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«Talent findet sich überall»

Die Psychologen Camilla Benbow und David Lubinski haben hochbegabte Kinder ihr Leben lang begleitet. Um deren Stärken zu finden, muss man sie frühzeitig beurteilen, und zwar mit standardisierten Tests.

«Talent findet sich überall»
David Lubinski und Camilla Benbow. Bild: Vanderbilt University.

Read the English version here.

Sie beide sind für Ihre wissenschaftlichen Langzeitstudien zur Intelligenz bekannt. Was genau haben Sie untersucht?

Camilla Benbow: Zunächst prüften wir zwölfjährige Kinder mit einem Mathematiktest. Aus ihnen wählten wir für unsere Langzeitstudien Kinder mit herausragenden mathematischen Denkfähigkeiten aus, die Problemlösungen finden konnten, noch bevor sie darin unterrichtet wurden. Später erweiterten wir die Studie um Zwölfjährige mit besonderen verbalen Fähigkeiten. Nach den ersten Tests im Alter von 12 Jahren haben wir ihre Entwicklung weiterverfolgt und ihre Fähigkeiten mit 18, 23, Mitte dreissig und in ihren Fünfzigern dokumentiert. Aktuell warten wir darauf, dass sie 65 werden.

 

Was haben Sie herausgefunden?

Benbow: Wer bei uns teilnimmt, gehört zum obersten 1 Prozent, was die Leistungsfähigkeit angeht. Von ihnen schlagen sich im Allgemeinen alle gut. Aber die Kinder mit den besten Testergebnissen schneiden in Bezug auf Kreativität und berufliche Entwicklung deutlich besser ab als jene am unteren Ende. Besonders bemerkenswert sind die enormen Leistungsunterschiede zwischen dem obersten und dem untersten Viertel innerhalb dieses obersten Prozents.

 

Und Sie haben herausgefunden, dass sich pädagogische Förderung für diese Kinder lohnt.

Benbow: Ja, die Auswirkungen pädagogischer Förderung sind noch Jahrzehnte später nachweisbar. Spezielle Programme im Teenageralter führen zu einer besseren Entwicklung. Diese Jugendlichen erbringen später vielfältige, gesellschaftlich wertvolle und kreative Leistungen. Betrachten wir die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel, Cybersicherheit oder Pandemien: Die Menschen, die diese Probleme lösen werden, kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Gruppe des obersten 1 Prozents. Wenn wir sie bis zu ihrem vollen Potenzial ausbilden, profitiert die gesamte Gesellschaft von ihren Leistungen.

David Lubinski: Lassen Sie mich das konkret machen: Die IQs des obersten 1 Prozents beginnen bei etwa 137 und reichen über 200 hinaus. Dies gilt ebenso für spezifische Fähigkeiten im mathematischen, verbalen und räumlichen Denken. Wir haben die Grenzen des Denkens in Worten, Zahlen und Formen erforscht und können zeigen, wie sich diese individuellen Unterschiede in verschiedenen Karrierewegen widerspiegeln.

 

Zum Beispiel?

Lubinski: Viele Frauen entscheiden sich für Medizin und Rechtswissenschaft. Sie sind keineswegs weniger erfolgreich als Männer – in den USA wurden in den letzten 15 Jahren sogar mehr Masterabschlüsse und Doktortitel an Frauen vergeben. Allerdings wählen sie oft andere Fachrichtungen als Männer. Ein deutlicher geschlechtsspezifischer Unterschied zeigt sich in der Vorliebe für organische versus anorganische Materialien. Mathematisch begabte Frauen bevorzugen häufig wissenschaftliche Tätigkeiten in Biotechnologie, Botanik, Medizin, Entwicklungspsychologie und Veterinärmedizin. Ein prägnantes Beispiel: 80 Prozent der Entwicklungspsychologen auf PhD-Niveau sind Frauen.

«Ein deutlicher geschlechtsspezifischer Unterschied zeigt sich in der

Vorliebe für organische versus anorganische Materialien.»

David Lubinski

 

Frau Benbow, als Sie letzten Sommer in der Schweiz waren, sprachen Sie sich für standardisierte Tests aus, um Fähigkeiten zu erkennen. Warum?

Benbow: Standardisierte Tests minimieren subjektive Vorurteile. Sie ermöglichen Schülern, ihre Fähigkeiten unabhängig ihrer Herkunft und ihrer bisherigen Möglichkeiten unter Beweis zu stellen. Unser Ziel ist es, auch jene Kinder zu entdecken, deren Talente noch verborgen, noch nicht entfaltet sind. Der Test ist wie ein Werkzeug, das uns hilft, diese ungeschliffenen Diamanten zu finden.

 

Der Rapper Jay-Z sagte einmal, dass er seine Karriere einer Lehrerin verdanke: «Eine Lehrerin in der sechsten Klasse sagte: ‹Weisst du, du bist ziemlich intelligent.› Und ich glaubte ihr. […] Sie hat diese Vorstellung in meinem Kopf entfacht.»

Benbow: Ein Lehrer kann einen unglaublichen Einfluss auf die Karriere eines hochbegabten Kindes haben und ihm helfen, an sich selbst zu glauben und Selbstvertrauen zu entwickeln. Allerdings gibt es auch viele Beispiele von Lehrern, die Talente übersehen und behaupten, ein Kind sei nicht begabt und gehöre nicht in eine Förderklasse.

Lubinski: Die Indikatoren, die wir verwenden, korrelieren nur zu 0,4 mit dem sozioökonomischen Status – eine oft unterschätzte Tatsache. Dies zeigt, dass wir ein weites Netz auswerfen müssen, um diese Kinder und ihre Talente zu identifizieren. Talent findet sich überall.

 

Wie ist Ihre Sicht auf das Schulsystem?

Benbow: Das Bildungssystem funktioniert derzeit wie ein Fliessband. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht haben wir ein industrielles Modell übernommen, das Kinder mechanisch durch die Klassenstufen befördert. Es ist ein Problem, das nicht nur hochbegabte Schüler betrifft, sondern alle.

 

In welche Richtung sollten sich Schulen entwickeln?

Benbow: Als grundlegende Prinzipien sind eine entwicklungsgerechte Platzierung und die Personalisierung der Bildung zu nennen. Alle Kinder verdienen es, täglich etwas Neues zu lernen und angemessen gefordert zu werden. Dabei müssen wir aber die individuellen Unterschiede in Fähigkeiten, Leistungen und bisherigen Erfolgen berücksichtigen. Was für ein Kind eine Herausforderung darstellt, kann für ein anderes zu leicht oder zu schwierig sein. Die modernen Möglichkeiten durch KI und Technologie erlauben uns, Bildung individueller zu gestalten. Wenn ein Kind fortgeschritten ist und einen Mathekurs für ältere Schüler benötigt, sollte es diesen auch besuchen können – in einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Klasse, unabhängig vom Alter. Wir brauchen mehr Flexibilität im Bildungssystem: Kinder sollten in ihrem eigenen Tempo lernen und sich vertiefen können. Der Lehrplan muss flexibler werden, sodass wirklich jedes Kind optimal gefördert wird.

 

Was passiert, wenn diese Flexibilität fehlt?

Benbow: Wenn hochbegabte Kinder nicht herausgefordert werden, sondern einfach durch die Schule gleiten und mühelos sehr gute Noten bekommen, lernen sie nicht, wie man lernt. Viele mussten sich nie wirklich anstrengen und haben deshalb keine Lernstrategien entwickelt. Dabei ist genau das unser Ziel: Sie sollen die Schule mit der Fähigkeit zum selbständigen Lernen verlassen. Ausserdem ist es wichtig, dass sie Gleichgesinnte treffen, die ähnlich intelligent sind. Das verhilft ihnen zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Fähigkeiten. In der heutigen Zeit ist das noch bedeutsamer geworden. Da uns Google und ChatGPT beim Abrufen von Fakten unterstützen, müssen Kinder vor allem lernen, wie man Informationen findet und kritisch bewertet. Die zentrale Kompetenz ist das Lernen selbst.

«Viele hochbegabte Kinder mussten sich nie wirklich anstrengen und

haben deshalb keine Lernstrategien entwickelt.»

Camilla Benbow

 

Welche Unterschiede gibt es zwischen durchschnittlich intelligenten Kindern und besonders begabten Kindern?

Lubinski: Stellen Sie sich ein mathematisch begabtes zwölfjähriges Mädchen in der siebten Klasse vor, die sich in der Schule hauptsächlich anpassen muss und sich in ihrer normalen Umgebung unwohl fühlt. Wird sie aber in ein Sommerlager geschickt und kann dort einen kompletten Mathekurs der Oberstufe in drei Wochen absolvieren, muss sie weder ihren Lerneifer noch ihren Wortschatz zurückhalten. Sie ist unter Gleichgesinnten, die ihre Begeisterung fürs Lernen teilen und sie verstehen. Kinder blühen regelrecht auf in solchen Situationen! Es ist für begabte Kinder ausserordentlich wichtig, andere wie sie selbst kennenzulernen. Und zu erfahren, dass es Gleichgesinnte mit ähnlicher Lernbegeisterung und vergleichbaren Fähigkeiten gibt. Sie knüpfen dabei oft lebenslange Freundschaften. Ich vermute auch, dass die Begegnung mit Gleichgesinnten der Entwicklung von Narzissmus vorbeugt.

Benbow: Grundsätzlich hat jedes Kind sein eigenes Fähigkeitsprofil. Alle können Hochleistungen erbringen, aber in unterschiedlichen Bereichen. Manche hochbegabten Kinder scheinen zwar in allem gut zu sein, doch das liegt meist daran, dass sie nicht ausreichend gefordert werden. Gibt man ihnen wirklich anspruchsvolle Aufgaben, zeigt sich meist eine besondere Stärke – entweder in Mathematik, in sprachlichen oder in räumlichen Fähigkeiten. Unsere Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen, ihre Stärken zu erkennen und das zu finden, was ihnen Freude bereitet.

 

Lenore Skenazy, Autorin von «Free-Range Kids», ist der Meinung, dass Eltern heutzutage übertrieben ängstlich seien. Sollten Eltern und auch Schulen Kindern mehr Raum zur Entwicklung geben?

Benbow: Gute Erziehung bedeutet, auf die Kinder einzugehen. Als Gesellschaft sind wir heute zu beschützend. Kinder müssen auch Misserfolge erleben – ohne diese entwickeln sie keine Widerstandsfähigkeit. Natürlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder. Aber zur Entwicklung gehört es auch, aus eigenen Fehlern zu lernen. Oft lernt man die wichtigsten Lebenslektionen gerade aus Misserfolgen. Wir müssen die Kinder fürs Leben stärken, denn – wissen Sie was? Das Leben kann grausam sein.

Lubinski: Manchmal sind wir zu engagiert, wie Eltern eines mathematisch begabten Kindes, die festlegen: «Mein Kind wird Ingenieur.» Natürlich ist es nicht falsch, wenn ein mathematisch begabtes Kind Ingenieur wird. Aber vielleicht hat dieses Kind auch sprachliche Begabungen und eine Leidenschaft für Umweltthemen und den Umgang mit Menschen. Warum sollte es nicht mit Begeisterung Umweltrecht studieren und wertvolles Land in Alaska vor Ausbeutung schützen? Wer kann schon sagen, ob das nicht ein grösserer Beitrag für die Gesellschaft ist als ein Artikel in «Nature» über das physikalische Universum? Wir brauchen Menschen mit verschiedenen Talenten, und wir müssen weiterdenken.

 

Heutzutage üben Eltern enormen Druck aus. Es gibt sogar sogenannte «Tiger Moms», die das Maximum aus ihren Kindern herausholen wollen. Sollten wir nicht alle gelassener an die Kindererziehung herangehen und den Kindern mehr Freiraum in Schule und Privatleben geben?

Benbow: Wir programmieren Kinder heute vermutlich zu sehr. Ich wünsche mir, dass Kinder frei erkunden können und sich ihre Talente natürlich entfalten. Wir sollten ihnen keine bestimmte Richtung vorschreiben: Die Kinder müssen eigenständig lernen, ihre Talente zu entwickeln und Chancen zu ergreifen. Es geht darum, loszulassen und Vertrauen in sein Kind zu haben. Unsere Aufgabe ist es lediglich, sie dabei zu unterstützen, gute Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Das ist das wertvollste Geschenk, das wir ihnen mitgeben können.

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