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Talia ersetzt die Augen
Blindenführhund in spe Zico, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Talia ersetzt die Augen

Die Ausbildung zum Blindenführhund ist anspruchsvoll – für den Instruktor wie für den Vierbeiner. Wichtig für das Tier ist eine klare Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit.

Das Bild vom Hund als treuem Gefährten des Menschen wird heute vor allem vom Hund als Haustier bestimmt: Beagle und Pudel, Bulldogge und Bichon Frisé, Italienisches Windspiel und Dackel gehören zu jeder Klein- und Grossstadt dazu. Das vielbeschworene Band zwischen diesem Tier und dem Menschen ist die wechselseitige Freude aneinander – das vom Menschen initiierte Zusammenleben hat keine Funktion im engeren Sinne. Auf dem Land hingegen wirken Hunde traditionellerweise noch immer als Helfer von Schäfern und schützen die Herde (was angesichts der Ausbreitung des Wolfes immer wichtiger wird), während es sich bei den städtischen Vierbeinern, die einen Arbeitsauftrag erfüllen, vor allem um Spür- oder Rettungshunde handelt, die von der Polizei, dem Zoll und Hilfsorganisationen eingesetzt werden.

Blindenführhund-Instruktorin Barbara Dremelj mit Talia, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Meist etwas im Hintergrund sind hingegen Blindenführhunde, die Menschen, die sehbeeinträchtigt sind, bei der Bewältigung von all dem helfen, was Menschen mit Sehvermögen für selbstverständlich halten. Seit mehr als 50 Jahren bildet die Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil solche Hunde aus. Bei dieser Stiftung handelt es sich um eine von insgesamt vier solcher Institutionen in der Schweiz; landesweit sind etwa 350 dieser Tiere im Einsatz. Zwar haben medizintechnologische Neuerungen dazu beigetragen, dass die Zahl der Blinden kontinuierlich abnimmt. Manche Augenleiden, die zu Zeiten der Schulgründung 1972 noch den Verlust des Augenlichtes ankündigten – Grauer Star etwa –, sind heute gut behandelbar. Dennoch bleiben diese Hunde eine unverzichtbare Stütze. Das gilt auch für die ebenfalls in Allschwil ausgebildeten Assistenzhunde, die beispielsweise Rollstuhlfahrern zur Seite stehen. Diese sind in der Lage, Schubladen oder Türen zu öffnen, Waschmaschinen zu beladen oder auszuräumen, das Licht an- und auszuknipsen oder auch das Telefon zu überreichen.

«Landesweit sind etwa 350 dieser Tiere im Einsatz.»

Die Schule liegt am Waldrand von Allschwil – fast schon in Frankreich –, was den Hunden beste Auslaufmöglichkeiten gewährt und ein guter Kontrast zur Stadt ist, in der sie eines Tages überwiegend tätig sein werden. Bei der Rasse handelt es sich ausschliesslich um Labrador Retriever, die hier selbst gezüchtet werden. Die Welpen kommen im Alter von zehn Wochen zunächst in die Patenschaft ausgesuchter Privatpersonen, die sich für anderthalb Jahre um den jungen Hund kümmern. Dann beginnt die Ausbildung bei einem Instruktor. Neun Monate lernt ein Hund, sich adäquat durch die Stadt zu bewegen, was im Falle der Begleitung einer blinden Person bedeutet: Hindernisse früh zu erkennen und diesen auszuweichen, an jeder Bordkante anzuhalten, vor allem aber Befehle zu erlernen, so dass der hilfsbedürftige Mensch sein Ziel sicher erreicht. Nach erfolgreicher Prüfung kommt ein Hund kostenfrei zu einem blinden oder sehbeeinträchtigten Menschen und verhilft diesem zu mehr Mobilität und Eigenständigkeit, aber auch zu Sozialkontakten. Der Hund bleibt allerdings sein Leben lang Eigentum der Schule, die den Kontakt zu den Hundehaltern bis zuletzt aufrechterhält und diesen etwa Kurse zum Thema «alternde Hunde» anbietet.

Befehle auf Italienisch

Ich treffe Blindenführhundeinstruktorin Barbara Dremelj am Vormittag vor dem Meret-Oppenheim-Hochhaus in ­Basel, damit sie mir zeigt, wie konkret ausgebildet wird. Mitgebracht hat sie Hündin Talia, eine erst wenige Monate alte Anfängerin. Deren Tag hat schon vor einigen Stunden begonnen: morgens um 7 Uhr mit dem Meuteauslauf auf dem Gelände in Allschwil, wo sich die Tiere für dreissig ­Minuten ungestört austoben dürfen. Anschliessend kommen sie in den Pflegeraum, wo sie gründlich gebürstet ­werden und der tägliche Gesundheitscheck der Krallen, Augen und Ohren durchgeführt wird. Danach geht es für die tägliche Lektion in die Stadt.

In der Arbeit mit Hunden hat Dremelj eine Erfüllung gefunden, die sie heute nicht mehr gegen eine andere Tätigkeit tauschen würde. Drei Jahre dauert die «Ausbildung zum Blindenführhundeinstruktor mit eidgenössischem ­Diplom». Die Abschlussprüfung, für die den Anwärtern eine Dunkelbrille verpasst wird, gilt als sehr streng. Dremelj findet das richtig, denn auch ein Hund darf auf keinen Fall Fehler machen – schliesslich würden selbst kleinste Versehen im Strassenverkehr einen blinden oder seh­beeinträchtigten Menschen in Gefahr bringen. Auch der Labrador durchläuft daher eine formale Ausbildung; erst nach dem erfolgreichen Abschluss kommt der Hund zu ­einem blinden Menschen.

Bei den täglichen Lektionen geht es vor allem darum, den Hund an die sehr menschliche Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit zu gewöhnen und ihm beizubringen, sich in keiner Weise vom städtischen Trubel ablenken zu lassen. Talia weiss, dass der professionelle Teil ihres Tages dann beginnt, wenn ihr das offizielle Führgeschirr der Schule umgelegt wird. Von diesem Moment an ist sie vollständig darauf konzentriert, die Kommandos ihrer In­struktorin zu befolgen. Vorgetragen werden diese auf Italienisch, weil sich die Befehle auch für den Hund klanglich von derjenigen Sprache unterscheiden sollen, mit der er üblicherweise angesprochen wird und die ihn ansonsten umgibt. «Brava, Talia», sagt Dremelj, ein Leckerli nach jeder erfolgreich bewältigten Aufgabe überreichend. Bei diesen handelt es sich etwa darum, Türen oder Treppen zu finden, die der Hund dann eigenständig ansteuert. Der Blinde muss sich derweil vollständig auf die Führung durch das ihm anvertraute Tier verlassen können.

Wie an jedem Vormittag ist das Bahnhofsgebäude gerade sehr voll. «Vai, Talia!», sagt Dremelj. Der Hund zieht sofort geradeaus los, jeder Auslage und jedem Koffer ausweichend, während er neugierige Blicke von Passanten auf sich zieht, die sich allerdings überwiegend respektvoll verhalten. Die wichtigste Lektion des heutigen Tages ist, das Einsteigen in einen Zug zu üben. Da Rolltreppen als zu gefährlich für die Blindenführhunde gelten, die sich daran die Krallen ausreissen können, wissen diese, dass sie nur reguläre Treppen ansteuern dürfen. Talia erledigt dies auf die Aufforderung «Scala, Talia!» hin problemlos und führt Dremelj hinab zu den Gleisen. Dort heisst es dann «Porta, Talia!», und auch diesen Auftrag erfüllt sie umgehend. Nicht weniger als dreissig solcher Kommandos beherrscht ein solcher Hund am Ende seiner Ausbildung. Talia beweist schon jetzt eindrucksvoll, wie schnell sie lernt. Vom Gleis findet sie nicht nur den Eingang der SBB-Filiale im Bahnhofsgebäude, sondern dort auch noch den Weg zu einem Schalter.

«Nicht weniger als dreissig Kommandos beherrscht ein Blindenführhund am Ende seiner Ausbildung.»

Die Institution

Für heute reicht es, da der Hund nicht überfordert werden darf. Dremelj nimmt Talia das Führgeschirr ab. Prompt beginnt diese, sich wie ein ­gewöhnliches Haustier zu verhalten. Mit dabei hat ihre Herrin auch noch Zico, einen fortgeschrittenen Rüden in Ausbildung, der mir nach «Feierabend» seiner Kollegin demonstriert, wie Begleithunde Menschen sicher über Zebrastreifen führen. Bevor es zurückgeht, hat Zico allerdings noch etwas zu erledigen. Hierbei handelt es sich um eine Lektion, welche die Allschwiler Hunde früh erlernen und die man allen städtischen Hundehaltern anempfehlen möchte: Den Tieren wird beigebracht, sich so zu versäubern, dass es keine Hinterlassenschaften auf dem Trottoir gibt. Zico macht vor, wie, indem er zielstrebig die Bordsteinkante ansteuert, die von der Strassenreinigung wie vom Regen gut erfasst wird, um dort zu pinkeln.

Zwei auszubildende Blindenführhunde in der Schule in Allschwil, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Dremelj fährt uns nach Allschwil zurück, wo Talia und Zico eine Runde über das Schulgelände tollen, bevor ihnen ihr Mittagessen serviert wird. Sie verbringen hier den Rest des Tages unter Aufsicht der Hundebetreuung, bevor die Hunde am Abend von ihrer Instruktorin nach Hause genommen werden. Für Dremelj, welche die Tiere auch wochenends bei sich hat, bedeutet das nicht nur, einen sehr langen Arbeitstag zu haben, sondern sich auch in hohem Masse mit den Tieren zu identifizieren. «Man muss Hunde lieben, um hier zu arbeiten», sagt Ugo Sprecher, Leiter der Abteilung Zucht und Ausbildung, der seit 1990 an der Schule ist. Er begann zunächst mit der Ausbildung zum Instruktor und arbeitete lang in dieser Funktion. 1996 wurde er in die Leitung Zucht gewählt und wirkt heute als oberster Hundechef. Tatsächlich weist das Team der Schule eine sehr tiefe Fluktuation auf – viele, die hier arbeiten, feiern äusserst runde Jubiläen.

«Assistenzhunde sind in der Lage, Schubladen oder Türen zu öffnen, Waschmaschinen zu beladen oder auszuräumen, das Licht an- und

auszuknipsen oder auch das Telefon zu überreichen.»

Bei Besuchern ist der «Jöö-Effekt» vor allem aufgrund der Welpen hoch, bestätigen die Mitarbeiterinnen der Schule. Über die empathische Begeisterung hinaus zeigt die Institution allerdings, zu welchen Leistungen die Tier-Mensch-Beziehungen führen können und welche Formen von Nähe dabei möglich werden. Für die einen ist das ­eingangs erwähnte besondere Band zwischen Hund und Hundehalter eben die Leine – für Menschen mit Sehbe­einträchtigung hingegen, die auf einen in Allschwil ausgebildeten Blindenführhund setzen, das Vertrauen.

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