Textfrüchte der Malerei
«Die Musen sprechen nicht miteinander, aber manchmal beginnen sie zu tanzen.» Das Degas-Zitat lässt anklingen, worauf das Buch aus ist: das Wort soll von der Malerei ergriffen werden, und zwar im doppelten Sinn. Ein Schriftsteller lässt sich vom Bild, das er betrachtet, so ergreifen, dass er am Ende selbst, mit seinen Worten, neue Bilder schaff […]
«Die Musen sprechen nicht miteinander, aber manchmal beginnen
sie zu tanzen.» Das Degas-Zitat lässt anklingen, worauf
das Buch aus ist: das Wort soll von der Malerei ergriffen
werden, und zwar im doppelten Sinn. Ein Schriftsteller
lässt sich vom Bild, das er betrachtet, so ergreifen, dass er
am Ende selbst, mit seinen Worten, neue Bilder schaff t;
und indirekt hat damit auch die Malerei das Wort ergriff en.
Zehn Schriftsteller wählten sich je ein Werk aus der Sammlung
Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur und
verfassten einen Prosatext, den sie vor dem Werk und vor
Publikum lasen. Für den Leser des Buches sind nun nicht
nur die Texte versammelt, sondern per Falttechnik ist auch
das farbige Bild so herauszuklappen, dass es rechts neben
den zwei Buchseiten während des Lesens gegenwärtig ist.
Öfter kommt es vor, dass am Anfang das Auswählen selbst
Th ema ist, die Schwierigkeit, sich aus der grossen Sammlung
französischer Kunst des 19. Jahrhunderts zwischen Courbet,
Delacroix, Manet oder Van Goghs «Krankensaal des Hospitals
von Arles» – dieser Titel fi el mehrmals – für ein Bild
zu entscheiden. Doch bemerkenswerter als die Selbstbeobachtung
des Schreibenden sind die Stellen, wo es zur Sache
geht. Etwa bei Peter Stamm, der aus der Perspektive Corots
von einem kleinen Bauernjungen erzählt, wie dieser ihn beim
Malen der Landschaft fragt: «Warum tun sie das Monsieur?
– Die schrecklichste aller Fragen». Lohnend auch der Nachweis
der illusionslosen Aktualität Goyas: Fabio Pusterla liest
das Stilleben mit drei (blutigen) Lachsscheiben als ausgestelltes
nacktes Fleisch, das von dem zeugt, was von der letzten
Wahrheit eines Daseins bleibt, das von der Gewalttätigkeit
der Geschichte beherrscht wird. Friederike Kretzen nähert
sich, etwas verrätselt, über einen Filmemacher dem Maler:
«Van Gogh geht zur Arbeit und triff t Godard: Das Bild wird
kommen in Zeiten der Auferstehung». Nicht allen Autoren gelingen
eine eigenständige Lautmalerei und echte Wortbilder;
trotzdem, die Annäherung an die Werke geht unbeschwert
vor sich – unbeschwert in dem Sinn, dass die Freiheit, ohne
kunsthistorische Diskursregeln sprechen zu können, appetitanregende Früchte trägt. Textfrüchte, die die Farben der Malerei nicht ersetzen, sondern deren Leuchten intensivieren.
besprochen von Anne Tilkorn, Wolfenbüttel
Mariantonia Reinhard-Felice (Hrsg.): «Lautmalerei und Wortbilder».
Zürich: Limmat Verlag, 2006.