
Talia ersetzt die Augen
Die Ausbildung zum Blindenführhund ist anspruchsvoll – für den Instruktor wie für den Vierbeiner. Wichtig für das Tier ist eine klare Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit.
Das Bild vom Hund als treuem Gefährten des Menschen wird heute vor allem vom Hund als Haustier bestimmt: Beagle und Pudel, Bulldogge und Bichon Frisé, Italienisches Windspiel und Dackel gehören zu jeder Klein- und Grossstadt dazu. Das vielbeschworene Band zwischen diesem Tier und dem Menschen ist die wechselseitige Freude aneinander – das vom Menschen initiierte Zusammenleben hat keine Funktion im engeren Sinne. Auf dem Land hingegen wirken Hunde traditionellerweise noch immer als Helfer von Schäfern und schützen die Herde (was angesichts der Ausbreitung des Wolfes immer wichtiger wird), während es sich bei den städtischen Vierbeinern, die einen Arbeitsauftrag erfüllen, vor allem um Spür- oder Rettungshunde handelt, die von der Polizei, dem Zoll und Hilfsorganisationen eingesetzt werden.

Meist etwas im Hintergrund sind hingegen Blindenführhunde, die Menschen, die sehbeeinträchtigt sind, bei der Bewältigung von all dem helfen, was Menschen mit Sehvermögen für selbstverständlich halten. Seit mehr als 50 Jahren bildet die Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil solche Hunde aus. Bei dieser Stiftung handelt es sich um eine von insgesamt vier solcher Institutionen in der Schweiz; landesweit sind etwa 350 dieser Tiere im Einsatz. Zwar haben medizintechnologische Neuerungen dazu beigetragen, dass die Zahl der Blinden kontinuierlich abnimmt. Manche Augenleiden, die zu Zeiten der Schulgründung 1972 noch den Verlust des Augenlichtes ankündigten – Grauer Star etwa –, sind heute gut behandelbar. Dennoch bleiben diese Hunde eine unverzichtbare Stütze. Das gilt auch für die ebenfalls in Allschwil ausgebildeten Assistenzhunde, die beispielsweise Rollstuhlfahrern zur Seite stehen. Diese sind in der Lage, Schubladen oder Türen zu öffnen, Waschmaschinen zu beladen oder auszuräumen, das Licht an- und auszuknipsen oder auch das Telefon zu überreichen.
«Landesweit sind etwa 350 dieser Tiere im Einsatz.»
Die Schule liegt am Waldrand von Allschwil – fast schon in Frankreich –, was den Hunden beste Auslaufmöglichkeiten gewährt und ein guter Kontrast zur Stadt ist, in der sie eines Tages überwiegend tätig sein werden. Bei der Rasse handelt es sich ausschliesslich um Labrador Retriever, die hier selbst gezüchtet werden. Die Welpen kommen im Alter von zehn Wochen zunächst in die Patenschaft ausgesuchter Privatpersonen, die sich für anderthalb Jahre um den jungen Hund kümmern. Dann beginnt die Ausbildung bei einem Instruktor. Neun Monate lernt ein Hund, sich adäquat durch die Stadt zu bewegen, was im Falle der Begleitung einer blinden Person bedeutet: Hindernisse früh zu erkennen und diesen auszuweichen, an jeder Bordkante anzuhalten, vor allem aber Befehle zu erlernen, so dass der hilfsbedürftige Mensch sein Ziel sicher erreicht. Nach erfolgreicher Prüfung kommt ein Hund kostenfrei zu einem blinden oder sehbeeinträchtigten Menschen und verhilft diesem zu mehr Mobilität und Eigenständigkeit, aber auch zu Sozialkontakten. Der Hund bleibt allerdings sein Leben lang Eigentum der Schule, die den Kontakt zu den Hundehaltern bis zuletzt aufrechterhält und diesen etwa Kurse zum Thema «alternde Hunde» anbietet.
Befehle auf Italienisch
Ich treffe Blindenführhundeinstruktorin Barbara Dremelj am Vormittag vor dem Meret-Oppenheim-Hochhaus in Basel, damit sie mir zeigt, wie konkret ausgebildet wird. Mitgebracht hat sie Hündin Talia, eine erst wenige Monate alte Anfängerin. Deren Tag hat schon vor einigen Stunden begonnen: morgens um 7 Uhr mit dem Meuteauslauf auf dem Gelände in Allschwil, wo sich die Tiere für dreissig Minuten ungestört austoben dürfen. Anschliessend kommen sie in den Pflegeraum, wo sie gründlich gebürstet werden und der tägliche Gesundheitscheck der Krallen, Augen und Ohren durchgeführt wird. Danach geht es für die tägliche Lektion in…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1107 – Juni 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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