbunden

Nicht nur auf dem Land, wo die Mehrheit der Afrikaner wohnt, sondern auch in den Städten haben Clans und Stämme ein zäheres Leben, als revolutionäre Befreiungsbewegungen es erwartet und als westliche Modernisierungsakteure es sich erhofft hatten. Vor diesem Hintergrund, so schrieb Jeffrey Herbst in «States and Power in Africa»3, hätten afrikanische Führer es sträflich unterlassen, für den Platz und die Rolle traditioneller Institutionen eine nachhaltige Perspektive zu erarbeiten.

Eine solche Perspektive fehlt weitgehend auch noch heute. Zwar sind im letzten Jahrzehnt durchaus spannende Denkansätze dazu veröffentlicht worden.4 Zudem haben sich Länder wie Botswana und Somaliland, aber auch Ghana und Südafrika auf das Experiment eingelassen, traditionellen Institutionen einen relevanten Platz in der modernstaatlichen Ordnung einzuräumen. Aber westliches Mainstreamdenken geht noch immer davon aus, Clanidentitäten seien ein zentrales Übel der afrikanischen Gesellschaft und eine moderne politische Ordnung sei in letzter Konsequenz nur durch deren Auslöschen möglich.

Zugegeben, es gibt viel gegen Stämme und gegen ethnisch geprägte Institutionen einzuwenden. Zuallererst wohl die Tatsache, dass viele Konflikte entlang solcher Bruchlinien aufbrechen und in der Folge ganze Gesellschaften oder Länder auseinanderzureissen drohen. Dies trifft zweifellos zu.

Allein, was gegen Stämme spricht, lässt sich genauso gut gegen Nationen einwenden. Müsste ein Geschichtsphilosoph aus China den Europäern nicht auch nahelegen, die nationalen Identitäten auszulöschen und auf deren Ruinen eine echte Friedensordnung zu errichten? Die Verbrechen nämlich, welche die europäischen Nationalstaaten begangen haben, sind keineswegs geringer als das, was sich afrikanische Stämme gegenseitig angetan haben.

Traditionelle Institutionen stellen auch Gefässe dar, welche der eigenen Kultur Raum und Rahmen geben. Wird diese Kultur zerstört, steht dem Abgleiten in die Barbarei nichts mehr im Weg. Auch Stämme und Clans kennen öffentliche Güter, deren Verlust ihr Überleben gefährden würde. Dass traditionelle Institutionen oft erst noch besser als korrupte Bürokratien ihren natürlichen Lebensraum zu schützen vermögen, hat die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom aufgezeigt.

Gewiss sind auch stammesgeprägte Institutionen von Zerfall und Korruption bedroht. Lässt man sie verlottern, geht unweigerlich auch ihr Nutzen verloren; überlässt man sie schutzlos der Willkür von Raubrittern, werden sie missbraucht; und wirft man sie auf den kulturellen Müllhaufen, werden sie von Kriegsfürsten zur Legitimierung ihrer Herrschaft kannibalisiert. Aber es müsste so nicht sein. Wenn Stammesidentitäten als Ressource verstanden werden, haben sie bei geeigneter Pflege das Potenzial, es tatsächlich auch zu werden.

 

Das Irrlicht vom Nationbuilding

Davon sind wir jedoch weit entfernt. Weder westliches noch südliches Mainstreamdenken vermag in Stammesidentitäten eine Ressource zu erkennen. Im Gegenteil, ein Schlüsselbegriff für den Aufbau staatlicher Ordnung lautet Nationbuilding. Wie absurd die Vorstellung von allem Anfang an war, afrikanischen Gesellschaften dieses Muster aufzudrücken, wird dabei gerne übergangen. Die Nation an sich ist eine europäische Erfindung, und das Nationbuilding entspringt dieser national inspirierten Ordnungsvorstellung. Mit dem Nationbuilding wird also ein an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum gebundenes Konzept als allein seligmachender Weg zum Frieden angepriesen.

Der Nationalstaat hat jedoch seinen Preis, und keinen geringen dazu. Sprachliche, ethnische oder religiöse Gemeinschaften werden dadurch leicht zu Minderheiten degradiert, und erst der Nationalstaat hat den Begriff der «nationalen Minderheit» überhaupt auf den Plan gerufen. Nur zu leicht wird dabei unterschlagen, was europäische Staaten zur Schaffung homogener Nationalstaaten ihren Minderheitenvölkern zugefügt haben.5 Und dieser Homogenisierungswahn soll nun mittels Nationbuilding in die Vielvölkerstaaten Afrikas exportiert werden? Was passiert, wenn diese Saat in Afrika auf fruchtbaren Boden fällt, lässt sich am Schicksal Ruandas und des Sudans ermessen.

Bekanntlich haben Kriege unter europäischen Nationen zu ihrer Konsolidierung beigetragen. So hat auch der Grenzkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea gewiss den nationalen Zusammenhalt der beiden Länder gestärkt. Diese Art von Nationbuilding möchte man Menschen jedoch gern ersparen. Wie also könnte eine politische Ordnung aussehen, die auf ethnische Identität Rücksicht nimmt? Die sie vielleicht sogar als Ressource nutzt?

 

Der Mensch als Doppelwesen

Es ist im Umgang mit politischen Fragen sinnlos, Tradition und Moderne gegeneinander auszuspielen. Es geht, im Gegenteil, darum, diese Spannung fruchtbringend zu überbrücken. Und in der Tat bewegen sich viele Afrikaner gleichzeitig in zwei Welten – in einer traditionell geprägten einerseits und in einer modernen anderseits. Wie J. Michael Williams6 überzeugend darlegt, sehen sie darin keinen unauflösbaren Widerspruch. Sie erwarten zu Recht, dass auch in der Ausgestaltung der politischen Ordnung dieser Dualität im Rahmen sogenannter hybrider Institutionen Rechnung getragen wird.

Dualität macht die Welt gewiss komplizierter. Zu irritieren braucht uns das allerdings nicht. In der Juni-Ausgabe dieser Zeitschrift schrieb Stefan Kolev dazu: «Der Mensch ist durchaus fähig – und war seit dem Anbruch der Moderne stets fähig –, als Doppelwesen zu leben.»7

Auch ein Blick in den historischen Rückspiegel müsste uns versöhnlicher stimmen. Die moderne Schweiz wurde auch nicht gebaut, um kantonale Identitäten auszulöschen, sondern um deren Überleben zu sichern. Die Frage muss erlaubt sein: Warum soll für afrikanische Stämme heute nicht recht sein, was für unsere Kantone gestern billig war?

Natürlich steigt der Reformdruck auf stammesgeprägte Institutionen, wenn diese ihr Potenzial entfalten sollen. Einerseits müssen sie den Raubrittern gegenüber ihr Recht verteidigen, ihre Führer in eigener Kompetenz zu bestimmen. Anderseits muss es ihnen gelingen, aus ihrer besten Tradition neue Formen stammesinterner Rechenschaft abzuleiten. Das sind grosse Herausforderungen. Aber stellen sie nicht zugleich die Voraussetzung jeder guten Herrschaftsform dar? Was sich in afrikanisch geprägten Institutionen bewährt, dürfte über kurz oder lang auch auf moderne Institutionen durchschlagen.

 

Tribe and Prejudice

Ohne klug austarierte Koexistenz zwischen traditionellen und modernen Institutionen wird sich Afrika kaum befrieden lassen. Die Vorstellung von hybriden Institutionen hat es jedoch schwer, und die politischen Hürden für die Umsetzung sind noch um einiges höher.

Erstens haben die heutigen Herrscher kein Interesse daran, zwischen den Stämmen Brücken zu bauen, über welche sich diese direkt austauschen oder gar verbünden könnten. Im Gegenteil: teilen und herrschen ist das Spiel der Mächtigen, während sie sich scheinheilig über das Elend vom Tribalismus beschweren. Wie empfindlich selbst mächtige Kriegsfürsten auf ein mögliches Zusammenrücken der Stämme reagieren können, haben wir im Südsudan hautnah erlebt. Als sich dort eine Dynamik für den Aufbau stammesverbindender Institutionen abzeichnete, wurde diese umgehend abgewürgt. Mit ihrer angstgetriebenen Reaktion machten die Raubritter wohl ungewollt deutlich, wie wichtig ein Rat der Nationalitäten für den Südsudan eigentlich wäre.

Zweitens behält der Westen ein halbes Jahrhundert nach der Entkolonisierung noch immer die Deutungshoheit über Governance-Fragen in Afrika. Fest verankert darin ist ein ideologisches Vorurteil gegenüber allem, was in der einen oder andern Form mit Clans und Stämmen zu tun hat. Vor diesem Hintergrund verbünden sich westliche Akteure nicht ungern mit Raubrittern, sofern diese im Gegenzug ein Modernisierungsbekenntnis ablegen.

Es liegt in der Verantwortung afrikanischer Vordenker, eine Lösung für die Gleichzeitigkeit von traditionellen und modernen Herrschaftsformen zu finden. Den Weg zu mehr Menschenwürde und Gerechtigkeit müssen afrikanische Bürger selber finden. Doch sind sie auf ihrer Suche erfolgreicher, wenn westliche Akteure ihnen dabei nicht in den Rücken fallen.


Josef Bucher
stand lange als Diplomat im Dienste der Eidgenossenschaft und war in zahlreichen arabischen Ländern sowie in Ostafrika stationiert. Über mehrere Jahre vermittelte er im Rahmen der «guten Dienste» der Schweiz zwischen den verschiedenen Konfliktparteien im Sudan. 2002 leitete er auf dem Bürgenstock die Waffenstillstandsverhandlungen für die Nubaberge.

 

 


1 Jean-Pierre Filiu: From Deep State to Islamic State. London: Hurst & Co., 2015.
2 Douglass North: Violence and Social Orders. Cambridge: University Press, 2009.
3 Jeffrey Herbst: States and Power in Africa. Princeton: University Press, 2000. S. 176: «The failure of African leaders to develop a theory of rule hurt the new states, especially because there was no theoretical or ideological perspective that would allow for the incorporation of traditional authorities.»
4 Alice Bellagama and Georg Klute (Hrsg.): Beside the State. Köln: Rüdiger-Köppe-Verlag, 2008.
5 Jerry Z. Muller: The Enduring Power of Ethnic Nationalism. In: Foreign Affairs, März/April 2008.
6 J. Michael Williams: Chieftaincy, the State, and Democracy. Political Legitimacy in Post-Apartheid South Africa. Bloomington: Indiana University Press, 2010.
7 Stefan Kolev: Stresstest fürs globale Dorf. In: Schweizer Monat 1037 (Juni 2016).


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Alex Perry: In Afrika. Erschienen in unserer Märzausgabe, nun zur Debatte online freigeschaltet.

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