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Trailer Park Boys

Ein Junge, dessen makellose Hände für Apple-Produkte werben. Ein alter Mann in einem Trailerpark. Und die Überlebende eines Flugzeugabsturzes: In dieser Kurzgeschichte treffen drei verschiedene Leben aufeinander – für zwei ist damit Schluss.

Trailer Park Boys

Saltford, Kanada
Sunny Acres Trailer Park
Stellplatz 22
September 2014

Immer wenn Nathaniel «Nate» Warren seinen Trailer aufschloss, hörte er sie unter der Veranda schnarchen. Traf er das Schloss erst beim dritten Versuch, fauchten sie. Nachts sprangen sie in die Mülltonnen und verteilten Fleischreste, Zigarettenstummel und Bierdosen im Garten. Und während der Paarungszeit – zwischen Januar und März – kopulierten sie auf dem Wohnwagendach.

Nate hatte sich für einen Überraschungsangriff entschieden: Um zwölf Uhr mittags, ihrer REM-Schlafphase, umzäunte er die Veranda mit Militärstacheldraht. Nur das Loch neben der Treppe, das ihnen als Eingang diente, liess er frei. Hinter der Kommode, die er schon gestern herausgeschleppt hatte, nahm er Deckung und lud sein Gewehr mit sechs Schrotpatronen durch. Dann warf er die Rauchgranate (Schwarzmarktpreis: 40 Dollar). Sie war eben erst in der Luft, als Nate klar wurde, dass er zu fest geworfen hatte. Die Granate prallte an der Veranda ab. Es zischte. Nate sprang aus seiner Deckung, gab ihr einen Tritt. Sie verfehlte ihr Ziel.

Der Rauch war so dicht, dass Nate sein Gewehr fallen liess und hustend die Hände vors Gesicht schlug. Seine Augen tränten. Im Kopf zählte er von zwanzig aufwärts. Einundzwanzig… Er ging in die Hocke. Zweiundzwanzig… Mit der rechten Hand tastete er nach der Rauchgranate. Dreiundzwanzig… Vorsichtig trug er sie zum Bau. Vierundzwanzig… Dann legte er sie ebenso vorsichtig davor ab (Fünfundzwanzig…) und gab ihr wieder einen Tritt. Sechsundzwanzig… Die Granate verschwand im Loch. Siebenundzwanzig…

Würgend schleppte Nate sich hinter die Kommode und legte das Gewehr an. Seine Unterlippe zitterte, er kniff das linke Auge zusammen. Dann geschah – nichts. Er hörte sich selbst schwer atmen und die Rauchgranate zischen. «Drecksviecher», sagte Nate. «Verdammte Drecksviecher.» Als er das Wort so oft wiederholt hatte, dass es ihm fast bedeutungslos vorkam, preschte der erste Waschbär aus dem Loch. Ein fettgefressenes Tier, vom Mülltonnenplündern träge und begriffsstutzig. Und Nate drückte ab.

Kurze Zeit später lag Nate vor der Kommode im Gras: keuchend und schwitzend. Er hatte sechs Schuss abgefeuert. Aber nur einen Waschbären getroffen, am linken Ohr. Das Tier war auf dem Nachbargrundstück verschwunden. Alle anderen Waschbären hatten ihren Bau nicht durchs Verandaloch verlassen. Es musste einen zweiten Ausgang geben.

«Sind Sie Nathaniel Warren?»

Die Stimme erschreckte ihn. Noch bevor er sich umdrehte, sagte Nate: «Nein.»

«Sicher?»

«Sehr sicher.»

«Wie heissen Sie?»

«John.»

Pause.

«John Ross.»

«Kennen Sie einen Nathaniel Warren?»

«Tut mir leid.»

Der Junge hatte eine bleiche milchige Haut, fettige Locken und aufgeschlagene Fingerknöchel. Er sagte:

«Seltsam. Warum bedauern Sie, einen Menschen nicht zu kennen, den Sie gar nicht kennen.»

«Was?»

«Sie haben ‹tut mir leid› gesagt.»

«Geh nach Hause, Junge.»

Der Junge schwieg kurz. Dann sagte er:

«Noch eine letzte Frage.»

Nate starrte ihn an.

«Wenn Sie Nathaniel Warren nicht kennen. Und wenn Sie selbst nicht Nathaniel Warren sind. – Warum schiessen Sie dann auf Nathaniel Warrens Trailer?»

Vincent Warren war 17 Jahre alt. Seine Reise hatte vor 72 Stunden, über 120 Meilen vom Trailer Park entfernt, in Runnymede, einem Vorort von Toronto, begonnen. Dort sass er jeden Nachmittag in seinem Kinderzimmer, rieb die Hände mit einer Feuchtigkeitslotion ein und starrte auf seinen iMac. Er presste die Tube vollständig aus, wartete, bis die Lotion getrocknet war, zog atmungsaktive Seidenhandschuhe über und klickte auf «Neu laden». Auf seinem Bildschirm erschienen eine Welthalbkugel und ein leeres Textfeld. Er tippte die Koordinaten «13°31’04″S 95°11’53″W» ein und die Kamera stürzte auf den Erdball herab. Kurz bevor sie an den Anden zu zerschmettern drohte, verlangsamte sie ihr Tempo, drehte eine Linkskurve über den Galapagosinseln, glitt in Richtung Süden und stoppte über einem sichelförmigen Atoll.

Jeden Tag durchsuchte Vincent Google Earth. In den letzten Jahren hatten Nutzer einen Meteoritenkrater in der arabischen Wüste entdeckt, die Grundrisse einer spätrömischen Tempelanlage in Norditalien und das Wrack einer britischen Handelsgaleone in der Karibik. Das einzige, was diese Arbeit mit Google Earth verlangte, waren Geduld und Zeit. Vincent hatte beides. Fast zwei Jahre seines Lebens hatte er Satellitenbilder angesehen. Abgesehen von einem Tarnkappenflugzeug, dessen Tragflächen brannten, hatte er nichts Erwähnenswertes gefunden. Bis heute.

Das Atoll lag 540 Seemeilen vor Peru. Eine Wikipediasuche verriet, dass es seit dem 21. Februar 2007 nicht mehr der Hoheit von Französisch-Polynesien unterstand, sondern vom französischen Minister für Überseegebiete verwaltet wurde. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner dort eine Wetterstation errichtet, sie aber bereits 1947 wieder aufgegeben. Seitdem, so der Artikel, hatte kein Mensch mehr die Insel betreten. Am östlichen Strandabschnitt, auf dem überlichteten Sand des Satellitenbildes gut zu erkennen, entzifferte Vincent allerdings vier voneinander abgegrenzte Buchstaben: H E L P.

 

Vincent klopfte so lange an die Schlafzimmertür seiner Mutter, bis Nadine Warren im Seidenmantel und mit Ginfahne vor ihm stand.

«Honey? Alles in Ordnung?»

Sie war 14 gewesen, als sie Vincent bekommen hatte.

«Nein.» Er kratzte sich am Kinn. «Also doch. Mit mir schon.»

«Aber?»

Nadine war kein schöner Mensch. Sie hatte die Kranarbeiterhüften ihres Vaters geerbt, ausserdem dessen platten Hintern und den natürlichen Bauchansatz. Aber als sie 12 war, hatte sie gelernt, ein Dosenbier mit einem Schraubenzieher anzustechen. Lange vor den Jungs in ihrer Klasse. Das hatte ihr ungezählte Liebesbriefe beschert. Auch von Nate.

«Ein Schiffbrüchiger, vielleicht.»

«Was redest du?»

«Oder eine Schiffbrüchige.»

«Vincent?»

«Es gibt viel mehr männliche Matrosen als weibliche. Also eher ein Schiffbrüchiger.»

«Lass das Kratzen!»

«Vielleicht auch zwei, drei Schiffbrüchige.»

«Vincent! Hände weg vom Kinn!»

«Ein Fischerboot! Aus Peru, möglicherweise.»

Nadine schob sich an ihrem Sohn vorbei, um eine der fünf Handpflegelotionen aus dem Bad zu holen, die er täglich auftrug. Sie setzten sich an den Glastisch im Wohnzimmer, auf dem Seidenhandschuhe und ein unbenutztes Küchentuch lagen.

 

Als Vincent 13 Monate alt war, hatte Nadine ihre Putzstelle im Krankenhaus gekündigt, weil sie das Gefühl hatte, dass die Flurlichter ihre Augen ausbrannten. An ihrem letzten Arbeitstag klaute sie in der Notaufnahme einen Karton mit Fentanylspritzen und versteckte ihn im Kofferraum von Nates Wagen. Dann rief sie die Polizei. Das Gericht konnte Nate keinen Drogenhandel nachweisen, aber das sichergestellte Fentanyl reichte aus, um ihn für vier Jahre ins Gefängnis zu bringen. Nadine wurde das alleinige Sorgerecht für Vincent zugesprochen.

Ihre nächste Arbeitsstelle – als Pflegekraft in einem Seniorenheim – kündigte Nadine, weil sie den Uringeruch nicht ertrug, der sich in ihrer Kleidung festsetzte. Vincent war nun 22 Monate alt und beherrschte 22 Wörter. Eine besorgniserregend niedrige Zahl, die seine Mutter aber hoffnungsvoll stimmte: Wenn kein neues Wort dazukäme, würde sie ihren Sohn leicht weggeben können.

Kurz bevor Nate aus dem Gefängnis entlassen wurde, stieg Nadine in einen Fernbus nach Toronto. Vincent, mittlerweile fünf Jahre alt, redete ohne Pause. In Toronto bezog Nadine ein Motelzimmer. Am Pool telefonierte sie mit einem schnurlosen Telefon die Kinderheime der Stadt ab. Das Ergebnis war niederschmetternd: Sie hatte einen Sonnenbrand und Kinder mit «noch lebenden Erziehungsberechtigten» wurden nur für eine Woche aufgenommen. Die letzte Möglichkeit war also «kontinuierliche häusliche Gewalt». Dafür fehlte ihr allerdings die Zeit. Und die Disziplin.

Während sie am nächsten Tag mit Sonnenstich und Schüttelfrost im Bett lag, kümmerte sich die Rezeptionistin, eine junge Russin, um Vincent, für drei Dollar die Stunde. Abends entschuldigte sich die Frau. Sie habe noch nie einen so hübschen, braven und aufgeweckten Jungen kennengelernt. Wenn es okay sei, kümmere sie sich auch morgen um Vincent. Selbstverständlich kostenlos.

«Sie können ihn adoptieren.»

Kurz war es still. Dann lachte die Rezeptionistin und verabschiedete sich.

 

Die Nacht verbrachte Nadine am Pool, zündete eine Zigarette an der vorherigen an und dachte nach. Sie kam zu dem Schluss, dass die Russin in einem Punkt richtig lag: «Brav» und «aufgeweckt» war Vincent nicht, aber «hübsch».

Noch vor Sonnenaufgang lieh sich Nadine den Wagen der Russin, einen Mercedes. Aus den Ledersitzen quoll Schaumstoff, die Decke schimmelte und beide Aussenspiegel waren abgetreten. Nadine kurbelte das Fenster herunter, nahm ihren Sohn auf den Schoss und drehte die Lautstärke hoch. Während der Wagen rasselnd und mit 20 Meilen pro Stunde über den Highway fuhr, sang ein Männerchor vom Grossen Vaterländischen Krieg. Als sie das Auto kurz vor Mitternacht zurückgab, hatte sich Vincent bei einem offenen Casting gegen 5423 Konkurrenten durchgesetzt und war das neue Gesicht der «Under-12»-Kollektion von Burberry.

 

Seit diesem denkwürdigen Ausflug waren 12 Jahre vergangen und Vincent hatte alles verloren, was ihm damals den Vertrag verschafft hatte: Sein Kinn war zu grob für die schmalen Augen geworden, die Brust war über die Jahre so tief eingefallen, dass seine Schultern sich nach vorne neigten und die Beine unter dem Gewicht des Körpers zu brechen schienen.

«Streck die Hände aus», sagte Nadine.

Zuerst rieb sie seinen kleinen Finger ein. Keine Ader trat auf dem Handrücken hervor, die Haut wölbte sich zart über den Fingergelenken.

Als 2010 jeder dritte Kanadier ein Smartphone besass, begann Vincents zweiter Aufstieg, der zum Handmodel: Die Tech-Unternehmen suchten Jugendliche, die ein iPhone elegant in die Kamera hielten, deren Hände weiss und androgyn wirkten. Das hatte Vincent einen Exklusivvertrag mit Apple verschafft.

 

Nadine war am Mittelfinger der linken Hand angekommen, der mit 250 000 Dollar versichert war.

«Mama.»

Normalerweise war Vincent nach dem rechten Zeigefinger still. Dass er vier Finger später zu reden begann, war noch nie vorgekommen.

«Vielleicht die Polizei?»

«Was?»

«Wegen dem Atoll.»

«Dem was?»

«Dem Atoll.»

«Was?»

«Wegen der Insel.»

«Warum sagst du dann nicht gleich Insel? – Du kannst deine Handschuhe anziehen.»

Dass ihr Sohn nächtelang auf Satellitenbilder starrte, beunruhigte Nadine schon lange.

«Oder das Militär?»

«Zieh bitte deine Handschuhe an.»

«Die Marine?»

Zwischen Nadine und Vincent gab es eine Vereinbarung: Er absolvierte alle Shooting-Termine, die sie buchte. Dafür liess sie Vincent alles tun, was seine Hände nicht gefährdete. Dass das ausgerechnet Google Earth bedeutete, duldete Nadine erst, nachdem Vincent ihr eine Computermaus mit Silikonüberzug vorgeführt hatte.

«Oder den französischen Minister für Überseegebiete?»

«Vincent?»

«Ja.»

«Zieh deine beschissenen Handschuhe an!»

Jede halbe Stunde cremte Vincent seine Hände ein. Die Seidenhandschuhe behielt er auch unter der Dusche an. Fürs Gemüseschneiden – salzhaltige Speisen waren verboten, genauso wie Fisch und Fleisch – verwendete er eine Designerschere mit weichen Griffen. Druckstellen an seinen Händen, Hornhautbildung und schlimmstenfalls Kratzer hätten zu einem Vertragsbruch mit Apple führen können.

 

Nadine fuhr einen schwarzen Mercedes, S-Klasse. Sie öffnete den Kofferraum, in dem zwei Plastikkörbe lagen, ein roter und ein blauer. Der rote war für ihre Strassenschuhe vorgesehen. Im blauen lagen Hausschuhe bereit, die Nadine und ihr Sohn während der Fahrt trugen.

«Weisst du noch?», fragte Vincent.

«Weiss ich was?»

«Die Musik. Als wir zum Burberry-Casting gefahren sind. Wir haben dieses eine russische Lied gehört. Nur dieses eine.»

«Kann schon sein.»

«Was war das für eins?»

«Honey?»

«Ja.»

«Woher soll ich das wissen?»

Stille.

«Wie lange wird es heute dauern?»

An drei Shooting-Tagen hatte Vincent das iPhone 7 nun schon in die Kameras gehalten. Die Produzentin war längst zufrieden, auch der Regieassistent, der Tontechniker, die Kamerafrau, der Choreograf und der Setpraktikant. Nur der Regisseur nicht.

«Das Buffet ist zum Kotzen.»

Wenn Vincent im voll ausgeleuchteten, schweisswarmen Studio stand, fühlte er sich sicher. Er wusste dann, was seine Aufgabe war. Wie er sich zu verhalten hatte. Was von ihm verlangt wurde. Das Problem waren die Drehpausen, der Small Talk.

«Und der Regisseur…»

«Was ist mit dem?»

«Ein Arschloch is’ er.»

«Na und? Das sind alle Männer. Dein Vater war eins. Dein Opa war eins. Und alle Warrens davor. Eine einzige grosse Arschlochfamilie.»

Nadine redete weiter: «Dein Vater lebt in einem Trailer.»

«Ich weiss.»

«In einem Trailer!»

«Ja.»

«In Saltford. Weisst du, was es in Saltford gibt?»

«Nein.»

«Nichts!»

Nichts: Das klingt gut, dachte Vincent.

 

Nach einer halben Stunde bekam der Regisseur einen Wutanfall, weil ihm die Arbeit des Lichttechnikers nicht gefiel, und verliess fluchend das Set. Vincent tat etwas, was er noch nie getan hatte: Er bestellte ein Taxi. In Runnymede angekommen, stieg Vincent die Treppe zur Haustür hinauf und klingelte. Nadine war nicht da. Er streifte langsam seine Seidenhandschuhe ab, wickelte sie um seine rechte Faust und ging in den Garten. Dann schlug er mit aller Macht gegen das Panoramafenster. Die Scheibe hielt stand. Seine Hand nicht. Auf den Fingerknöcheln platzte die Haut auf.

Er blickte sich um. Der Zedernholztisch war zu schwer, um ihn hochzuheben. Die Kunstharzstühle waren zu leicht, um das Glas zu durchbrechen. Vincent drückte seinen linken Oberarm auf seine Lippen und saugte die Haut ein. Früher hätte er seine Fingernägel gekaut, doch das hatte er sich vor den ersten Handmodeljobs abgewöhnt. Er liess die Seidenhandschuhe fallen, hielt kurz still, zuckte mit den Wangen und biss dann einen Nagelstreifen vom Mittelfinger ab. Beim Ausspucken fiel sein Blick auf eine Terracottavase.

 

Als er kurze Zeit später aus dem zertrümmerten Fenster kletterte, hatte er einen Rucksack geschultert und lief ohne Umwege zum Kensington Market. Vor einem zweistöckigen viktorianischen Gebäude blieb er stehen. Das Haus war nicht so her-untergekommen wie die anderen an der Strasse. Auf der Treppe, die hinauf zum Eingang führte, hockte ein Mann. Vincent musterte ihn. Schmale Schultern, einen kahlgeschorenen Kopf und weiche Gesichtszüge. Wortlos stellte sich Vincent vor den Mann, öffnete den Rucksack und zeigte den Goldschmuck seiner Mutter.

«Ist der echt?», fragte der Mann.

«Ja, echt.»

«Was willst ʼn dafür?»

«Tausend», sagte Vincent. Es überraschte ihn, wie selbstbewusst er den Preis genannt hatte.

«Hör zu, Junge», sagte der Mann. Er sprach jetzt langsamer, klarer, aggressiver. «Hau ab. Oder ich ruf die Bullen.»

Vincents Oberlippe zuckte.

«200.»

Am Ende waren es 70 Dollar. Von dem Geld kaufte Vincent einen doppelten Cheeseburger, eine 2,5-Liter-Flasche Coca-Cola und eine Busfahrkarte nach Saltford.

 

«Heilige Scheisse», sagte Nate, während Vincent die Koordinaten der Insel auf den Flyer eines Pizzalieferdienstes schrieb, der auf seinem Küchentisch lag. Vincents Geschichte war so unwahrscheinlich und stellenweise so verrückt, dass Nate nicht anders konnte, als die Erzählung seines Sohnes zu glauben. Vincent heftete den Flyer an Nates Pinnwand.

«Wie geht’s deiner Mutter?», fragte Nate.

«Keine Ahnung, gut.»

«Weiss sie, wo du bist?»

«Keine Ahnung.»

 

Das zerbrochene Fenster, die Seidenhandschuhe im Garten, der geklaute Schmuck: Nadine wusste sofort, was ihr Sohn vorhatte. Und sie nahm es hin wie seine Zeugung, teilnahmslos. Als Vincent den Bus bestieg, rief Nadine ihren Makler an und stellte das Haus für 1,6 Millionen Dollar auf den Markt. Eine Woche später war es verkauft. Nadine zog nach Vancouver. Sie hatte ausgerechnet, dass sie mit Vincents Geld noch 17 Jahre und 6 Monate ein sorgenfreies Leben führen konnte. Sie war so glücklich wie nie zuvor.

 

Vincent auch. Er liebte den Dreck. In Nates Spülbecken stapelten sich die Teller, der Kühlschrank roch nach modernden Zwiebeln und um die Herdplatten hatte sich eine Schicht aus Bratenfett und Staub gebildet. Wenn Nate auf Waschbärenjagd war, zog Vincent seinen Zeigefinger über den Herd und rieb dann seine Hände mit dem Fettfilm ein.

Und er liebte seinen Vater, der eine Imbissbude am Industriehafen gepachtet hatte: «Warren’s Fish and Chips». Die Einnahmen reichten aus, um die Miete für den Trailer zu zahlen, plus: Dosenbier und Zigaretten. Wenn das Licht günstig auf Nates Finger fiel, erkannte Vincent unter der Hornhaut von über 17 Jahren Fischfiletieren seine eigenen 4-Millionen-Dollar-Hände.

Das Atoll hatte er vergessen.

Hinter dem Trailer hatte er ein Massengrab ausgehoben. Das war seine Beteiligung am «grossen Waschbärenkrieg», den sein Vater so getauft hatte. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Saltford schenkte Nate seinem Sohn ein Sportgewehr. Als es am nächsten Tag dämmerte, schlich Vincent zum südlichen Ende des Parks. Hier schlängelten sich die Ausläufer des Maitland River entlang, die im Huronsee mündeten. Vincent legte sich auf den Bauch und wartete so lange, bis er den ersten jungen Waschbären zwischen dem Schilfrohr entdeckte. Dann drückte er ab. Das Tier stiess einen Schrei aus, verkrampfte die Vorderpfoten und humpelte auf ihn zu, erst kurz vor seiner Gewehrmündung brach es zusammen, verdrehte die Augen und kratzte mit seinen Beinen über den Kiesboden. Vincent lief zum Trailer und holte ein Geschirrtuch, um den Kadaver einzuwickeln. Er begrub das Jungtier flussaufwärts.

Als Vincent später nach Hause kam, stand Nate vor dem Waschbärenmassengrab, rauchte und sprach mit sich selbst. Zwischendurch räusperte er sich laut. Plötzlich ging das Räuspern in ein Röcheln über. Nate krümmte seinen Rücken, ging in die Hocke und bekam einen Hustenanfall. Dann spuckte er einen Blutfaden aus.

«Alles okay?», fragte Vincent.

«Ja, ja.»

«Du solltest zum Arzt.»

«Bullshit, ist nichts.»

«Papa?»

«Wie ist das Luftgewehr? Hast schon einen erwischt?»

«Ja.»

«Und? Gutes Gefühl?»

«Geht.»

«Hilf mir auf, ja?»

Vincent reichte seinem Vater die Hand.

 

Am nächsten Morgen blieb Nate im Bett. Wenn er sich auch nur ein kleines Stück bewegte, musste er sofort husten und bekam kaum Luft. Vincent kochte Hühnerbrühe für seinen Vater. Dann rief er einen Krankenwagen. Nate glaubte, sich mit einer Sommergrippe infiziert zu haben. Die Untersuchung ergab, dass seine Blutwerte in Ordnung waren.

Seine Lunge nicht.

 

Die Atemmaske, die Schläuche und Sauerstoffflaschen, das Blut, das er ins Waschbecken hustete: Nate hielt den Krieg noch drei Monate durch. Dann verliess ihn die Kraft. Er warf sein Gewehr ins Waschbärenmassengrab.

 

Vincent übernahm «Warren’s Fish and Chips». Am meisten genoss er es, die Schellfische und Seelachse zu frittieren. Auf seinen Handinnenflächen hatte sich schon vom Massengrabausheben Hornhaut gebildet. Jetzt kamen kleine Brandwunden auf den Handrücken dazu, wenn das heisse Öl aus der Fritteuse spritzte. Mit jeder neuen Hautrötung verblasste auch Vincents Erinnerung an sein altes Leben in Runnymede.

Nate verbrachte seine Tage ebenfalls am Imbiss. Er sass auf einem Plastikstuhl, riss eine Bierdose nach der anderen auf und fütterte die Möwen mit Weissbrot. An guten Tagen brauchte er seine Atemmaske nicht. Dann war er reizbar, fahrig, selbstzerstörerisch. Einem Gast, der sich über eine «mittelschwere Fischvergiftung» beschwerte, schlug Nate so stark aufs linke Ohr, dass der Mann ein Knalltrauma erlitt.

An schlechten Tagen wurde Nate rührselig. Er erzählte seinem Sohn von einer endlosen, waschbärenfreien Veranda. Mit Plastikstühlen, auf denen es nie unbequem ist. Vincent fühlte bei den Erzählungen nur eines: Wut. Auf seinen Vater, der an solchen Tagen schon beim Aufstehen zu weinen begann, während des Frühstücks kurz aufhörte und dann noch heftiger weiterweinte. Und auf die Waschbären, die den Verfall seines Vaters beschleunigt hatten. Vincent tat das einzige, was ihm richtig erschien: Er grub Nates Gewehr aus und kaufte neue Schrotpatronen.

Vincent ging hinunter zum Fluss. Genau an die Stelle, wo er den jungen Waschbären erschossen hatte. Er legte Fischinnereien als Köder aus, steckte das Schrotmagazin ins Gewehr und nahm Deckung. Doch als er das erste Tier im Visier hatte, konnte er nicht abdrücken. Er war kein Waschbärenkiller. Er sah dem Tier zu, wie es seine Vorderpfoten leckte. Wie es die grauen Finger spreizte, sie aneinander rieb und zum Maul führte. Vincent erinnerte sich an Runnymede. An seine Pflegelotionen, an die Designerschere mit den weichen Silikongriffen und an seine Seidenhandschuhe. Er feuerte das Magazin leer.

 

«Bist du bescheuert?»

Vincent stand vor seinem Vater: Mit einem blauen Müllsack in der einen Hand, gefüllt mit Waschbärenleichen. Und dem begraben geglaubten Gewehr seines Vaters in der anderen.

«Was?»

Nate nahm die Atemmaske ab, stöhnte.

«Ob du bescheuert bist?»

«Nein.»

«Mach das nie wieder!» Es war sein Krieg, sein Feldzug, sein Lebenswerk.

«Sonst schmeisse ich dich raus.»

Vincent warf den Sack in die Mülltonne, dann half er Nate auf die Toilette.

 

Als Nate am nächsten Morgen aufwachte, war Vincent verschwunden. Nate schleppte sich ins Bad, wusch sich unter seinen Achseln, im Schritt. Dann öffnete er den Badezimmerschrank und holte die Duschgelflasche hervor, in der er seine Zigaretten versteckte. Als er die Wohnwagentür öffnete, hörte er seinen Sohn stöhnen. Vincent hob hinter dem Trailer ein zweites Grab aus. An der Trailerwand stapelten sich fünf neue Müllbeutel.

«Ich mach dir gleich Eier», sagte Vincent, als er seinen Vater bemerkte. Dann grub er weiter.

«Vincent?»

«Spiegelei? Oder Rührei?»

 

Am nächsten Tag zählte Nate neun Müllsäcke. Er überlegte, wie er einen Waffenstillstand erzwingen könnte. So angestrengt hatte er lange nicht mehr nachgedacht. Als sein Blick geistesabwesend die Schellfischgräten streifte, die von seinem Mittagessen übrig waren, fiel ihm plötzlich das Pazifikatoll ein. Er hievte seine Sauerstoffflasche auf die Veranda und wartete darauf, dass sein Sohn von der Jagd heimkehrte. Es vergingen einige Stunden, dann entdeckte er Vincent vor dem hohen Gras, Gewehr geschultert, einen Müllsack hinter sich herziehend.

«Wie lang bist du schon draussen?»

Der Sohn liess den Müllsack fallen und setzte sich neben seinen Vater. Das Gewehr legte er auf seinen Oberschenkeln ab.

«Vinny, die Insel! Weisst du noch? Du hattest diese Insel entdeckt.»

«Es ist kalt geworden. Du holst dir die Grippe, wenn du den ganzen Tag draussen bist.»

«Im Pazifik.»

«Was redest du?»

«Na, die… wie nennt man das?»

Nate hielt sich die Atemmaske vors Gesicht, nahm einen kräftigen Zug.

«Geht’s dir gut? Hast du schon Fieber?»

«Das Archipel!»

«Das Atoll.»

«Genau! Was ist damit?»

«Was soll sein?»

«Im Sand! Der Hilferuf!»

«Vielleicht ein Werbegag… für Touristen. So was.»

«Und wenn doch…?»

«Papa. Geh rein. Du erkältest dich.»

Vincent stand auf und entsorgte die erlegten Waschbären im neu ausgehobenen Massengrab.

 

Nate riss den Zettel mit den Koordinaten von der Pinnwand, rief die Polizei an, die Küstenwache, die Marine. Alle hielten ihn für einen Verrückten. Beim Geography and Planning Institute der Universität Toronto nahm eine studentische Hilfskraft den Hörer ab und stellte sich als Jonathan Bielinski vor. Das Gespräch dauerte immerhin eine halbe Stunde, die Tonlage der Hilfskraft blieb aber gelangweilt. Nate war sicher: Für Bielinski war die Unterhaltung bloss eine willkommene Ablenkung, die ihn seinen öden Job vergessen liess – und schliesslich legte Nate auf, ohne sich zu verabschieden. Die Telefonate hatten ihn so angestrengt, dass er sich aufs Sofa legte. In der Tiefschlafphase erstickte er.

 

Tatsächlich war Jonathan Bielinski über einer halben Million Usern als «Gama22» bekannt. Er war Gründer des grössten Google-Earth-Internetforums der Welt. Eine Woche nach Nates Beerdigung legte ein Kreuzfahrtschiff vor dem Atoll an. Die Mannschaft rettete eine deutsche Frau, die angab, «Carla Palm» zu heissen und im Jahr 1992 einen Flugzeugabsturz überlebt zu haben. Jonathan Bielinski gab der New York Times, Le Monde und dem Spiegel Interviews. Die BBC drehte ein 45minütiges Porträt über ihn. Am Tag der Ausstrahlung wurde Vincent Warren vom Ontario Court of Justice zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt: Wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Tierquälerei in mindestens 108 Fällen.

Illustrationen von Luca Bartulović

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