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Trauer und Chance

Brasilien und Mexiko – zwei Spielarten der Mischkultur Jede Mischkultur trägt die Trauer über verlorene Identität in sich. Neue Identitäten entstehen aus Erinnerung, Sehnsucht und Hoffnung im Spannungsfeld von unver-wirklichten Träumen und harter Realität. Aufgrund verschiedener historischerVoraussetzungen entwickeln sich unterschiedliche Chancen.

Wenn mit Melting Pot die Vorstellung verbunden ist, dass sich Kulturen und Rassen mischen, so gilt dies nur bedingt für die Vereinigten Staaten. Hingegen trifft der Begriff ganz und gar für Lateinamerika zu. Es gibt eben nicht nur ein Amerika, sondern zwei, «dos Americas», wie die Lateinamerikaner zu sagen pflegen.

Die beiden Amerikas wurden auf unterschiedlichste Weise erobert und besiedelt. Es waren Militärs, spanische und portugiesische, welche die Territorien unterwarfen, die einmal Lateinamerika heissen sollten. Die erste und zweite Eroberer- und Besiedler- Generation bestand aus Soldaten und Offizieren, d.h. aus alleinstehenden Männern, und die spanische Krone empfahl diesen die Ehe mit indianischen Frauen und ordnete sie sogar an.

Nordamerika wurde hingegen von Auswanderern besiedelt. Die Pilgerväter waren Männer, die mit ihren Familien eine neue Welt suchten, wo sie ihrem Glauben gemäss leben konnten. Damit fehlte jede Notwendigkeit für eine Rassenmischung. Zudem stiessen die nordamerikanischen Pioniere auf sogenannte Prärie- oder Waldindianer, während die spanischen Er-oberer mit indianischen Hochkulturen, wie die der Azteken, der Maya und der Inkas, konfrontiert waren. Das angelsächsisch geprägte Nordamerika verband den Aufruf «go west young man» mit dem Motto «ein guter Indianer ist ein toter Indianer». In Hispanoamerika galt hingegen der Grundsatz «ein guter Indio ist ein getaufter Indio».

Die hispanische Kolonialwirtschaft war ohne die Arbeitskraft der Indios undenkbar. Als sich herausstellte, dass man die Indios zwar für Zwangsarbeit in Gold- und Silberminen benützen konnte, dass sie sich aber nicht für die Plantagenwirtschaft eigneten, wurden Schwarze aus Afrika importiert. Auch die USA führten schwarze Sklaven ein; es kam aber nicht im gleichen Mass zu einer Rassenmischung wie etwa in Brasilien oder in Kuba. In den lateinamerikanischen Gesellschaften bildeten die Mischlinge, ob Mulatten oder Mestizen, eine eigene Gesellschaftsschicht. Das war in den USA nicht der Fall.

Spanien verfolgte eine andere Kolonialpolitik als Portugal, was auch zahlreiche Unterschiede erklärt, die sich im Folgenden an den beiden ausgewählten Beispielen, Brasilien und Mexiko, zeigen lassen. Die Spanier betrachteten ihre amerikanischen Territorien schon unmittelbar nach der Eroberung als Überseeprovinzen; Neu- Spanien, Neu Granada, Nueva Exremadura oder Nueva Castilia. Ihre Ziel war eine Integration durch schrittweise Hispanisierung in Verbindung mit Missionierung. Darum gründeten sie, anders als die Portugiesen, recht bald einmal Universitäten, führten die Druckerpressen ein und – gleichzeitig – die Inquisition.

Lateinamerika, Kontinent der Rassenmischung

Lateinamerika ist aus den erwähnten Gründen insgesamt ein Kontinent der Rassenmischung. Allerdings gilt dies nicht ausnahmslos. Argentinien und Uruguay haben eine grossmehrheitlich weisse Bevölkerung. Argentinien ist stolz auf seine enge Verbindung mit Europa und mit Spanien. Jorgé Luis Borges empfand die argentinische Literatur als eine Fortsetzung der spanischen und konnte sich zur Behauptung versteigen, es gebe gar keine spezifisch lateinamerikanische Literatur. Argentinien fühlt sich als eine Art latein-amerikanische USA, das dank seiner Homogenität zweifellos gewisse wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vorteile geniesst.

Brasilien, der andere südamerikanische Grossstaat, hat einen hohen afrikanisch geprägten Bevölkerungsanteil. Dasselbe gilt für Paraguay, ein Land von 98 Prozent Mestizen, wo neben dem Spanischen die klassische Indio-Sprache Guarani gesprochen wird. Bolivien zählt vierzig Prozent Indios, ebensovielen Mestizen und nur zwanzig Prozent Weisse, neben Spanisch wird auch Ketschua und Aymara gesprochen. Und dieses Bild setzt sich nordwärts fort in den Andenstaaten Peru, Ecuador und Kolumbien und in den zentral-amerikanischen Staaten bis Mexiko und bis zu den Antillen.

Man muss drei Lateinamerikas unterscheiden: ein europäides mit Argentinien und Urugay, ein Lateinamerika der Mestizen, der Mischung zwischen Weissen und Indios, und eines der Mulatten, der Mischung von Weissen und Schwarzen wie etwa in Brasilien und Kuba. Wenn also Lateinamerika zu seinen ethnisch-soziologischen Voraussetzungen stehen will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu seinen Mischkulturen zu bekennen. Es ist bezeichnend, dass sich Lateinamerika erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts explizit dazu bekannt hat. Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit orientierte sich Lateinamerika zunächst am alten Kontinent. Die neuen Staaten übernahmen von Europa ihre politischen und moralischen Wertvorstellungen; dazu gehörte auch ein biologistisches Argumentieren, das sich auf die Reinheit der Rassen stützte. Im 19. Jahrhundert galt jede Mischung als Verunreinigung und Wertverminderung, sowohl moralisch als auch kulturell und ethnisch.

Die kulturelle Selbstbehauptung Lateinamerikas vollzog sich in Abgrenzung zu den USA. Der Kubaner José Marti (1853-1895) prägte den Bekenntnisruf «Nuestra América». Mit «unserem Amerika» war das lateinisch-katholische gemeint. Lateinamerika war nicht mehr länger bereit, sich für die Rassenmischung zu entschuldigen.Es begann… ja womit? Mit einer ebenso zufälligen wie geplanten Konfrontation zweier Kulturen: Bündnis wie Missionierung, Ausrottung und Ausbeutung, Taufe wie Versklavung und Mischung.

Brasilien – unterwegs zu einem neuen Selbstverständnis

Im 1822 unabhänig gewordenen Brasilien ging José de Alencar (1829-1877) mit Balzacscher Ambition daran, ein Bild seiner Zeit in Romanen darzustellen: Da trat der Stadtbewohner aus Rio auf und auch der Pflanzeraristokrat, der Rinderhirt des Nordens, der Vaqueiro, und der des Südens, der Gaucho. In seinem Gesamtbild konnte der Indio nicht fehlen. Alencar schuf Sinnfiguren der Rassenmischung, die über die Literatur hinaus populär wurden: Iracema, die Indianerin, die einen Portugiesen liebt, die aus Sehnsucht nach ihm stirbt und die dem Weissen ihr Kind überlässt. Und O Guarani, kurz nach seinem Stamm der Guarani genannt, ein Indio-Häuptling, der eine weisse Frau liebt und ihr das Kind anvertraut. Das hat wenig mit der Real-Geschichte der damaligen Gegenwart zu tun, in der die Indios im Hinterland Zuflucht suchten und von dort weiter verjagt wurden, oder aufgespürt und in die Sklaverei verschleppt.

Die Indio-Romane von Alencar spiegelten den damaligen Indigenismus. Sie inspirierten sich mehr an europäischen Vorbildern als an den tatsächlichen brasilianischen Verhältnissen. Der Indio selbst lebte nicht nur geographisch im Hinterland eines Hinterlandes. Interesse erweckte er als Forschungsobjekt. Brasilien hatte nach der Unabhängigkeit die Grenzen geöffnet, die Alexander von Humboldt, dem «zweiten Entdecker Amerikas», noch verschlossen blieben. Nun setzte die «zweite Entdeckung» auch in Brasilien ein, mit Expeditionen zu Indio- Stämmen, an denen häufig Maler als Bildberichterstatter teilnahmen.

1922 fand in São Paulo die «Woche der modernen Kunst» statt, das Initialereignis für die kulturelle Emanzipation des heutigen Brasilien. Der Dichter Oswald de Andrade, auf die Indio-Sprache «Tupi» anspielend, prägte den Slogan «Tupi or not Tupi». Der Autor propagierte eine «antropofagia» und entwarf Utopien, aber er setzte sich dafür nicht mit Indios ums Feuer. Sein Kannibalismus frass europäische «Ismen». In den dreissiger Jahren beriefen sich die Integralisten für ihr faschistisches Credo von Gott, Vaterland und Familie auf Indianerblut und Urwaldboden. Der Indio war für das nationale Selbstverständnis eine Berufungsinstanz geworden.

Überraschend ist, dass es bei der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit der Indio war, der im Selbstverständnis den ersten Platz einnahm, und nicht der Schwarze. Überraschend, weil die Schwarzen die Majorität ausmachten. Als Brasilien die Unabhängigkeit erlangte, war Rio eine schwarze Stadt. Es begann jener Prozess, den man als «Aufweissung» bezeichnet. Diese ging Hand in Hand mit der intellektuellen Ausrichtung auf Europa, nicht mehr auf Portugal, sondern auf Frankreich, dem man mit Akademien nacheiferte, und von wo man bildende Künstler ins Land holte. Noch 1872 machten die Weissen nur 38 Prozent aus, heute führt die Statistik für die Weissen sechzig Prozent an neben 34 Prozent Mulatten und 11 Prozent Schwarzen.

Die Geschichte Brasiliens, die kulturelle wie die soziale, ist ohne die Schwarzen nicht denkbar. Auf schwarzen Sklaven beruhte während der Kolonialzeit und während des Kaiserreichs die gesamte Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft und das Handwerk. Brasilien hob die Sklaverei erst 1888 auf, als eines der letzten Länder.

Wer das heutige Image Brasiliens vor Augen hat, wird über folgende Tatsachen staunen: Erst seit 1935 ist es schwarzen Karnevalsgruppen erlaubt, an den offiziellen Festlichkeiten teilzunehmen. Bis dahin führten die Schwarzen ihre eigenen Alternativ-Defilees durch. Und erst in den Zwanziger Jahren war Schwarzen erlaubt, Mitglied eines traditionellen Fussballclubs zu werden. Es heisst, dass sich der agil-spielerische Stil des brasilianischen Fussballs aus der Diskriminierung erklären lasse. Die Schwarzen hatten tunlichst jede Berührung mit Weissen zu vermeiden. So entwickelten sie das tänzelnde Dribbeln, für dessen Eleganz der brasilianische Fussball berühmt wurde.

Ethnische Demokratie als Wunschvorstellung

So sehr 1922 die «Woche der modernen Kunst» ein intellektueller Aufbruch war, für die Schwarzen fand dieser erst in den dreissiger Jahren statt. 1931 wurde die «frente negra brasileira» gegründet, die «Schwarze Front Brasiliens»; sie war zunächst eine Hilfsorganisation, später eine Partei, die bald verboten wurde. Das entscheidende Stichjahr war 1933, als Gilberto Freyre (1900- 1987) «Casa grande e senzala» veröffentlichte. Das Anliegen von Freyre bestand darin aufzuzeigen, wie mit der Mischung der Rassen die Voraussetzungen für eine Gesellschaft geschaffen wurden, die keine rassischen Vorur-teile kennt. Die «ethnische Demokratie» wurde ein nationales Credo.

Ohne Kritik konnte diese These nicht bleiben; sie erwies sich bei aller Wissenschaftlichkeit als Wunschvorstellung. Denn die Realität deckte sich nicht mit einer ethnischen Demokratie und einer problemlosen Integration der Schwarzen und Mulatten. Die soziale Stufenleiter, auch die administrative und politische, zeigt, dass die Spitze weiss ist und dass der Prozentsatz der Schwarzen zunimmt, je tiefer man steigt. Es waren vor allem Soziologen aus São Paulo, die ein wirklichkeitsgetreueres Bild der brasilianischen Gesellschaft entwarfen, wonach auch in der «Welt der weissen Brasilianer» die Hautfarbe eine Barriere sein kann.

Wie das neue Selbstverständnis sich kritisch äussert und gleichzeitig zukunftsgläubig ist, kann man mit dem Anthropologen Darcy Ribeiro illustrieren. Er hatte zehn Jahre mit Indios in Amazonien gelebt, bevor er in Rio das «Museo do Indio» gründete. Er, der mit dem Aufbau der Universität Brasilia beauftragt war, wurde Erziehungsminister. Nach dem Militärputsch 1964 begab er sich ins Exil. Zu seinen Werken gehört eine «Theorie Brasiliens» neben Titeln wie «Dilemma Lateinamerika» oder «Die beiden Amerika», sowie «Formation und Sinn Brasiliens», in welchem er seinem Land einen singulären Platz in der Völkergemeinschaft einräumt.

So optimistisch lautete die Interpretation Brasiliens nicht immer, denkt man an «Retrato do Brasil», das sieben Jahre vor Freyres Standardwerk erschien. Paul Prado stellt in «Das Bild Brasiliens» die brasilianische Mentalität unter Schlüsselbegriffe wie «cobiça» und «luxúria», womit er einen Katalog aufblättert: Laster, Zügellosigkeit, Ausschweifung, Habgier, rücksichtslose Bereicherung, individueller Egoismus und vor allem sexuelle Laszivität.

Diese Gesellschaftspsychologie erklärte Prado mit den Gescheiterten, Kriminellen, Deser-teuren, Spekulanten und Abenteurern, die hierher gekommen waren. Das Resultat von Gold und Sex war eine Mischrasse: «…ohne jedes Ideal, weder ein religiöses noch ein ästhetisches, ohne irgendwelche politische, intellektuelle oder künstlerische Verantwortung».

Prado, Besitzer einer Kaffeeplantage, so gross wie die Schweiz, ein internationaler Wirtschaftsmagnat, hatte mit dem Eröffnungssatz seines Brasilienbildes: «Ein trauriges Volk in einem strahlenden Land» das Thema der brasilianischen Traurigkeit aufgegriffen. «Drei traurige Rassen» – der Ausdruck findet sich bereits bei Olavo Bilac (1865-1918), dem bedeutendsten Lyriker des brasilianischen Symbolismus. Höchste Musikalität gewann er dem Portugiesischen ab, das er als «ungeschliffen und schön» lobte, dem er «bäurische Kraft» attestierte und dem er «das Aroma des Urwaldes und des weiten Ozeans» zu ver-mitteln gedachte.

Die brasilianische Traurigkeit war eine dreifache: Die Traurigkeit der Portugiesen, die nicht hierher gekommen waren, um zu bleiben, die aber aus irgendwelchen Gründen blieben, voll Nostalgie für die alte Welt. Die Traurigkeit der Schwarzen, als Sklaven in einen fremden Kontinent verschleppt. Und die Traurigkeit der Indios, die im eigenen Kontinent zu Fremden wurden. Die Trauer begleitet alle Mischkulturen, als Erinnerung oder Trauma, denn an jedem Anfang steht ein Abschied, welcher Art auch immer, wenn nicht gar Zerstörung, auch wenn sich diese als Aufbruch erweisen sollte.

Man kann in Mexico Ciudad den «Platz der drei Kulturen» aufsuchen: Umrahmt von modernen Wohnbauten und einem Spital steht neben dem Ausgrabungsfeld eines Azteken-Tempels eine Kolonialkirche. Auf einer monumentalen Gedenktafel ist zu lesen: «Am 13. August 1521 fiel nach einem heroischen Widerstand Tlatelolco in die Macht von Hernan Cortes. Es war weder ein Triumph noch eine Niederlage. Es war die schmerzvolle Geburt eines mestizischen Volkes, wie es heute die Mexikaner sind.»

Mexiko – eine Mischkultur

Am Anfang der mexikanischen Mischkultur steht die Eroberung und Zerstörung des Aztekenreiches, die conquista, auf die die conquista biologica folgte. Über eine indianische Kultur wurde ein katholisches Christentum gestülpt wie in Europa einst über antike Tempel. Unerwartet und imposant kann sich die indianische Vergangenheit melden. Bei Kanalisationsarbeiten in Mexico Ciudad war man 1978 auf die Grundmauern des Templo Mayor gestossen; sie wurden freigelegt, so dass heute die Überreste des grössten Aztekentempels direkt neben der Kathedrale liegen, dem grössten Gotteshaus in Lateinamerika, nicht weit auseinander die monolithische Mondgöttin Coyolxauhqui und der Altar der Vergebung in der Kathedrale.

Am Anfang aber steht nicht nur Cortés, der Eroberer, sondern auch Malinche, die Indianerin, die aus Liebe zum spanischen Eroberer ihr Volk verriet. Der spanische Vater und die indianische Mutter und damit als Kinder Mestizen. Octavio Paz hat dies zum Anlass für sein Buch «Labyrinth der Einsamkeit» gewählt. Stichworte der spanischen Literatur, Labyrinth und Einsamkeit, machten bei ihm einen Mestizierungsprozess durch. Man kann darin ein überraschendes Fazit lesen:

«Der Mexikaner will weder Spanier noch Indio sein, ebenso wenig will er von ihnen abstammen. Er leugnet sie, und er behauptete, weniger ein Mestize zu sein als dessen Abstraktion: ein Mensch. Er möchte von niemandem abstammen, seinen Ursprung bei sich selber nehmen…»

Paz, der Nobelpreisträger, bietet selbst ein Beispiel mestizischer Kultur; man hat in seinem Werk von einer spanischen, französischen und indischen Epoche gesprochen, was seine Tätigkeit als Diplomat spiegelt. Sein Langgedicht «Der Sonnenstein», nach dem sogenannten Aztekenkalender im Anthropologie-Museum von Mexiko-Stadt benannt, zeugt von einer Verbindung aztekischer, spanischer und zugleich spanisch-lateinischer und surrealistischer Erfahrung.

Die mexikanische Kulturmischung besitzt dank Mauerbildern eine imposante Anschaulichkeit. Die murales erzählen einem analphabetischen Publikum die Mestizen-Geschichte Mexikos. Die Mauerbilder, mit denen systematisch öffentliche Gebäude und Schulen geschmückt wurden, bilden ein einzigartiges Kapitel der Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts, Simultaneität von Engagement und fabulierender Didaktik, kollektives Pathos kraft individueller Kreativität.

Diskrepanz zwischen Utopie und Realität

Es ist leichter, Utopien zu entwerfen, als realen Verhältnissen gerecht zu werden. Mexiko ist das erste lateinamerikanische Land, das eine soziale Revolution durchführte. Und dies im Namen der Indios. Allerdings blieb der reine Indio am Ende marginal. Von den 100 Millionen Einwohnern machen die Indigenen 10 Millionen aus; es sind 62 Indio-Sprachen registriert worden, mehr als die Hälfte davon werden in der Hauptstadt gesprochen.

Die Mehrheit der Indios lebt in extremer Armut. Wenn heute im Süden, in Chiapas, Guerilla-Truppen agieren, geschieht dies erneut im Namen jener Indios, auf die sich einst die mexikanische Revolution berufen hat, als deren Sieger aber die Mestizen hervorgegangen sind. Eine Diskrepanz zwischen Image und Realität.

Man darf an Brasilien und seine india-nische Erfahrung denken. Der Indianer-Schutzdienst, 1910 geschaffen, setzte ein Zeichen dafür, dass man den Indio als soziale Existenz ernst zu nehmen begann. Berühmt war die Devise von Marschall Rondon «Töten nie, sterben nur wenn notwendig», ein Militäringenieur, der weite Gebiete des Amazonas erschloss und der zum Sinnbild einer friedlichen Indianerpolitik wurde. Bis zu dem Grad, dass die Brasilianer überzeugt waren, sie hätten die Indianerfrage nicht nur ein für allemal, sondern auch human wie kaum eine zweite Nation gelöst. Aus dieser Illusion gab es in den Sechziger und Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein böses Erwachen. Selbst der Indianer-Schutzdienst vertrat am Ende andere Interessen als die der Indianer; es folgte auf Rondon eine Erschliessung des Amazonas, die sogar den Vorwurf des Genozids einbrachte, sicher aber die Indios immer mehr ihres Lebensraumes beraubte.

Wir haben Brasilien und Mexiko als ausführliche Beispiele gewählt. In beiden Fällen Selbstinterpretationen mit Hoffnungen und Enttäuschungen. Träume, die sich nicht verwirklichten, die aber noch als gebrochene Träume zukunftsträchtig sind und die über sich hinaus weisen.

Soweit der Melting Pot auch mit der Kenntnisnahme des Multikulturellen verbunden ist, beginnt diese bereits im prae-kolumbischen Mexiko. Xochicalco erlebte seine Blütezeit vom siebten bis ins neunte Jahrhundert. Sein Observatorium, tief im Berg, besitzt einen Lichtkanal, dessen Aufblick in den Himmel zu faszinierenden Spekulationen verleitet. Hier trafen sich im neunten Jahrhundert die Astronomen-Astrologen Zentralamerikas, um ihre Kalender aufeinander abzustimmen. So sieht man auf den Reliefs der Hauptpyramide eine Hand, welche nach einem Bündel Tagen greift, und eine andere Hand, welche an einem Strick ein Paket von Tagen herbeizieht. Eine internationale Tagung, die nirgendwo eine Parallele hat. Als Ergebnis sitzt im Relief der Pyramide, dem steingewordenen Protokoll, der Maya Priester inmitten aztekischer Schlangen.

Wenn wir die mexikanische Kirche in Tonantzintla erwähnen, in der indianische und spanische Elemente sich in Harmonie tolerieren, darf gleich auf San Bautista verwiesen werden, die älteste Kirche Nicaraguas. In ihr haben die indianischen Handwerker ihrem Sonnengott einen ehrenvollen Platz reserviert, in den Augen der Spanier eine Blasphemie, wofür die Indios bestraft wurden.

Eine Erfahrung, die das Portugiesische und Spanische längst durchlebten – indem man mit Einsicht nicht von portugiesischer oder spanischer Literatur redet, sondern von einer Literatur portugiesischer oder spanischer Ausdrucksweise – da bestimmt nicht mehr länger eine «Academia Real» in Madrid, was korrektes Spanisch ist, wenn längst in den lateinamerikanischen Ländern Weltliteratur verfasst wird, die sich nicht an akademische Kriterien hält, und was soll ein korrektes Portugiesisch, wenn das Brasilianische mit den Tele-Novelas das Portugiesische des einstigen Mutterlandes beeinflusst? Damit kommen wir zu unserer eigenen Sprachsituation: Die heutige Germanistik redet vom Deutschen als einer plurizentrischen Sprache. Daraus folgt, dass sprachliche Eigenheiten, nicht nur österreichische oder schweizerische, legitime Gleichberechtigung erhalten.

Damit haben wir uns von Mexiko und Brasilien entfernt, aber wir sind dank ihnen zu einer Aktualität gekommen, in der der Melting Pot eine umfassendere Thematik öffnet – mit Stichworten wie Akkultura-tion, Assimilation, Mischung, Synkretismus: Ein Markt, wo zwar die Herkunftsländer der Früchte angeschrieben sind, aber wo für Küche und Tisch zwischen exotisch und einheimisch kein grosser Unterschied gemacht wird. Eine Musik, wo Folklore und Rock wie Chanson und Rap überraschende und überzeugende Verbindungen eingehen. Ein Neben- und Ineinander vom multikulturellen Alltag zu ökumenischer Religiosität und zu einer Philosophie, die sich interkulturell versteht. Eine Spannweite von Information und Aktualität zwischen Globalisierung und Regionalisierung.

Erkenntnisse, die ein heutiges Bewusstsein spiegeln, nämlich dass bisherige Grenzen ihre Absolutheit verlieren, wenn auch als Hilfslinien weiterhin dienlich sind, dass die Wertung von Zentrum und Rand hinfällig geworden ist, dass an deren Stelle Simultaneität trat, statt vertikaler Hierarchie das horizontale Nebeneinander.

Das mag jenen nicht passen, die bei «Eigen» gleich von «Ur-Eigen» reden, als ob das Eigene je ohne das andere ausgekommen wäre, und die nicht sehen und begreifen, was an Zukunft alles noch drin liegt, nur schon in dem, was uns bisher ausmachte.

Hugo Loetscher wurde 1929 in Zürich geboren. Nach der Promotion war er Literaturkritiker bei der «Neuen Zürcher Zeitung», Redaktionsmitglied bei «du» und anschliessend Mitglied der Chefredaktion bei der «Weltwoche». Seit 1965 hielt er sich als Journalist, freier Schriftsteller und Gastdozent regelmässig in Lateinamerika auf. Als Buchautor ist er durch zahlreiche Preise und durch die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt worden. 1986 bis 1990 präsidierte er den Schweizerischen Schriftstellerverband.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das im Juni 2003 im Rahmen des Vortrags- und Konzertzyklus der Bank Wegelin & Co zum Thema «Melting Pot ?» in St. Gallen gehalten worden ist.

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