Tolerant kann nur sein, wer die eigene Fehlbarkeit erkennt
Eine kleine Elite, die sich als moralisch überlegen sieht, brandmarkt andere für jeden noch so kleinen Fehler. Das ist ein Rezept, um die Gesellschaft zu spalten.
Eine zunehmend politisch korrekte und moralisch selbstgerechte Meinungsdiktatur droht unser Denken zu kontrollieren. Jeder noch so kleine Fehler wird zum Anlass genommen, Menschen öffentlich zu brandmarken – selbst wenn er Jahrzehnte zurückliegt. Doch ein friedliches Zusammenleben gelingt nur, wenn wir fähig sind, anderen und uns selbst zu vergeben. Diese Vergebung setzt die Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit voraus und das Erkennen der Unvollkommenheit des Menschen. Fehler zu machen ist zutiefst menschlich; eine uralte Weisheit, die heute vor allem von einer selbsternannten moralischen Elite ignoriert wird.
Unsere gemeinsamen Unvollkommenheiten
Die Vorstellung, dass wir Menschen von Natur aus unvollkommen sind, ist keineswegs neu. Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Sikhismus betonen seit Jahrhunderten die Fehlerhaftigkeit des Menschen. Das Christentum lehrt durch das Konzept der «Erbsünde» Demut. Jesus mahnt im Matthäusevangelium: «Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?» (Matthäus 7, 3). Vergebung beginnt hier mit der Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit.
Das Judentum fordert ebenfalls zur Selbstkritik auf. Der Talmud lehrt: «Handle gerecht, jetzt. Liebe Barmherzigkeit, jetzt. Wandere demütig, jetzt.» (Micha 6, 8). Die jüdische Tradition erkennt die menschliche Unvollkommenheit als gegeben an, betrachtet sie jedoch als Ansporn zur Umkehr, um Fehler zu erkennen und daran zu wachsen. Auch im Sikhismus ist die menschliche Fehlbarkeit tief verankert.
«Die jüdische Tradition erkennt die menschliche Unvollkommenheit als gegeben an, betrachtet sie jedoch als Ansporn zur Umkehr, um Fehler zu erkennen und daran zu wachsen.»
Dystopische Warnungen
Die westliche Welt scheint sich jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Ein «Nanny-Staat» schwingt sich zur moralischen Instanz auf und bestimmt, welche Meinungen akzeptabel sind und welche nicht. Der gegenwärtige Trend erinnert an die dystopischen Visionen in Jewgeni Samjatins «Wir» und Lois Lowrys «Hüter der Erinnerung». In diesen Welten wird Individualität der «Sicherheit» eines kollektiven Wohls geopfert. Das Resultat ist eine Gesellschaft, in der «Fehler» nicht geduldet werden.
«Ein ‹Nanny-Staat› schwingt sich zur moralischen Instanz auf und
bestimmt, welche Meinungen akzeptabel sind und welche nicht.»
In Samjatins «Wir» überwacht ein allumfassender Staat jede Facette des Lebens. Menschen werden auf Nummern reduziert, Identitäten ausgelöscht, und alle individuelle Selbstverwirklichung wird als Bedrohung für die staatliche Ordnung unterdrückt. Die Hauptfigur D-503 entdeckt verbotene Gefühle und Denkweisen, die ihr helfen, sich der Tyrannei der Konformität zu widersetzen.
Selbstkritik und Demut
Oft tappen wir in die Falle, unser eigenes Handeln mit den Fehlern der anderen zu rechtfertigen. Statt uns selbst zu hinterfragen, erheben wir uns moralisch durch die Fehler der anderen. Es ist ein universelles Muster: Fehler der anderen dienen als Rechtfertigung für die eigenen Verfehlungen.
«Oft tappen wir in die Falle, unser eigenes Handeln mit den Fehlern der anderen zu rechtfertigen.»
Traditionelle Lehren sagen das Gegenteil: Konfuzius lehrte, dass wahre Tugend mit Selbstkultivierung beginne. Wer an einer besseren Gesellschaft interessiert ist, sollte die Demut entwickeln, sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen. Marcus Aurelius, der stoische Kaiser, forderte in seinen «Selbstbetrachtungen» zur ständigen Selbstprüfung auf: «Beurteile andere nicht, ohne zuerst das eigene Herz zu prüfen.»
Es ist Zeit, dass wir nicht die Fehler der anderen betonen, sondern uns als fehlerhafte, lernende Wesen annehmen, die kontinuierlich an sich arbeiten. Unsere Fehler zu erkennen, bedeutet auch, den Wert der Toleranz zu verstehen. Wie Mahatma Gandhi es formulierte: «Die Schwachen können niemals vergeben. Vergebung ist das Attribut der Starken.» Anerkennen wir, dass alle mit Schwächen kämpfen, öffnen wir uns für die Fehler der anderen und schaffen damit die Grundlage für eine inklusive Gesellschaft. Eine Gemeinschaft, die nicht vergibt, wird stets gespalten bleiben, zerrüttet von Intoleranz und Rache.
Lasst uns das autoritäre Streben nach staatlich verordneter Tugendhaftigkeit aufgeben und eine Gesellschaft fördern, die auf Freiheit, Respekt und Menschlichkeit aufbaut. Und nicht auf der Moralherrschaft einer kleinen Elite.