Tito Tettamanti im Gespräch
Er hat viele Interessen. Und viele Gesichter. Der Unternehmer Tito Tettamanti hat das Schweizer Establishment aufgemischt. Er wirft sich weiterhin in jede Schlacht, die ihm das Leben bietet. Und in jedes Gespräch. René Scheu hat Tito Tettamanti in Südfrankreich getroffen.
Herr Tettamanti, Sie haben viele Titel: Investor, Kapitalist, Unternehmer, Autor, Parvenu oder «leidenschaftlicher anarcholiberaler Freizeitphilosoph». Wer sind Sie wirklich?
Journalisten geben mir diese Namen, weil sie mir schmeicheln wollen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich all dies wäre! Dann könnte ich sicher sein, mich meiner Lebtage nicht eine einzige Sekunde zu langweilen. Nun, es stimmt immerhin, dass ich mich bemüht habe, verschiedene Interessen zu pflegen – aus einem einfachen Grund: damit ich nicht verkalke.
Eine der genannten Bezeichnungen stammt von Ihnen…
… ja, der Parvenu. Ich vertrete die Auffassung, dass der Parvenu einer ist, der es zu etwas gebracht hat. Entgegen dem landläufigen Verständnis ist der Begriff für mich deshalb positiv konnotiert. Ein Parvenu hat hart gearbeitet, es wurde ihm nichts in die Wiege gelegt.
Der Parvenu ist nach Ludwig von Mises ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaft. Mises schreibt: «In einer Gesellschaft, die auf Stand oder Kaste gegründet ist, ist die Lebensposition eines Individuums festgelegt. Im kapitalistischen System sieht die Sache anders aus. Jedermanns Lebensstellung hängt von ihm selbst ab.» Das klingt gut, ist aber einseitig formuliert. Es braucht zum Erfolg auch Glück.
Ich bin ein überzeugter Verfechter des Kapitalismus, denn er gibt jedem die Chance, seinen Weg zu machen. Aber Sie haben schon recht – man muss manchmal auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Die gute Nachricht ist, dass man Glück erzwingen kann. Je härter man arbeitet, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die richtigen Entscheidungen trifft.
Sie haben nicht nur viel Geld verdient, Sie haben auch verschiedene Bücher verfasst. Sehen Sie sich als intellectuel engagé?
Ich bin jemand, der versucht, seine unternehmerische Tätigkeit mit einem kulturellen Hintergrund zu verbinden. Diese Kombination führt nicht unbedingt zu besseren unternehmerischen Resultaten, aber sie garantiert dem Unternehmer eine höhere persönliche Befriedigung. Man weiss, warum man etwas tut, und das kommt im Leben selten genug vor.
Was genau meinen Sie mit Kultur?
Kulturanthropologisch gesehen, ist alles Kultur, woran der Mensch Hand gelegt hat. Dazu zählt ein Volkslied ebenso wie die heute in Verruf geratenen Mythen, Wilhelm Tell eingeschlossen. Ich dachte freilich eher an Kultur im engeren Sinne von Denken und Lesen. In meiner Tätigkeit versuche ich, unternehmerisches Handeln und sozialphilosophische Kultur zusammenzubringen…
…es geht nicht einfach ums Geldverdienen, sondern auch darum, zu verstehen, was es bedeutet, Geld zu verdienen?
Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Wenn ich Bücher von Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek lese, dann reifen Gedanken heran, die in meinem Unterbewussten weiterwirken und meine künftigen Entscheidungen beeinflussen. Das gibt mir ein Gefühl von Weite und Tiefe, von Tradition und Verbundenheit. Natürlich bin ich es, der die unternehmerische Entscheidung trifft, aber sie hat eine andere Berechtigung, wenn sie mit meiner Lebensphilosophie übereinstimmt.
Wer viele Interessen hat, läuft stets Gefahr, sich zu verzetteln. Mein Vater erinnert mich jedenfalls immer daran, meine Kräfte zu bündeln.
Ihr Vater hat meine Anerkennung, und er hat im allgemeinen zweifellos recht. Doch es gibt verschiedene Lebensphasen. Wenn Sie jung sind und in der Arbeitswelt aufsteigen wollen, geschieht es schnell, dass Sie zum Monomaniac werden. Das ist auch gut so. In Ihrem Fall muss die ganze geistige Energie in die «Schweizer Monatshefte» fliessen, das ist die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg. Aber die Jahre vergehen, der Mensch wird reifer, und es wächst das Bedürfnis zu verstehen, warum man gewisse Dinge tut. Man tut einen Schritt zurück und betrachtet das Leben aus einer globalen Perspektive. Als ich in diese zweite Lebensphase eintrat, habe ich begonnen, mehr Bücher zu lesen und gelegentlich Bücher zu schreiben.
Es ist eine Frage des Alters, aber es ist auch eine Frage des Charakters. Nicht jeder will sich Klarheit verschaffen über sein Tun.
Jeder Mensch macht die beiden Phasen durch, aber nicht jeder gleich. Die Wirtschaft hat es oft versäumt, Rücksicht auf die Lebensphasen zu nehmen. Ein Chairman muss Ruhe ausstrahlen, den Durchblick haben, die globale Sicht pflegen. Der CEO hingegen muss ein Monomaniac sein, konsequent, aber fast eindimensional denken. Die Kombination macht den Erfolg eines Unternehmens aus.
Sie haben beide Phasen durchlebt, aber man hat dennoch den Eindruck, dass Sie sich bis zum heutigen Tag die Eigenschaften des Monomanen bewahrt haben. Was treibt Sie an?
Das gute alte Geltungsbedürfnis! Ich bin ein Terrone aus dem Süden der Schweiz. Die Terroni pflegen Jura zu studieren und eine juristische oder politische Karriere anzustreben, um der Welt zu beweisen, dass sie etwas können. Ich war Tessiner Regierungsrat und Treuhänder. Danach habe ich mein Glück als Developer versucht, aber Developer und Baulöwen haben leider nicht den besten gesellschaftlichen Ruf. Deshalb bin ich später Financier geworden – das klingt raffinierter. Man attestiert dem Financier viel Geschick in Finanzsachen – aber gut, er ist noch immer mit einem Makel behaftet: man hält ihn nicht für sozial verantwortlich. So wurde ich zuletzt Industrieller. Der Industrielle gilt als guter Mensch, ihm begegnet man mit dem nötigen Respekt. Den Zenit schaffte ich, als ich mich entschied, Bücher zu schreiben. Ein intellektueller Industrieller – diese Kombination ist für viele Menschen unwiderstehlich.
Verstehe ich richtig? Sie kokettieren mit der Fremdwahrnehmung?
Das ist Interpretationssache. Sagen wir es so: ich übertreibe, und in jeder Übertreibung steckt ein Funken Wahrheit.
Als Financier tun Sie vor allem etwas: Sie kaufen und verkaufen. Das klingt sehr einfach. Warum ist es so schwierig?
Es ist auch sehr einfach, glauben Sie mir. Das Leben eines Händlers ist das simpelste, was es überhaupt gibt. Aber man muss seinen Ursprung kennen, um es zu verstehen. Wenn Sie erlauben, würde ich gerne ein wenig ausholen…
…nur zu.
Ich halte viel vom Soziologen Max Weber, aber ich glaube nicht, dass er mit seiner These recht hat, der Geist des Kapitalismus sei aus der protestantischen Ethik hervorgegangen. Der Kapitalismus entstand im Italien des 12. Jahrhunderts, als die neue Figur des Mercator die gesellschaftliche Bühne betrat. Der Händler und Geschäftsmann hat die damalige feudale Gesellschaftsordnung gesprengt, die aus drei Schichten bestand: den Laboratores oder Arbeitern, den Bellatores oder Kriegern, den Oratores oder Herrschenden, zu denen die Geistlichen, die Verwalter und die Feudalherren zählten. In diese autarke Welt, die in erster Linie produzierte, um zu überleben, trat der Geschäftsmann ein, der nichts produzierte. Das war ein Skandal. Viele haben ihn deshalb als Parasiten verunglimpft. Dabei haben sie seine wahren Qualitäten verkannt: er hat begonnen, gewinnorientiert zu denken und die kleine autarke Welt des Dorfes oder der Stadt durch Handel zu überwinden. Ich sehe mich in der Nachfolge dieser neuen Figur des Mercators.
Kaufen und verkaufen – was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?
Struktur, Rhythmus und Ablauf von Geschäften unterscheiden sich je nach Branche. Das handeltreibende Universalgenie existiert nicht. Allgemein lässt sich aber sagen: die guten Geschäfte schliesst ab, wer mehr weiss als sein Gegenüber. Ich bin stets davon ausgegangen, dass die anderen Menschen gleich intelligent oder intelligenter sind als ich. Also musste ich mich bemühen, wenigstens besser vorbereitet zu sein als sie. Neben Fleiss und Vorbereitung gibt es einen weiteren wichtigen Faktor, der sich weniger gut trainieren lässt – das Visonäre, die Vorstellungskraft. Sie müssen sehen, wie etwas sein könnte, was noch nicht ist. Und Sie müssen an ihre Vision glauben. Sie brauchen Mut.
Sie haben viel unternommen in Ihrem Leben, und ich habe viele Fragen, zudem ist die Zeit knapp. Erlauben Sie einen Strategiewechsel. Ich liefere Ihnen Stichworte, und Sie sagen, ob Sie etwas mit ihnen anfangen können.
Einverstanden. Sie sind der Gesprächsleiter.
Das erste Stichwort ist «Angoisse». In einem Video-Interview auf Youtube haben Sie einmal gesagt: «Der Unternehmer hat immer die gleiche Angoisse: weiter zu investieren, neue Ideen zu haben, um Reichtum zu schaffen.»
Das ist keine krankmachende, sondern eine stimulierende Emotion. Man muss sie im Bauch fühlen. Der Unternehmer, oder mehr noch der Industrielle, ist nie fertig. Er kann einen Haufen Geld verdienen und bleibt dennoch engagiert. Der Financier hingegen kann am Ende eines erfolgreichen Tages die Rolladen herunterlassen und sich zufrieden zurücklehnen.
«Angoisse» bedeutet auch Angst. Wovor haben Sie die grösste Angst?
Man muss immer ein wenig Angst haben, um nicht unverantwortlich zu handeln. Angst ist eine höchst vernünftige Sache. Hemmend wirkt sie nur dort, wo sie unkontrolliert wuchert und die Vernunft ausschaltet.
Ich wollte eigentlich auf etwas anderen hinaus. Sie haben viel Reichtum geschaffen. Wie gehen Sie mit der Angst um, alles zu verlieren?
Vor vielen Jahren hatte ich einen guten Freund im Tessin, einen hervorragenden 2-Sterne-Koch, Angelo Conti Rossini. In seinen jungen Jahren war er ein überzeugter Kommunist mit revolutionären Absichten; nach dem Prager Frühling schwor er seiner früheren Heilslehre ab und wurde Anarchist. Wir hatten stets geplant, zusammen ein kleines Restaurant auf einer griechischen Insel zu eröffnen. Er sollte in der Küche arbeiten und ich an der Kasse. Verstehen Sie? Ich hatte früher nie Angst, alles zu verlieren, ich hatte immer die Exit-Option, ich wäre bereit gewesen, irgendeine Tätigkeit anzunehmen, um mich wieder nach oben zu arbeiten. Heute, mit dem Alter, wäre das schwieriger. Ich habe mich gut abgesichert. Wenn nicht gerade die Welt untergeht, sollte das Geld reichen.
Sie haben kürzlich in einem Gespräch gesagt, Sie hätten bloss noch zwanzig Jahre zu leben. Ihren Optimismus in Ehren, aber haben Sie keine Angst vor dem Tode?
Der französische Historiker Georges Duby stellte in einem Büchlein «Unseren Ängsten auf der Spur» die menschlichen Ängste vor dem Jahre 1000 und jene vor dem Jahre 2000 einander gegenüber. Vor 1000 fürchteten sich die Menschen vor dem Tag des Jüngsten Gerichts, vor dem Leben im Jenseits. Heute hingegen fürchten wir uns davor, das diesseitige Leben zu verlieren. So gesehen, bin ich ein typischer Zeitgenosse. Ich hänge an diesem Leben, es ist so schön. Das alles zu verlieren, das wäre wirklich sehr traurig. Aber Angst? Nein, es besteht vernünftigerweise kein Anlass, Angst zu haben.
Sie denken nicht über den Tod nach?
Ich bin da völlig pragmatisch. Ich weiss, dass das Leben eines Tages zu Ende ist, mehr gibt es dazu nicht zu sagen, auch dann nicht, wenn ich mir zwei Jahre lang den Kopf darüber zerbreche. Die Römer haben das ebenfalls so gesehen. Sie sagten sinngemäss: das Leben ist ein Krieg, den wir alle verlieren werden, aber man muss jede Schlacht so schlagen, als würde man ihn gewinnen.
Es gab auch sophistische Römer, die versucht haben, den Tod durch Logik aus der Welt zu schaffen: jeden Tag sterben wir ein wenig, und mit dem Tod hören wir auf zu sterben.
Bravo! Bravo! Das klingt gut. Aber es nützt wenig. Auch die begabtesten Rhetoriker sterben.
Nun ein Reizwort – «Establishment».
Eine Gesellschaft braucht in den verschiedenen Bereichen ein Establishment im Sinne einer offenen und intelligenten Elite, die an die Zukunft denkt. Dazu zu gehören ist eine Ehre, aber auch eine Bürde. Ich bin nicht gegen die Existenz eines Establishments, wie mir immer wieder vorgeworfen wurde. Das Problem besteht vielmehr darin, dass es zumeist sehr schnell degeneriert und zu einer Gruppe von machthungrigen Menschen verkommt, die ihre Privilegien schützen und Besitzstandswahrung betreiben.
Sie gehören zu keinem Establishment. Hand aufs Herz – wie gross ist der Schmerz?
Vernachlässigbar. Gewisse Leute in der Schweiz sagen über mich: Nun ja, der Kerl ist intelligent und seriös, aber man kann ihm nicht zu hundert Prozent trauen. In diesem Verhalten zeigt sich die Grenze des real existierenden Establishments: wenn Sie sich nicht integrieren lassen, werden Sie verstossen. Dabei geht vergessen, dass es unruhige Geister braucht, damit sich das Establishment erneuern kann.
Kommen wir zum nächsten Stichwort: «Familie».
Ich gebe kein gutes Beispiel für einen Familienmenschen ab, dafür bin ich zu sehr Individualist. Das Verhältnis zu meinen Töchtern ist gut, auch wenn wir nicht täglich miteinander telephonieren. No news are good news. Nun, das Konzept der Familie scheint mir von fundamentaler Bedeutung zu sein. Familien sind die kleinsten Gemeinschaften des Zusammenlebens, des Tausches und der Empathie.
Sind Sie in einer intakten Familie aufgewachsen?
Mein Vater war Bankangestellter, meine Mutter Hausfrau. Die Familie war sehr intakt, aber Sie müssen wissen, dass ich Einzelkind war. Ich bin der typische egoistische Individualist.
Einzelkinder haben oft Mühe, zu teilen.
Wenn ich teile, so tue ich dies aus Überzeugung, verspreche mir einen Nutzen davon. Wächst man mit Geschwistern auf, so fällt einem das Teilen vielleicht leichter.
Nächstes Wort: «Freizeit». Wie wichtig ist sie Ihnen?
Wenn Freizeit Nichtstun bedeutet, dann bin ich ein Mensch, der nichts mit Freizeit anfangen kann. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich die letzte halbe Stunde nichtstuend verbracht habe.
Ich verstehe unter Freizeit eher jene Stunden, in denen man nicht profitorientiert arbeitet.
Das klingt schon besser. Diese Stunden sind mir sehr wichtig. Ich verbringe sie mit Lesen, mit sportlichen Tätigkeiten oder mit Freunden im Gespräch. Ich schwimme jeden Tag eine halbe Stunde. Gelegentlich gehe ich auch Golf spielen, obwohl ich ein miserabler Spieler bin; man bewegt sich immerhin ein wenig. Einmal im Jahr lade ich ein paar Freunde ein, um die «Titiadi» durchzuführen. Dazu gehören Pétanque, Bogenschiessen, Ping Pong, Töggelikasten und Crocket. Freizeit ist mir sehr wichtig, doch muss sie ein Kriterium erfüllen: sie muss stimulierend wirken.
In Ihrem Universum hat alles einen Sinn, einen Nutzen. A propos: wieviel Zeit bleibt uns?
Fahren Sie fort.
«G» wie «Geduld».
Geduld ist sicher nicht meine grösste Tugend. Die grossen Probleme kann ich einigermassen gelassen angehen, aber bei den kleinen Problemen des Alltags geht mir jede Geduld ab. Über Kleinigkeiten kann ich mich fürchterlich ärgern. Meinen Sekretärinnen schulde ich grossen Dank, weil sie mich vor einem Herzinfarkt bewahrt haben.
«G» wie «Geld».
Ich weiss schon, worauf Sie hinauswollen: Geld und Geist. Diese Gegenüberstellung ist verfehlt. Schauen Sie: Geld ist eine der wichtigsten Erfindungen des menschlichen Geistes. Ohne Geld kein Markt, ohne Markt keine Preise, ohne Preissignale keine Überwindung von Knappheit. Also bitte, wer das Geld schätzt, muss auch den Geist lieben! Im übrigen ist Geld nur ein Mittel, kein Zweck. Ich habe noch niemanden gesehen, der sich zusammen mit seinem Geld beerdigen liess. Deshalb denke ich, dass Menschen, die in ihrem Leben viel Geld verdient haben, einen Teil davon der Gesellschaft zurückgeben sollten.
Wir sind schon wieder beim Tod angelangt. Dazu passt der nächste Begriff: «Gott».
Ich bin Agnostiker. Der italienische Dichter Pietro Aretino, der eine sehr bissige Zunge hatte, schrieb: «Di tutti disse mal fuorché di Christo, / Scusando col dir’, ‹Non lo conosco›.» Das trifft die Sache: weil ich Gott nicht kenne, kann ich nichts über ihn sagen. Der Agnostizismus ist ein eleganter intellektueller Trick, um sich nicht mit Gott beschäftigen zu müssen.
Sie engagierten sich in katholischen Bewegungen.
Ich habe eine Entwicklung durchgemacht und mich darüber auch mit Don Corecco ausgetauscht, einem ehemaligem Bischof des Bistums Lugano, einem hervorragenden Theologen, der vor längerer Zeit jung gestorben ist. Er war einverstanden, dass sich die Existenz von Gott nicht rational beweisen lässt. Entweder man glaubt an Gott oder man glaubt nicht, wobei Option zwei nicht rationaler ist als Option eins. Vielleicht lässt es sich mit dem Glauben einfacher leben. Wer nicht glaubt, ist allein mit seinem Gewissen und muss mit seinem Leben irgendwie zu Rande kommen. Kann sein. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders.
Das Leben eines Agnostikers ist nicht einfach, ebensowenig wie das eines Kapitalisten: «K» wie «Kapitalismus».
Es ist das beste System, um Reichtum für alle zu schaffen. Für den Kapitalismus gilt, was Churchill über die Demokratie gesagt hat: er ist die schlechteste aller Wirtschaftsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind. Die Grundidee ist so einfach wie überzeugend: Kapital wird in zukunftsträchtige Projekte investiert, wobei einige von Erfolg gekrönt sind und andere nicht. Es gibt Gewinner und Verlierer, aber nicht für die Ewigkeit, sondern für den Moment. Marx hatte schon recht, als er die Kapitalisten Revolutionäre nannte. Weil die Menschen jedoch gerne idealisieren, werden sie nicht aufhören, den Traum von der Überwindung des Kapitalismus zu träumen. Bleibt die Hoffnung, dass sie nicht ein weiteres Mal versuchen, den Traum politisch umzusetzen. Dazu zwei Anmerkungen. Erstens: man darf den Kapitalismus nicht mit dem System verwechseln, in dem wir leben. Wir leben längst in einer Art Soft-Sozialismus, in dem der Markt nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und der Staat das Zepter führt. Viele sprechen, gerade in diesen schwierigen Monaten der Finanzkrise, vom Versagen des Marktes und fordern mehr Staatsinterventionen. Das ist intellektuell nicht aufrichtig. Nicht der Finanzmarkt hat versagt, sondern der Staat, der falsche Anreize setzt. Wenn eine Bank damit rechnen kann, dass sie «to big to fail» ist, dann wird sie völlig irrationale Risiken eingehen. Und damit wären wir beim zweiten Punkt angelangt. Der Kapitalismus ist gut, aber zahlreiche Kapitalisten sind schlecht und haben das System in Verruf gebracht. Sie sind geldgierig, dumm, bloss am kurzfristigen Profit orientiert. Sie wollen viel Geld verdienen, ohne Risiken auf sich zu nehmen. Sie wollen den Gewinn privatisieren und die Kosten sozialisieren.
Das nächste Stichwort, das ich mir notiert habe, ist «Neid».
Der Neid ist weitverbreitet. Er beruht auf dem Vergleich: der andere hat, was ich nicht habe, aber haben möchte. Das Fernsehen versorgt die Neidökonomie mit immer neuen Produkten und Gesichtern. In jeder zweiten Sendung ist von einer künstlichen Welt mit reichen und glücklichen Menschen die Rede. Oft gehen dieselben Menschen einige Monate später ins Gefängnis, was aber den Fernsehzuschauern mit Bedacht vorenthalten wird. Man muss, was den Neid angeht, Realist bleiben. Er lässt sich nicht per Dekret abschaffen, deshalb muss man ihn produktiv nutzen, zum Wohle aller. Definiert man die Rahmenbedingungen so, dass der einzelne möglichst viel Freiheit hat, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten, so ist ihm der Neid als Ansporn willkommen. Er will den anderen nicht wegnehmen, was ihm nicht gehört, sondern will erwirtschaften, was er noch nicht hat.
Das wäre dann aber nicht Neid, sondern eher Rivalität.
Das ist eine Definitionsfrage. Lassen wir begriffliche Haarspaltereien.
Also weiter. «S» wie «Schweiz».
Ich fühle mich als Tessiner und erst dann als Schweizer. Ich halte das in einem föderalistischen Staat für eine legitime Position. Die Schweiz ist ein Sonderfall. Ich empfehle jedem die Lektüre des gleichnamigen Buches von Paul Widmer. Wir sind seit ein paar hundert Jahren echt demokratisch; wir sind echt föderalistisch; wir haben zwei Konfessionen und drei Ethnien, die zusammenleben – die Kappeler Milchsuppe ist ein wichtiger Wert; und wir sind echt neutral. Das sind vier wichtige Eigenschaften, die uns auszeichnen und von jedem anderen europäischen Staat unterscheiden. Es wäre leichtfertig, diese historisch gewachsenen Stärken preiszugeben. Sie gehören zu unserer kulturellen DNA.
Die Schweizer sind nicht dafür bekannt, Auseinandersetzung zu lieben: «S» wie «Streit».
Man muss streiten, aber man muss intelligent streiten. Unser Land krankt daran, dass es keine Streitkultur entwickelt hat. Viele Vorschläge werden abgelehnt mit der Begründung, sie seien nicht konkordanzfähig. Was soll das heissen? Wenn Galileo Galilei ein Anhänger der Konkordanz gewesen wäre, hätte er sich mit Kardinal Bellarmino nicht gestritten, und wir wären noch heute davon überzeugt, dass sich die Erde nicht bewegt. Ich habe nichts gegen Kompromisse. Doch muss man zuerst redlich streiten, und am Ende einigt man sich unter Aufbietung von Vernunft und Pragmatismus auf einen guten Kompromiss. Wer ihn aber schon von Anfang an anpeilt, gelangt am Ende bloss zu einem faulen Kompromiss, der niemandem nützt.
«V» wie «Vertrauen».
Prinzipiell muss man allen Menschen vertrauen, sonst wird man paranoid und lebt schlecht. Wenn man jedoch Geschäfte macht, muss man mit seinem Vertrauen äusserst sparsam umgehen.
Wir haben’s gleich geschafft. Es fehlt noch das letzte Stichwort: «Zufall».
Nun ja, gäbe es keinen Zufall, wäre das menschliche Leben langweilig. Obwohl er mir schon oft ein Schnippchen geschlagen hat, bin ich ihm dankbar. Lieber Zufall, es ist schön, dass es dich gibt.
Das Gespräch führte René Scheu. Unser Photograph war – auf ausdrückliche Bitte Tito Tettamantis – ausnahmsweise nicht dabei.
Tito Tettamanti, geboren 1930, ist Anwalt, Unternehmer und Autor. Er machte u.a. in den 1980er und 1990er Jahren mit seinen Engagements bei Sulzer, Saurer und Rieter, später bei Ascom und SIG Holding von sich reden.