Tonnenideologien im Bildungswesen
Je mehr junge Menschen studieren, desto besser! Das denken viele. Und die Bildungspolitiker wiederholen es die ganze Zeit. Dennoch ist es falsch. Eine höhere Akademikerquote führt nicht zu einem höheren Bildungsniveau der Bürger. Sie führt bloss zu einem tieferen Niveau der Hochschulen.
Bildung gilt als Grundlage sowohl für den persönlichen Erfolg als auch für die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Nationen. Und deshalb braucht es, so meinen Parteien von links bis rechts, möglichst viele Investitionen in Bildung. Kein Wunder deshalb, dass Tonnenideologien im Bildungswesen besonders populär sind. Je früher Kinder eingeschult werden, umso besser. Je mehr junge Menschen studieren, umso besser. Je mehr Weiterbildungskurse absolviert werden, umso besser.
Auf höchster Ebene findet deshalb inzwischen ein absurder Wettbewerb zwischen Ländern und Regionen um den Anteil der jungen Bevölkerung statt, der eine Hochschulausbildung absolviert. Der Wettbewerb wird begleitet von der Veröffentlichung internationaler Studien, die die «Qualität» der Bildung in den einzelnen Ländern miteinander vergleichen. Dabei ist der wichtigste «Qualitätsindikator» der «Prozentsatz junger Menschen mit tertiärem Bildungsabschluss». Die Schweiz schneidet in diesen Studien notorisch schlecht ab. Hier absolviert nämlich nach wie vor ein relativ grosser Teil junger Menschen eine sogenannte Berufslehre, die über Jahrhunderte eine hohe Qualität von Handwerk, industrieller Produktion und Dienstleistungen ermöglichte. Dessen ungeachtet plädieren nicht wenige Schweizer Bildungspolitiker dafür, den bewährten Sonderfall Schweiz mit Berufslehre durch eine bildungsmässige Massenabfertigung zu ersetzen, die in Tat und Wahrheit im Ausland längst in eine Sackgasse geführt hat.
So wurde 2009 in einem Weissbuch zur «Zukunft Bildung Schweiz» gefordert, dass die Maturitäts- oder Abiturquote von gegenwärtig etwas über 20 Prozent auf 70 Prozent zu erhöhen sei.1 Nur noch die schwächsten dreissig Prozent der Jugendlichen sollen also in Zukunft die Lehrbank drücken. Alle andern sollen akademisch ausgebildet werden, um damit «den Marktwert der Bildungsmarke Swiss made» zu erhöhen.
Studieren wozu?
In diesem Zusammenhang macht es Sinn, sich einmal zu vergegenwärtigen, was man in der Hirnforschung über Intelligenz weiss. Gemäss Gerhard Roth, dem Rektor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen, ist Intelligenz das Persönlichkeitsmerkmal mit dem höchsten Grad an genetischer Determiniertheit. Mit andern Worten: die Zahl der intelligenten Schüler und Studenten ist weitgehend reformresistent und lässt sich durch Umgestaltungen des Bildungssystems nicht erhöhen. Wenn wir also den Anteil der Maturanden von gegenwärtig 20 Prozent auf 70 Prozent erhöhen wollen, dann klappt dies nur, indem wir das Niveau der Matura so lange absenken, bis 70 Prozent eines Jahrgangs in der Lage sind, diese zu bestehen. In verschiedenen Ländern war man in dieser Hinsicht schon recht erfolgreich. Ein deutsches Abitur zählt heute kaum mehr etwas, und in Finnland schaffen mittlerweile sage und schreibe 95 Prozent aller Schüler den Abschluss bei den dort 12 Jahre dauernden Einheitsschulen.
Was aber ist die Folge derart hoher Maturitätsquoten? In erster Linie verbringen Jugendliche in diesen Ländern einfach viel mehr Zeit in Schulzimmern, wo sie die Zeit bis zur Matura mehr oder weniger gelangweilt aussitzen. Doch was dann nach der Schule kommt, ist weniger toll. Ein Grossteil dieser künstlich hochgezüchteten Maturanden macht nachher gar nie einen Hochschulabschluss und bleibt irgendwo auf der Strecke. In Finnland sind das etwa die Hälfte der Maturanden, was die grossartigen 95 Prozent mit Gymnasialabschluss schnell wieder relativiert. Das Problem ist aber, dass diese Schüler keine Berufsausbildung haben und zu keiner Zeit auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet wurden. Kein Wunder, haben die Länder mit hohen Maturitätsquoten deshalb auch hohe Jugendarbeitslosigkeitsquoten (Alter 15 bis 24), die im Februar dieses Jahres in Finnland bei 19,8 Prozent und in Italien sogar bei 31,9 Prozent lagen. Da wirken die 3,5 Prozent in der Schweiz doch sympathisch bescheiden.
Eine hohe Maturitätsquote ist also ein hervorragendes Mittel, um die Jugendarbeitslosigkeit zu fördern. Doch es kommt noch besser. Diejenigen, die tatsächlich studieren, müssen dies zum grössten Teil unter Bedingungen tun, unter denen akademische Bildung zu einem schlechten Scherz wird. In überfüllten Hörsälen versuchen sie, etwas von dem zu erhaschen, was früher einmal eine Vorlesung war und jetzt zu einer Art Rummelplatz geworden ist. Natürlich hat man auf diese allgemeine Degeneration der universitären Bildung in Ländern wie Deutschland längst reagiert. Der neue Trend heisst: Gründung von Eliteuniversitäten, die die Crème de la Crème des Nachwuchses ausbilden sollen. Auf diese Weise entsteht dann ein noch viel elitäreres Bildungssystem, bei dem nur noch das Studium an ein paar wenigen Eliteuniversitäten zählt und der grosse Rest der Studenten seine Zeit an zweit- und drittklassigen Massenuniversitäten verplempert.
Ziel: mittelmässige Massenakademiker?
Was in dem Weissbuch im Jahr 2009 als ein Manko identifiziert wurde, nämlich der geringe Anteil der Studenten in der Schweiz, ist somit in Wirklichkeit eine der grössten Stärken. Die Schweiz hat es bisher geschafft, die Entwicklung in Richtung Massenuniversitäten im Zaum zu halten und die Qualität der universitären Ausbildung generell an Universitäten und Fachhochschulen zu wahren. Worauf es nämlich ankommt, ist nicht die Zahl der Studenten, sondern ob die intellektuell begabten jungen Menschen eines Landes eine qualitativ gute Ausbildung an den Universitäten und Fachhochschulen erhalten können. Der Wettbewerb um möglichst viele Studenten führt jedoch dazu, dass sich auch all die jungen Menschen an Universitäten tummeln, die eigentlich ganz andere Begabungen besitzen.
Eine Lehre machen nur noch diejenigen, die keine andere Wahl haben, und das hat fatale Folgen. Die Qualität der Facharbeiter und Handwerker geht immer mehr zurück, während Jugendliche, die ausgezeichnete Facharbeiter wären, sich zunehmend als mittelmässige Studenten an Fachhochschulen und Universitäten abmühen. Der Lehrabsolvent wird durch die an Studentenquoten orientierte Bildungspolitik zu einem Menschen zweiter Klasse degradiert, was tendenziell zu einem Volk von mittelmässigen Massenakademikern führt.
Doch das ganze verquere Bildungsdenken setzt nicht erst bei den Jugendlichen im Gymnasium bzw. an der Universität ein, sondern bereits im Kindergarten. Kinder sollen möglichst früh eingeschult werden, um dann sofort mehrsprachig sowie interkulturell und sozial kompetent für eine spätere Karriere herangezüchtet zu werden. Und damit man auch weiss, wie erfolgreich dieses Heranzüchten in den einzelnen Ländern abläuft, hat man seit zehn Jahren die sogenannten Pisa-Tests, die es erlauben, das «Bildungsniveau» von Schülern in verschiedenen Ländern, Regionen und Schulen miteinander zu vergleichen. Folgerichtig hat sich sofort auch ein Wettbewerb um ein möglichst gutes Abschneiden bei diesen Vergleichen etabliert, um beim nächsten Pisa-Vergleich noch besser abzuschneiden.
Reformitis als Dauerzustand
So sind Reformen und Veränderungen im Bildungswesen mittlerweile zum Dauerzustand geworden. Damit verbunden ist auch eine stets wachsende Bildungsbürokratie. Der Zürcher Psychologe und Hochschuldozent Jürg Frick schrieb dazu vor kurzem im Zürcher «Tages-Anzeiger»: «Die Bürokratisierung nimmt von Jahr zu Jahr zu: Papiere, Konzepte, Programme, Formulare, Untersuchungen, Befragungen, Statistiken, Tabellen, Berichte, Leistungsvereinbarungen.»2
Das eigentliche Kerngeschäft von Lehrern, nämlich das Unterrichten, wird durch diese Tätigkeiten mehr und mehr vereinnahmt, da die Lehrer ihre Zeit für die Konzeption ihres Unterrichts statt für den Unterricht selbst aufwenden müssen. Und um die Schulen und Universitäten herum entsteht eine gewaltige Verwaltungsbürokratie. So hat ein Schulpsychologe im Kanton Zürich für die Zeit von 1975 bis 2008 für seine Gemeinde festgestellt, dass die Schülerzahl und die Klassenlehrerstellen in dem Zeitraum um 20 Prozent gestiegen sind. Die Stellenzahl in der Schulverwaltung stieg hingegen um 355 Prozent.3 Und dieser Fall ist wohl typisch für die ganze Schweiz sowie auch für Deutschland und andere Länder. Im Namen von Effizienz und Qualität wird hier eine neue Bürokratie errichtet, die der Qualität des Unterrichts letztlich schadet und den Lehrern die Freude an ihrer Arbeit verdirbt.
Und die Schweiz zieht nach…
In bezug auf Bildung herrscht in der Schweiz somit eine merkwürdige Schizophrenie. Auf der einen Seite sind wir stolz auf unser System und betonen dessen Beitrag zum Erfolg unseres Landes. Doch gleichzeitig nehmen Experten jede Gelegenheit wahr, dieses System durch Reformen zu demontieren und auf europäisches Mittelmass zurechtzustutzen. Es lässt sich einmal mehr folgendes Phänomen beobachten: Reformen und Konzepte, die sich im Ausland nicht bewährt haben, werden in der Schweiz zeitlich verzögert auch noch eingeführt. Und dies mit noch mehr Akribie, so dass sie sich hierzulande dann noch schlimmer auswirken. Wann hören wir endlich mit diesem Unsinn auf?