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Die Todeskarre von Bonnie und Clyde

Das Gangsterduo Bonnie Elizabeth Parker und Clyde Chestnut Barrow, das 1934 im Kugelhagel starb, wurde posthum mit einer Vielzahl an verklärenden Darstellungen überschüttet. Noch nie erzählt wurde hingegen die Geschichte seines Wagens, des damals ­revolutionären Ford V8 Deluxe Fordor Sedan, der als «Death Car» Geschichte schrieb.

Die Todeskarre von Bonnie und Clyde
Illustration von Julius Maxim.

Topeka, Kansas, USA, 1934

Gibt es dieses Model auch in anderen Farben?», fragte die junge Ruth Warren den Verkäufer von Mosby-Mack Motors an der Buren Street.

«Eine Limousine von Henry Ford kann jede Farbe haben», scherzte Gery Williams, «solange sie schwarz ist. An welche Farbe haben Sie gedacht?» Ruth Warren schaute zu ihrem Ehemann Jesse und hob fragend die Brauen. Eine Neulackierung würde den Preis erhöhen. Sie hatten vor zwei Jahren geheiratet, und der Ford V8 Deluxe Fordor Sedan sollte ein Geschenk zum zweiten Hochzeitstag werden. Er legte liebevoll den Arm um sie und nickte.

«Crèmefarben», sagte Ruth kurzentschlossen.

«Das ist eine gute Wahl», bestärkte sie der Verkäufer, «dann haben Sie sich definitiv für den Kauf entschieden?»

Ruth schaute erneut zu ihrem Ehemann. Er zögerte.

«Das ist der erste Achtzylinder von Ford, Mister Warren, eine unglaubliche Ingenieursleistung. Mit einer Geschwindigkeit von 144 Stundenkilometern das schnellste Automobil auf unseren Highways.»

Jesse lief prüfend um das Fahrzeug herum: «Wie ist der Achtzylinder steuerlich eingestuft?»

«30 PS, Mister Warren, Henry Ford hat wie ein Löwe mit den Steuerbehörden gerungen.»

Ruth hakte ihrem Ehemann unter und fragte leise: «30 PS, ist das gut?»

Jesse nickte und öffnete die Fahrertür. Er gab Ruth ein Zeichen, einzusteigen.

«Wenn ein Mann der Frau die Tür öffnet», lachte Gery Williams, «ist entweder das Auto neu oder die Frau.»

Jesse nickte höflich und fragte, ob er ihm beim Preis entgegenkommen könne.

«610 Dollar, das ist schon verdammt günstig, Sir. Ich kann Ihnen höchstens eine kostenlose Tankfüllung anbieten.»

Aufgrund der galoppierenden Inflation war das nicht gerade nichts, aber für den Bankprokuristen Jesse Warren zu wenig.

«Sie haben bestimmt noch etwas Spielraum», entgegnete Jesse, ohne den Verkäufer anzuschauen. Ruth setzte sich hinters Steuer.

«Sir, ich würde gerne, aber wir haben unsere Richtlinien. Dieses Modell ist begehrt, etliche Kunden haben bestellt, ohne das Automobil zu sehen. Weil sie Henry Ford vertrauen.»

«Dann verzichten Sie wenigstens auf den Aufpreis für das Umlackieren.»

Gery Williams strahlte über beide Ohren, jeder Verkauf bedeutete für ihn eine kleine Provision und das war etwas, das seine Familie dringend nötig hatte, denn die Hälfte seiner Verwandten hatte seit dem Börsencrash vor fünf Jahren den Job verloren: «Wir werden Ihr Fahrzeug nicht neu spritzen, Mister Warren, sondern den nächsten Rohling crèmefarben lackieren. Schwarz ist uns lieber, weil schwarze Farbe schneller trocknet. Für Henry Ford ist kein Detail zu klein, um es nicht zu optimieren. Damit der Preis weiter gesenkt werden kann.»

«Ich fragte, ob Sie auf einen Aufpreis verzichten.»

Die Warrens kauften im Frühjahr 1934 dieses ausserordentliche Automobil. Mit allen Extras kostete der Wagen am Ende 785 Dollar und 92 Cents. Es war die Zeit der Wirtschaftskrise, ausgelöst durch den grossen Börsencrash im Oktober 1929. Millionen Menschen hatten den Job verloren, viele hungerten, in einigen Familien erhielten die Kinder nur noch jeden zweiten Tag zu essen, aber die Warrens hatten es gut. Jesse arbeitete als stellvertretender Filialleiter der National Bank in Topeka und würde wohl eines Tages zum Direktor befördert. Falls die Bank nicht vorher bankrottging. Ruth hatte manchmal den Eindruck, Jesse sei bereits alt geboren, doch ihre Mutter wiederholte gebetsmühlenartig, dass ein Langweiler besser sei als ein Womanizer. Jesse, sagte sie stets, das sei der Jackpot, und in ihrer Familie habe noch nie jemand etwas geschenkt bekommen oder nach oben geheiratet. Mag sein, dass Ruth für die gehobene Gesellschaft etwas ordinär war, aber solange sie sich in der Öffentlichkeit an Jesses Benimmregeln hielt, war ihm das egal. Er liebte an Ruth, wozu er sich nicht getraute. Jesse war eher der stille Melancholiker, der Vorsichtige, der sich stets sorgte, was weiter nicht erstaunlich war, hatte er doch den ganzen Tag über mit Menschen zu tun, die Kredite nicht mehr bedienen konnten und ihre Existenzgrundlage verloren. Ruth war das pure Gegenteil von Jesse. Sie schlug gerne über die Stränge, war gesellig und trank hie und da ein Gläschen zu viel. Sie liebte Süsses, was sich in ihrer Ru­ben’schen Taille niederschlug und inmitten all dieser abgemagerten Menschen fast einer Provokation gleichkam. Mit ihrer Unbekümmertheit und unerschütterlichen Lebensfreude hatte sie ein bisschen Sonne in Jesses eintöniges Leben gebracht. Sie stammte aus dem Hinterland von Topeka, dem einstigen Knotenpunkt der Santa-Fe-Eisenbahn. Während der Grossen Depression suchte man nicht die grosse Liebe, sondern Sicherheit, ging ein Joint Venture gegen die Widrigkeiten des Schicksals ein. Ruth konnte es immer noch nicht fassen, dass sie dank Jesse einem tristen Alltag in Armut entkommen war. Sie hatte ihn schätzen gelernt oder zumindest das bessere Leben, das er ihr bot, und sie glaubte fest daran, dass daraus Liebe entstehen könnte. Und wenn Ruth Warren an etwas glaubte, dann war das so. Der neue Ford V8 Deluxe Fordor Sedan lautete auf ihren Namen.

Zur gleichen Zeit befand sich die gleichaltrige Bonnie Parker auf der Flucht vor dem Sheriff von Bienville Parish im Norden von Louisiana. Der 38jährige Gesetzeshüter hatte sich geschworen, dass er nicht ruhen würde, bis er diese Göre und ihren Schulbuben Clyde, beide aus Texas, hinter Gitter gebracht hatte. Bonnie stammte aus dem kleinen Kaff Rowena südwestlich von Dallas. Am Dorfeingang prangte ein Plakat: Nigger, lasst euch hier nicht blicken. Vor der Wirtschaftskrise war Bonnies Vater noch ein gefragter Bauhandwerker gewesen, der seiner deutschen Ehefrau Emma, einer leidenschaftlichen Baptistin, den gesellschaftlichen Rang ermöglichte, den sie in ihrer kleinen Welt einforderte. Emma hatte grosse Pläne für ihre drei Kinder, insbesondere für ihre energiegeladene Tochter Bonnie, die kein Fettnäpfchen ausliess und sich jeweils diebisch über die Empörung ihrer Mitmenschen freute. Diese wohlbehütete Welt zerbrach im Jahre 1914, als Bonnies Vater plötzlich verstarb. Die Mutter zog mit ihren drei Kindern in einen Vorort von West Dallas, einem Elendsquartier, wo Menschen nachts wie Lumpen auf morschen Bretterböden herumlagen und sich mit Kleinkriminalität über Wasser hielten. Zeltdörfer säumten die matschigen Wege, Schulen und Geschäfte waren geschlossen, die Menschen standen Schlange für Brot und Arbeit, in einigen Branchen waren 80 Prozent arbeitslos. Hier herrschte Anarchie. Fast jeder hatte Probleme mit der Polizei oder der Justiz. Beamte waren verhasst, sie repräsentierten ein System, das ihnen ein würdevolles Leben verunmöglichte, und man freute sich klammheimlich über jeden, der ihnen ein Schnippchen schlug. Man hielt diese Outlaws nicht für Gangster, sondern für Banditen, für Rebellen, für Helden des verarmten Amerikas.

Die zierliche Bonnie taugte nicht zur Heldin, sie wollte ein Star sein. Doch von West Dallas nach Hollywood war es ein weiter Weg. Mit jedem Tag wurde sie schöner und attraktiver, jeder Schuljunge wollte ihr Freund und Beschützer sein. Bonnie genoss es, begehrt zu werden. Sie war kleingewachsen und von zierlicher Statur, aber ihre Ellbogen waren aus Stahl. Gekonnt setzte sie sich in Szene, spielte Klavier, sang nicht ohne Talent, schrieb Gedichte, gewann sogar einen Literaturwettbewerb. Sie wollte um jeden Preis berühmt werden wie die frechen Flapper Girls auf den Hochglanzmagazinen, die rauchten, tranken, sich schminkten, Jazz hörten und mit kurzen Röcken und Bob-Haarschnitten Männer um den Verstand brachten. Das einzige, was ihr zum Flapper Girl fehlte, war Geld. Bereits mit fünfzehn kratzte sie ihr mühsam Erspartes zusammen, um sich von einem Fotografen ein Starfoto machen zu lassen.

Auch ihr Schulfreund Roy Thornton sah verdammt gut aus, er war ein harter Bursche mit kantigem Gesicht und stechenden Augen, er hatte Charme und Humor, war geachtet und gleichermassen gefürchtet. Mit ihm legte sich niemand an, und jede Frau wünschte sich einen solchen Kerl als Freund und Beschützer, und es sollte etwas heissen, dass er ausgerechnet diese kleingewachsene Bonnie auswählte. Sie war 16 und wollte ihn gleich heiraten. Ihre Mutter war vehement dagegen, sie mochte diesen jungen Mann nicht. Seine feinen Anzüge und die Art und Weise, wie er lässig in seinem schnittigen Sportwagen vor dem Haus parkte und auf ihre Tochter wartete, bereitete ihr Sorgen. Woher hatte dieser Roy das viele Geld? Schliesslich gab sie Bonnies Drängen nach, wie sie ihr ganzes Leben lang ihrem Lieblingskind nachgegeben hatte. Bonnie und Roy heirateten im Dezember 1926. Nach drei Jahren war Bonnies Körper übersät mit blauen Flecken und Blutergüssen. 1929 kam Roy für fünf Jahre hinter Gitter. Nicht wegen häuslicher Gewalt. Bonnie hätte ihn nie im Leben angezeigt. Roy sass wegen Raubmord.

Bonnie begann einen Job in Marco’s Café an der Hauptstrasse nach Downtown Dallas. Hier lebten «die andern», die Reichen, die sich Dinge leisten konnten, die sie nur vom Hörensagen kannte. Hier sass das Geld lockerer als in anderen Cafés, und mit ihrem unwiderstehlichen Charme kriegte sie auch wesentlich mehr Trinkgelder. Doch auch diese Bar ging bankrott. Für Bonnie lagen die Blitzlichter von Hollywood nun in noch weiterer Ferne. Zur notorischen Langeweile gesellte sich existentielle Not. Bonnie glaubte, sie hätte Besseres verdient: zum Beispiel Clyde Barrow. Es war erneut Liebe auf den ersten Blick. Sie traf ihn an einem sonnigen Frühlingstag im Jahre 1930 in einem Café ausserhalb von Downtown Dallas.

«Verheiratet?», nuschelte Clyde, als Bonnie ihm einen Gin mit Orangenlikör, Limetten- und Cranberrysaft über den Tresen schob. Er warf einen Blick auf ihren Ring und hob fragend die Brauen. Bonnie zuckte die Achsel: «Roy Glenn Thornton, vielleicht sagt Ihnen der Name etwas.»

«Sollte man ihn kennen?»

«Er sitzt wegen Mordes im Gefängnis.»

«Und Sie tragen immer noch den Ehering?»

«Er war kein guter Ehemann, aber er war mein Mann. Ich hatte kein gutes Leben, aber hinter dem Tresen ist es auch nicht besser. Aber wenigstens kriegt man hier keine blauen Flecken.»

Clyde Barrow nickte und nahm einen Schluck.

«Und Sie?», fragte Bonnie, «was macht ein Mann in einem derart schicken Anzug?»

«Ich stehle Truthähne, knacke Tresore und überfalle Drogerien. Ab und zu logiere ich im Knast.»

Bonnie lachte: «Und in Ihrer Freizeit?»

«Ich fahre meinen neuen Ford Cabriolet spazieren. Die einen haben einen Hund, ich mag Autos, Waffen, mein Saxofon und hübsche Frauen, Frauen wie Sie.»

Bonnie reagierte amüsiert.

«Es gibt zwei Sitze in meinem Cabriolet. Einen für den Fahrer, da sitze ich, und dann gibt es noch einen zweiten Sitz, den Beifahrersitz», Clyde grinste, «und der ist noch frei.»

Bonnie lachte: «War das eine Einladung?»

Wenig später rasten Bonnie & Clyde über staubige Landstrassen über das texanische Hinterland.

«Das war sehr leichtsinnig von Ihnen, alles hinzuschmeissen.»

«Ich mag es so», antwortete Bonnie und genoss den frischen Fahrwind, «ich bin nicht für ein normales Leben gemacht. Das Leben ist kurz, sagt meine Mutter, kürzer, als man denkt.»

Clyde riss das Steuer herum, nahm einen schmalen Feldweg, der direkt in den Wald führte. Dann trat er kräftig auf die Bremse. Noch bevor der Wagen ganz zum Stehen gekommen war, fielen sich die beiden in die Arme und küssten sich, als hätten sie ihr Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Clyde hatte in ihr ein Feuer entfacht, er hatte das gewisse Etwas, das sie magisch anzog, er war selbstbewusst, gutaussehend, etwas mager und kleingewachsen, aber das war sie auch: 160 cm gross, 50 Kilos. Clyde, das war ein Versprechen auf ein anderes Leben fern aller bürgerlichen Konventionen, und für Clyde war Bonnie von Anfang an die Frau, nach der andere junge Männer ein Leben lang suchen.

Wenig später landete Clyde wegen eines Raubüberfalls erneut hinter Gittern. Für Bonnie folgte wieder ein Leben ohne Highlights, zwei trostlose Jahre hinter einem anderen Bartresen. Sie hätte sich glücklich schätzen können, denn für eine freie Stelle bewarben sich rund fünfzehntausend Leute. Es gab einen Gast, der ihr den Hof machte, der Postbeamte Ted Hinton. Er sagte, er habe sich als Hilfssheriff beworben, das sei besser bezahlt. Das genügte Bonnie nicht. Ted Hinton war nett, aber kein Macher, der anderen sagt, wo’s langgeht. Bonnie sehnte sich nach Glamour, Ruhm und Action, nach frechen Abenteuern und Applaus. Mit ihrem Clyde.

Clyde Barrow war das dritte von acht Kindern, die im ländlichen Hinterland auf einer Farm aufwuchsen. Sie hatten weder fliessendes Wasser noch Strom. Vater Henry konnte weder lesen noch schreiben. Als Clyde zwölf Jahre alt war, gab Henry Barrow den landwirtschaftlichen Betrieb auf. Irgendwie war alles schiefgelaufen. Alles, was er später anpackte, ging schief. Das Elend schweisste die Familie zusammen, das blieb so bis zum bitteren Ende und wurde allen zum Verhängnis. Die Barrows waren gottesfürchtig, aber Gott schien kein Interesse an ihnen zu haben. Nach Henrys Beerdigung packten sie ihre Habseligkeiten auf einen Pferdewagen und zogen nach Dallas, nach West Dallas, dem verruchtesten Viertel der Stadt. Hier hielt sich niemand an das Gesetz. Kriminellsein war kein Makel, es gab keine anderen Möglichkeiten, um zu überleben. Man bestahl sich nicht gegenseitig, denn keiner hatte etwas, das sich zu stehlen lohnte, man ging nach Downtown Dallas, wo die Reichen und Mächtigen in ihren Villen residierten. In West Dallas schliefen die Barrows zusammengepfercht in ihrem Pferdewagen unter einer Brücke inmitten von streunenden Hunden.

Clyde wurde älter und entdeckte das weibliche Geschlecht. Er liebte nicht nur schnelle Autos, sondern auch Waffen, immer wieder Waffen, er liebte diese so sehr, dass er ihnen allen einen Namen gab. Mit 16 kaufte er sich einen zwanzig Dollar teuren Anzug, obwohl er als Verkäufer bei der Brown Cracker & Candy Company lediglich einen Dollar am Tag verdiente. Von da an sah man ihn nie mehr ohne Anzug. Jeder Tag sollte ein Sonntag sein. Clyde sprühte vor Energie und Unternehmergeist, und kaum jemand zweifelte daran, dass er eines Tages in einer New Yorker Band Saxofon spielen würde, denn dieses Instrument gehörte zu ihm wie Herz und Nieren. Niemand fragte ihn, womit er seinen aufwendigen Lebensstil finanzierte. Anfangs hatte Clyde seiner geliebten Mutter einen Truthahn geschenkt, den er angeblich auf der Strasse aufgelesen hatte. Fleisch war in den Slums eine Seltenheit und entsprechend begehrt und teuer. Die Polizei kam Clyde schnell auf die Schliche und ermahnte ihn. Doch am nächsten Tag stahl er Hühner, in der darauffolgenden Woche bereits eine ganze Ladung zusammen mit seinem älteren Bruder Buck. Clyde dachte, er täte etwas Gutes, und die Strafen waren so milde, dass sie niemanden abschreckten. Irgendwann wurde aus dem Hühnerdieb ein Autodieb. Wer früher draussen im Farmland Pferde stahl, knackte jetzt Autos, spritzte sie neu und versah sie mit einem neuen Nummernschild. Für jedes verhökerte Automobil kassierte er 100 Dollar, das war in etwa das Monatseinkommen eines Regierungsangestellten, damit hätte man eine elektrische Waschmaschine kaufen können. Nach einem Überfall auf eine Drogerie in Oak Cliff wurde Clyde erneut verhaftet. Man lastete ihm über 100 Straftaten an. Die «Waco New Tribune» verspottete ihn als «Clyde Schulbub Barrrow», andere schrieben «Wacos dümmste Banditen». Der Richter gab Clyde eine zweite Chance. Er nutzte sie nicht. Immer wieder kam der Autonarr hinter Gitter. Bis er Bonnie kennenlernte. Als er erneut verhaftet wurde, schmuggelte sie eine Waffe ins Gefängnis und verhalf ihm so zur Flucht. Von da an waren die beiden unzertrennlich. Es war der Beginn der Legende von Bonnie & Clyde. Man schrieb das Jahr 1932.

Die beiden stahlen Autos, überfielen Tankstellen, Lebensmittelgeschäfte und Banken. Oft erbeuteten sie kaum Bargeld, weil das Geldinstitut bereits Stunden zuvor ausgeraubt worden war. Nachts parkten sie in Wäldern und schliefen in ihrem Auto. Clyde hatte stets sein Saxofon dabei, Bonnie ihre Schreibmaschine. Am 1. August ging etwas schief. Clyde erschoss auf der Flucht zwei Sheriffs. Bonnie sandte den Medien ein Gedicht mit der Zeile «Und wer ihnen droht, den findet man tot». Auf einer ihrer überhasteten Fluchten liessen sie ihren Kodak-Fotoappparat liegen. Die Polizei übergab Abzüge an die Presse. Im April 1932 druckte der «Joplin Globe» als erste Zeitung die Bilder. Sie zeigten eine freche Bonnie mit Zigarre im Mund und Maschinengewehr und einen Macho, der selbstbewusst in die Kamera grinste. Das war der Auftakt zu einer stillen «Medienpartnerschaft». Fortan belieferte das Verbrecherduo die Medien mit ironischen Beiträgen und Bonnies Gedichten. Die Leserschaft fand Gefallen an den beiden, die sich dem verhassten System widersetzten. Weniger Gefallen an diesem Medienhype fand Miriam A. Ferguson, die neugewählte und erste weibliche Gouverneurin des Bundesstaates Texas. Die resolute Frau machte Richard A. Schmid, den alle Smoot nannten, zum neuen Sheriff von Dallas County. Sein Vorgänger war erschossen worden. Als erste Handlung stellte Smoot eine Reihe neuer Hilfssheriffs ein, darunter auch den 29jährigen Postbeamten Ted Hinton. Bereits wenige Tage nach Amtseinführung umstellte Smoot mit seinen Hilfssheriffs das Haus von Bonnies Schwester. Clyde erschoss auf der Flucht zwei Beamte. Schon wieder.

Im April 1932 präsentierte Henry Ford den neuen Ford V8 Deluxe Fordor Sedan. Die Vorstellung stiess auf ein gewaltiges Publikumsinteresse, da Ford erstmals einen Motor mit acht Zylindern gelungen war. Der V8 prangte auf den Titelseiten der Zeitungen, war Thema in den Wochenschauen und wurde in Radiosendungen gefeiert.

Auch im Hause Warren wurde diskutiert. Wie jeden Sonntag assen die frischvermählten Ruth und Jesse bei den betagten Warrens zu Mittag und setzten sich nach dem Essen vor das klobige Radiomöbel. In den USA stritt der Demokrat Roosevelt mit dem amtierenden republikanischen Präsidenten Hoover um die Präsidentschaft. Hoover wurde vorgeworfen, er gestehe den Millionen verarmten und hungernden Menschen lediglich das Recht zu, «auf eigenen Beinen stehend zu sterben». Es gab noch andere Themen, die Amerika faszinierten: Bonnie & Clyde und der neue Achtzylinder von Ford.

«Jesse, wäre das nicht ein Automobil für dich?», fragte Ruth, als sich ihre Schwiegereltern zu einem Mittagsschlaf zurückgezogen hatten, «wenn du vor der Bank parkst, sollten die Leute sagen: Seht, das ist das Automobil von Jesse Warren.»

Jesse schüttelte kaum merklich den Kopf: «Ruth, die Menschen machen uns für ihr Elend verantwortlich. In diesen Zeiten sollte man nicht mit seinem Reichtum prahlen.»

Ruth verdrehte die Augen: «Wieso kaufst du dir nicht ein Fahrrad?»

Jesse warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

«Du hast mich kürzlich gefragt, was ich mir zu unserem Hochzeitstag wünsche.» Ruth hob die Zeitung hoch, auf deren Titelblatt war der V8 von Henry Ford abgebildet.

«No money, no honey?», fragte Jesse leise. Er schien betrübt, denn er wusste in­stinktiv, dass er Ruth nachgeben würde.

Auch Bonnie & Clyde hatten das Autoradio aufgedreht. Sie schliefen abseits der Zivilisation in ihrem mittlerweile vermüllten Auto und hörten den Hit «Good Night, Sweetheart» von Wayne King und seinem Orchester. Der Radiomoderator zitierte den enthusiastischen Kommentar einer Automobilzeitung, nannte den V8 einen Luxuswagen, der auf der Fahrbahn klebe wie noch kein Fahrzeug zuvor. Er sei schneller als jedes Polizeiauto.

Bonnie & Clyde nickten sich zu und grinsten über beide Ohren.

1933 wurden in den USA über 50 000 Banküberfälle verübt und über 12 000 Raubmorde begangen. Der ganze Zorn und Hass entlud sich auf die Beamten von Justiz und Polizei, die man nicht mehr als Menschen wahrnahm, sondern als Teil eines menschenverachtenden Systems. Täglich verfolgte die Leserschaft mit Schadenfreude das Katz-und-Maus-Spiel der beiden Teenager. Sie sahen in ihnen zwei an ihrem Leben Verzweifelte, die nichts mehr zu verlieren hatten. Sie waren ein bisschen so wie sie selbst. Strandgut. Bonnie & Clyde erhielten den Ruhm, den sie sich immer gewünscht hatten. Doch nicht Saxofon und Schreibmaschine machten sie zu Celebrities, sondern ihre bedingungslose Liebe. Wer wünschte sich nicht einen Partner, der unerschütterlich an seiner Seite stand? Bonnie verfasste einen Brief an den neugewählten US-Präsidenten Roosevelt, «Wir sind arm, aber wir sind Menschen», und schickte eine Kopie an die Presse. Die Medien machten aus den beiden Kriminellen glamouröse Medienstars.

Auch Ruth Warren konnte sich aufgrund ihrer Herkunft mit den beiden identifizieren und machte keinen Hehl aus ihrer Faszination. Jesse hingegen hielt das Verbrecherpaar für Abschaum, er sagte dem Killerduo ein böses Ende voraus, entweder auf dem elektrischen Stuhl oder in einem Kugelhagel. Ruth widersprach: «Sie sind nicht so dumm, Jesse. Sie operieren stets entlang der Bundesstaaten, weil kein örtlicher Sheriff die Grenze überschreiten darf. Ist das etwa nicht clever?»

«Das wird sich bald ändern», entgegnete Jesse, «da sie in mehreren Bundesstaaten Morde begingen, ist es nun ein Fall für das FBI. Die haben Frank Hamer rekrutiert, einen pensionierten Captain der Texas Rangers. Mein Vater weiss noch, wer Frank Hamer ist, eine Legende! Als Sheriff erschoss er 54 Outlaws. Und ohne ihn würde der Ku-Klux-Klan noch heute Unschuldige lynchen.»

Als Ruth und Jesse zwei Jahre später, man schrieb das Jahr 1934, das Areal von Mosby-Mack Motors in ihrem fabrikneuen Ford V8 Deluxe Fordor Sedan verliessen, platzten sie beinahe vor Stolz. Jesse genoss im Stillen und doch war es ihm ein Bedürfnis, das Automobil zuerst seinen Eltern zu zeigen. Auch als Erwachsener sehnte er sich weiterhin nach ihrer Anerkennung. Für Ruth wurde es ein Fulltimejob. Endlich konnte sie allen, die sie bisher belächelt und geringgeschätzt hatten, zeigen, zu was sie es gebracht hatte. Am 29. April parkte Ruth ihren V8 vor dem Haus ihrer Schwester Sue. Eine halbe Stunde später war der Wagen wie vom Erdboden verschwunden. Bonnie & Clyde hatten ihn gestohlen. Ruth hatte in der Euphorie den Schlüssel steckenlassen. Es sei halt ihr erstes Automobil, erklärte sie Jesse später, sie sei das nicht gewohnt.

Illustration von Julius Maxim.

«Weil es in deinem Leben nie etwas gab, das sich zu schützen lohnte», rief Jesse ungewöhnlich laut. Er schalt Ruth ein dummes Mädchen, das mehr Titten als Hirn besässe, und wurde erstmals in ihrer Beziehung unflätig. Der berufliche Aufstieg hatte Jesse verändert, so kannte ihn Ruth gar nicht. Sie war untröstlich. In den nächsten Tagen wurde es still bei den Warrens. Der Diebstahl war gemeldet, die Versicherung würde bezahlen, aber was Jesse zusetzte, war der stille Spott, dem er in der Bank ausgesetzt war. Die nackte Schadenfreude. Ruth versuchte sich jeweils am Abend wieder anzunähern, kochte Jesses Lieblingsmenüs, aber Jesse war der Appetit vergangen. Als sie sagte, die Polizei sei zuversichtlich, dass der Wagen wieder gefunden würde, schrie Jesse: «Aber in welchem Zustand!» Dabei schlug er derart auf den Tisch, dass die Gemüsesuppe über den Tellerrand schwappte.

Vier Wochen später erhielt Ruth ein Ferngespräch der Associated Press in Dallas. Es war der 23. Mai 1934, ein schöner Frühlingstag, an dem die Warrens ihr Automobil besonders vermissen würden. Der Anrufer fragte Ruth nach der Fabrikationsnummer des gestohlenen Fahrzeugs.

«649198, das Kennzeichen ist Kansas 3-17832», antwortete Ruth. Jesse hatte die Nummern auf einen Zettel geschrieben und auf den Sekretär unter dem Wandtelefon gelegt. Für alle Fälle.

«Okay», sagte der Anrufer, «Clyde Barrow und Bonnie Parker sind soeben am Louisiana Highway in Dallas erschossen worden. In Ihrem Ford, Frau Warren.»

Bevor Ruth etwas sagen konnte, hatte der Anrufer bereits wieder aufgelegt. Ihr schien, dass am anderen Ende der Leitung eine Menge Leute anwesend waren. Sie rief sofort Jesse an. Er schwieg eine Weile, dann sagte er mürrisch, der Wagen bräuchte jetzt wohl eine gründliche Reinigung. Die Zeitungen meldeten, dass der Hilfssheriff Ted Hinton, der Postbeamte, der sich einst in Bonnie verliebt hatte, das Verbrecherduo identifiziert hatte und Teil der Truppe war, die den V8 mit 167 Kugeln durchsiebte. Jesse rief den Sheriff Henderson Jordan von Dallas County an und fragte, wann er den Wagen abholen könne. Der Sheriff wehrte ab, es hätten sich unzählige Eigentümer gemeldet, er müsse das alles sorgfältig abklären. Erst nachdem die Warrens einen Anwalt genommen hatten, rückte Henderson Jordan das blutverschmierte Fahrzeug heraus. Die Warrens parkten es vor ihrem Haus in der Gabler Street. Kaum hatten sie die Haustür hinter sich geschlossen, versammelte sich eine Meute Schaulustiger auf der Strasse, einige versuchten, einen Fetzen Stoff aus dem Sitzpolster herauszuschneiden. Zornig trat Jesse auf die Strasse hinaus, Ruth rief die Polizei, die das Automobil umgehend in ihrem Depot in Sicherheit brachte. In den nächsten Tagen meldeten sich zahlreiche Medienleute, aber auch Sammler und Geschäftsleute. Schliesslich vermieteten die Warrens ihren V8 für stolze 200 Dollar im Monat. Der erste Mieter war John Castle von «United Shows». Er wollte das von Kugeln durchsiebte Fahrzeug auf Messen ausstellen und Eintritt verlangen. So weit der Plan. Er ging bankrott. Die Warrens benötigten erneut einen Anwalt, um ihren V8 zurückzukriegen. Der nächste Mieter war der Schausteller Charles Stanley. Auch er ging bankrott. Jesse war ausser sich vor Wut. In der Bank gab es Turbulenzen, die Nerven lagen ohnehin seit Wochen blank. Jesse wollte dieses verfluchte Automobil nicht mehr sehen, doch Ruth wollte den Ford unter keinen Umständen verkaufen. Irgendwie hatte sie einen Narren an der Story von Bonnie & Clyde gefressen.

«Ich werde wohl nie verstehen, was dich an diesem Abschaum fasziniert», ärgerte sich Jesse immer wieder.

«Die Liebe, Jesse, die Liebe, ein Pärchen, das bedingungslos zusammenhält, gemeinsam gegen das Schicksal aufbegehrt. Clyde hatte ursprünglich lediglich einen Truthahn für seine Mutter gestohlen. Die Justiz hat ihn zum Monster gemacht.»

«Ach, jetzt hast du noch Mitleid mit ihm? Ruth, Clyde war ein Schwerkrimineller, der einem Polizisten aus nächster Nähe das Gesicht wegschoss. Von mir aus hätten sie so viele Autos stehlen können, wie sie wollen. Aber nicht unseren V8! Was willst du jetzt mit diesem Schrotthaufen machen? Am Sonntag in die Kirche fahren? Soll ich etwa damit vor der National Bank parken? Ruth, ich will dieses Automobil nicht mehr sehen, weder vor meinem Haus noch in meiner Garage.»

«Dann parke ich den Wagen woanders.»

«Souvenirjäger werden dir über Nacht jede Schraube stehlen. Falls du mich also heute Abend ärgern wolltest, ist dir das bereits gelungen.»

Auch die Beziehung der Warrens glich allmählich dem durchsiebten V8. Beide hatten einander mittlerweile so oft verletzt, dass ein Kompromiss kaum mehr möglich war. Jesse appellierte immer wieder an Ruths Vernunft: «Morgen erinnert sich kein Mensch mehr an Bonnie & Clyde, die Menschen haben kein Gedächtnis, deshalb lernen sie nichts aus den Fehlern der andern!»

Ruth hielt dagegen: «Ich werde nicht aufgeben, Jesse. Das ist nicht meine Art. Sonst wäre ich heute noch in den Slums von West Dallas.»

Schliesslich stellte Jesse seiner Ehefrau ein Ultimatum: «Entweder ich oder der V8.»

Ruth entschied sich für den V8 und reichte die Scheidung ein.

Sie versuchte weiterhin, das Auto zu vermieten. Doch das Interesse des Publikums liess tatsächlich nach. Die Medien widmeten sich nun den Opfern. Als das Bild einer trauernden Polizistenwitwe am Grab ihres Mannes in der Presse erschien, erlitten Bonnie & Clyde auch den medialen Tod. Völlig entnervt verkaufte Ruth Warren das Auto für 3500 Dollar an einen Geschäftsmann.

Bonnie & Clyde gerieten in Vergessenheit. Bis 1967. Ruth war 57, als der Kinofilm «Bonnie & Clyde» in die Kinos kam. Regisseur Arthur Penn hatte mit Warren Beatty, Faye Dunaway und Gene Hackman eine romantische Gaunerballade inszeniert. Die meisten Medien waren schockiert, dass man diesem Killerduo ein filmisches Denkmal setzte. Die Angehörigen der Ermordeten protestierten, der Film floppte, wurde aus den US-Kinos zurückgezogen und in Europa neu lanciert. Dort war er ein Riesenerfolg. Das ermunterte die Produzenten, es in den USA erneut zu versuchen. Die Ballade gewann zwei Oscars und acht Nominierungen, insgesamt drei Dutzend Preise und galt plötzlich als «Meilenstein der amerikanischen Filmgeschichte». Der «Death Car» war wieder in aller Munde.

In den 1980er-Jahren lag der Preis für den «Death Car» bereits bei einer Viertelmillion Dollar. Gary Primm war der letzte Käufer. Er stellte den V8 ins Untergeschoss seines Hotelcasinos «Whiskey Pete’s» am Las Vegas Boulevard. Für 85 000 Dollar erwarb er noch einen Fetzen des blauen T-Shirts, das Clyde zuletzt getragen hatte. Anfangs konnte er noch Eintritt verlangen.

Illustration von Julius Maxim.

1981 fuhr Ruth Warren in ihrem gebrauchten Ford Escort nach Primm. Die Ortschaft lag etwa 40 Meilen südlich von Las Vegas. Es gab dort nicht viel zu sehen: drei Hotels mit Casinos und ein Fashion-Outlet-Center, ein paar Restaurants, mehr nicht. Sie wollte nochmals ihren Ford V8 Deluxe Fordor Sedan sehen, bevor auch ihre Erinnerung verblasste. Sie war kürzlich 70 geworden. Der junge Mexikaner an der Rezeption wies ihr den Weg zur Ausstellung im Untergeschoss. Der Raum war abgedunkelt und kaum besucht. Nur gerade ein junges Pärchen alberte herum, machte Fotos, Selfies und der junge Mann tat so, als würde er mit einer Maschinenpistole um sich schiessen. Als die junge Frau sah, dass Ruth sie die ganze Zeit über beobachtete, bat sie die stille Besucherin, ein Foto von ihr und ihrem Freund zu machen. Der junge Mann zeigte auf das zerschossene Fahrzeug und fragte Ruth, ob der Wagen das Original aus dem Film sei.

«Das war einst mein Wagen», antwortete Ruth und schaute auf die beiden Schaufensterpuppen, die man vor dem V8 aufgestellt hatte, «das war kein Film, junger Mann, wir hatten den V8 1934 erworben, er hat niemandem Glück gebracht.»

Claude Cueni, fotografiert von Mirko Ries.

«This shit was real?», wunderte sich die junge Frau.

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