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«Tiefbeglückt / frühgestückt»

Der Münchner Kreisselmeier-Verlag muss vor bald fünfzig Jahren ein seltsamer Gemischtwarenladen gewesen sein. 1961 erschien dort beispielsweise «Ihre Hoheit Lieschen Müller. Hof- und Hinterhofgespräche um Film und Fernsehen », 1963 dagegen der letzte, im Exil entstandene Roman von Ernst Weiss. Und zwischen Filmanekdötchen und literarischer Hochkultur hat 1963 auch Walter Rufer mit seinen Schwabinger Tagebüchern […]

Der Münchner Kreisselmeier-Verlag muss vor bald fünfzig

Jahren ein seltsamer Gemischtwarenladen gewesen sein.

1961 erschien dort beispielsweise «Ihre Hoheit Lieschen

Müller. Hof- und Hinterhofgespräche um Film und Fernsehen

», 1963 dagegen der letzte, im Exil entstandene Roman

von Ernst Weiss. Und zwischen Filmanekdötchen und

literarischer Hochkultur hat 1963 auch Walter Rufer mit

seinen Schwabinger Tagebüchern «Der Himmel ist blau.

Ich auch» Platz gefunden.

Der schmale Band enthält gut hundertfünfzig so lakonische

wie amüsante, traurige oder kalauernde Einträge aus

fünf Jahren und war jahrzehntelang praktisch verschollen,

bis die Mitglieder der Münchner Band «Dos Hermanos»

feststellten, dass die Mädels auf ihren Konzerten nichts lieber

hörten als Rufers kurze Notizen aus den frühen Sechzigern,

die ein Brevier der Höhen und Tiefen der Boheme

sind und in Rufer einen geistigen Bruder von Werner Enke

zu sehen erlauben, des Mannes also, der 1968 in dem Film

«Zur Sache Schätzchen» eine noch heute beglückende Lebenskünstlervorstellung

gab.

Wer Walter Rufer war, wusste bei der Neuaufl age des

Buches im Blumenbar-Verlag wohl niemand so recht. Inzwischen

ist immerhin klar, dass er 1931 in Zürich geboren

wurde, sich im München der späten fünfziger Jahre erfolglos

als Schauspieler und Schriftsteller versuchte, in Schwabing

versumpfte, gern mit Otto Sander um die Häuser zog

und 1965 in die Schweiz zurückkehrte, wo er eine Familie

gründete, als Journalist arbeitete und schon 1975 – wohl

wiederum gescheitert – gestorben ist.

Seine kurzen Tagebuchnotizen aus fünf Jahren, in denen

es um das Trinken und das Schlafen, das Schreiben und das

Träumen geht, um eine Liaison mit Marie(chen), um freie

Liebe und fehlendes Geld, um Dichtung und Malerei, in

denen es viele Kalauer und Nonsensgedichte und nur selten

gescheite Refl exionen gibt – diese Notizen bestechen durch

ihre Haltung und ihren Ton weit mehr als durch ihren Inhalt.

Es sind «Scènes de la vie de la bohème» in minimalistischen

Skizzen, artifi zielle Destillate dessen, was sich bei Erich

Mühsam, Franziska zu Reventlow oder Oskar Maria Graf an

Herrlichkeiten über das Schwabinger Bohemeleben fi nden

lässt, mit dem es Anfang der sechziger Jahre freilich nicht

allzuweit her war – man denke weniger an die Schwabinger

Krawalle von 1962 als an ihren Auslöser: das Gitarrenspiel

auf off ener Strasse; man denke an Peter Fleischmanns Dokumentarfilm «Herbst der Gammler» von 1967, der die Hippies

im Englischen Garten porträtierte, vor allem aber Volkes

erschreckende Stimme zu Wort kommen liess.

Die vorgeblich im Laufe von fünf Jahren entstandenen

Notizen Rufers sind sicher in einem Rutsch – an zwei, drei

Wochenenden vielleicht und womöglich aufgrund einer

Wette – niedergeschrieben worden, denn die Textmenge

ist ungemein überschaubar, der Tonfall stets ähnlich, die

Motive variieren kaum, und gegen Ende werden die Ideen

knapp. «Wetten, dass», mag Rufer zu Otto Sander gesagt

haben, «wetten, dass ich mit knappsten literarischen Mitteln

die Essenz der Boheme einfange, sagen wir bis zum

nächsten Ersten?» Und genau das hat er getan.

Das Buch ist eine schöne Entdeckung – auch weil es

die Illustrationen der Originalausgabe übernommen hat,

den traumhaft entspannten, präpsychedelisch anmutenden

Schutzumschlag von Maleen Pacha also und ihre Zeichnung

der Leopoldstrasse am Siegestor. Pacha (Jahrgang 1923) hat,

zumal in den sechziger Jahren, als Set- und Kostümdesignerin

beim Film gearbeitet, unter anderem bei Volker Schlöndorff

s «Der junge Törless» und bei «Wälsungenblut», wofür

sie 1965 den Deutschen Filmpreis für Bau und Ausstattung

bekommen hat. Und in der Eremitenpresse von V.O.

Stomps sind 1963 ihre Illustrationen zu Jens Rehns «Das

neue Bestiarium der deutschen Literatur» erschienen.

Das eigentliche Verdienst der Neuaufl age von Walter

Rufers angenehm leichtgewichtigen Schwabinger Tagebüchern

liegt also womöglich weniger darin, einen Autor wiederentdeckt

zu haben, den man den Mädels gut vorlesen

kann, als darin, einen Anstoss zur Beschäftigung mit der

Münchner Kultur der frühen sechziger Jahre geliefert zu

haben, der Zeit vor Fassbinder, Wenders, Syberberg und

Klaus Lemke also, in der es vermutlich viele aufregende

Funde zu machen gibt.

besprochen von Andreas Heckmann, München

Walter Rufer: «Der Himmel ist blau. Ich auch». München: Blumenbar, 2007.

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