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Tischheit und Becherheit sah er nicht

Kurt Steinmann (Hrsg): «Das Leben des Diogenes von Sinope erzählt von Diogenes Laertios». Zürich: Diogenes, 2009.

Diogenes von Sinope lebte in Athen anfangs des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und galt als Philosoph. Doch es war nicht so sehr seine Lehre wie seine Lebensführung, durch die er gewirkt hat und durch die er in Erinnerung ist. So soll er mit Gehstock und einem Rucksack durch die Stadt gewandert sein, an den ein Trinkbecher und eine Essschale gebunden waren, und diese Accessoires, die das anspruchslose und ungebundene Leben suggerieren sollten, wurden zum Kennzeichen des Kynikers, als der er bezeichnet wurde. «Einem, der sagte: ‹Du philosophierst, ohne das geringste zu wissen›, entgegnete er: ‹Wenn ich Weisheit auch nur anstrebe, so ist auch das schon philosophieren.›» Als Kyniker fand er die platonische Begrifflichkeit geradezu geschwätzig und setzte ihr die Einfachheit des Lebens und Denkens entgegen. «Als Platon über seine Ideen einen Vortrag hielt,» heisst es in einer Anekdote, «und die Begriffe ‹Tischheit› und ‹Becherheit› prägte, sagte Diogenes: ‹Was mich angeht, Platon, so sehe ich zwar einen Tisch und einen Becher, eine ‹Tischheit› aber und eine ‹Becherheit› nie und nimmer›. Platon entgegnete: ‹Das ist leicht zu begreifen›, denn Augen, mit denen man Becher und Tisch sieht, hast du zwar, aber Verstand, mit dem man ‹Tischheit› und ‹Becherheit› wahrnimmt, hast du nicht.»

Diogenes soll Bescheidenheit vorgelebt haben und sich als Weltbürger statt Bürger einer Stadt oder eines Staates bezeichnet haben – ein Anarchoexzentriker, der die soziale Konvention und die etablierte Philosophie ebenso wie die politische Macht missachtete. «Als er im Kraneion ein Sonnenbad nahm, trat Alexander an ihn heran und sagte: ‹Erbitte von mir, was du willst›, worauf er antwortete: ‹Geh mir aus dem Licht!›» Das ist eine der berühmtesten Anekdoten, die das Bild des Diogenes von Sinope geprägt haben.

Die Anekdote stammt aus dem sechsten Buch der Philosophenbiographien des Diogenes Laertios aus der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, der einzigen erhaltenen antiken Philosophiegeschichte. Aus diesen Büchern hat der Luzerner Altphilologe Kurt Steinmann die Stellen über Diogenes herausgesucht, übersetzt und zusammengestellt. So wird das Unkonventionelle am Leben des Diogenes und das kynisch Einfache an seinem Denken erkennbar – und darin sieht Steinmann, der 2008 mit einer metrischen Neuübersetzung der Odyssee Aufmerksamkeit erregte, die Aktualität des Diogenes. Viele der Anekdoten thematisieren den Gegensatz zu Platon als eine Auseinandersetzung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Machtbewusstheit. «Als Platon von irgendeinem gefragt wurde: ‹Welchen Eindruck hast du von Diogenes?›, antwortete er: ‹Er ist ein verrückter Sokrates.›».

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

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