Taiwan ist auf westliche
Standhaftigkeit angewiesen
Der Angriff auf die Ukraine ist ein mahnendes Beispiel dafür, was Taiwan von Seiten Chinas drohen könnte. Es gibt allerdings auch klare Unterschiede zwischen den beiden Fällen.
Ein Versuch Festlandchinas, Taiwan gewaltsam mit der Volksrepublik zu vereinen, stellt die wahrscheinlichste Ursache für einen grösseren Konflikt zwischen China und den USA im Indopazifikraum dar. Dieser hätte sehr gravierende Konsequenzen für die ganze Welt. Durch die russische Invasion in der Ukraine ist diese Problematik erneut in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Könnte Taiwan bald das gleiche Schicksal wie der Ukraine drohen? Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen den beiden Fällen.
Ähnlich wie Russlands Präsident Putin bei der Ukraine besteht Chinas Präsident Xi darauf, dass Taiwan keine eigene nationale Identität habe, sondern sowohl das Festland als auch Taiwan Teil «einer Familie» seien. Xi hat mehrmals erklärt, dass die Vereinigung mit Taiwan eines der Ziele sei, das unbedingt erfüllt werden müsse, um die «grosse Verjüngung der chinesischen Nation»1 zu erreichen. Mit lebhaften Darstellungen hat er die Bedeutung der Wiedervereinigung weiter unterstrichen: «Wir sind Brüder, die durch Fleisch verbunden sind; auch wenn unsere Knochen gebrochen sind, sind wir eine Familie, deren Blut dicker als Wasser ist.»2
Präsident Putins Narrativ, Russlands «frühere Grösse» wiederherstellen zu wollen, ähnelt Xis Versprechen, eine «Wiedervereinigung mit Taiwan» zu erreichen. Tatsächlich haben diese Aussagen viel mit der Abneigung zweier autoritärer Regime gegenüber den pluralistischen Systemen zu tun, die sowohl Taiwan als auch die Ukraine aufgebaut haben. Taiwans lebhafte Demokratie stellt eine Bedrohung für Chinas Autokratie dar. So wie die Bemühungen der Ukraine, sich dem Westen anzunähern und ihr sowjetisches Erbe hinter sich zu lassen, Putin ein Dorn im Auge sind. Putin und Xi verachten die westliche liberale Demokratie.
Teil eines Abwehrnetzwerks
Taiwan und die Ukraine teilen zudem die Machtasymmetrie zu einem viel grösseren Nachbarn sowie ein historisches und kulturelles Erbe mit ihm. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede.
Erstens hat Taiwan einen immensen geostrategischen und geopolitischen Wert für die USA und deren Verbündete in der Region wie Japan und Australien. Die Insel befindet sich an einer kritischen Schlüsselstelle innerhalb der sogenannten ersten Inselkette vor der ostasiatischen Küste und verankert ein Abwehrnetzwerk von Verbündeten der USA, das sich vom japanischen Archipel bis hinunter zu den Philippinen ins Südchinesische Meer erstreckt und für die Sicherheit der Region sowie für die Verteidigung der US-amerikanischen Interessen im Indopazifik von entscheidender Bedeutung ist. Die Schiffsrouten um Taiwan sind auch für die Versorgung Japans, insbesondere die Einfuhr von Energieträgern und Lebensmitteln, von grundlegendem Interesse. Aufgrund seiner Lage ist die Insel für die geopolitische Strategie der USA viel wichtiger als etwa Afghanistan oder die Ukraine.
Zweitens ist die Beteiligung der USA eine Variabel, die sich in diesen beiden Fällen sehr unterschiedlich auswirkt. Schon vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine hatte Präsident Biden deutlich erklärt, dass Amerika hier nicht eingreifen würde, aber dass es «eine Verpflichtung hat, Taiwan zu helfen». Diesen Satz hat er nach Jahren der «strategischen Ambiguität» zwei Tage nach Beginn des Angriffes auf die Ukraine wiederholt. Das am 11. März 2022 in Kraft getretene US-Haushaltsgesetz enthält ein Verbot der Verwendung «inkorrekter» Landkarten – auf denen Taiwan als Teil Chinas dargestellt wird – für das US-Aussenministerium und dessen Ableger. Dies zeigt deutlich die neue ablehnende Haltung der USA gegenüber Pekings «Ein-China-Prinzip» und ist ein Zeichen dafür, in welche Richtung sich die amerikanische China-Politik entwickelt.3
Der dritte erwähnenswerte Punkt ist das unterschiedliche Verhältnis der beiden Länder hinsichtlich internationaler Verteidigungsabkommen. Da die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, sind ihr die USA und andere Verbündete nicht zum Beistand verpflichtet. Zwar gibt es kein Nato-ähnliches Vertragsbündnis mit Taiwan, aber der Taiwan Relations Act (TRA) der USA von 19794 bildet eine solide Grundlage nicht nur für Waffenlieferungen – die in den letzten Jahren erheblich zugenommen haben –, sondern auch für eine direkte Rolle des US-Militärs. Das Gesetz ist in dieser Hinsicht eindeutig. Es besagt, dass die USA sicherstellen würden, dass Taiwan über die Mittel zur Selbstverteidigung verfügt, aber auch, dass der TRA «die Fähigkeit der Vereinigten Staaten aufrechterhalten würde, sich jeglichem Einsatz von Gewalt oder anderen Formen von Zwang zu widersetzen, der die Sicherheit oder das soziale oder wirtschaftliche System der Bevölkerung Taiwans gefährden würde».
Viertens befinden sich rund 60 Prozent der globalen Halbleiterproduktion in Taiwan. Welche Länder in Zukunft den Zugriff auf diese hochspezialisierte Industrie haben, wird ausschlaggebend dafür sein, wer technologisch die Oberhand haben wird. Halbleiter sind wichtig für das Funktionieren elektronischer Geräte in zivilen Anwendungen wie Smartphones, Autos oder im Gesundheitssektor. Sie sind aber auch für die Rüstungsindustrie zur Herstellung von modernen Waffensystemen von essenzieller Bedeutung.
Fünftens besitzt Taiwan ein grundlegendes Gewicht im ideologischen Kampf der Vereinigten Staaten gegen Autokratien. Die Insel ist das beste Beispiel dafür, dass eine Gesellschaft, die zum chinesischen Kulturraum gehört, mit demokratischen Werten, Offenheit und Transparenz vereinbar ist. Somit steht Taiwan in direktem Widerspruch zu Chinas Rhetorik, die eine Unvereinbarkeit westlicher Werte mit dessen kulturellen und politischen Besonderheiten betont. Nach dem Rückzug aus Afghanistan im letzten Jahr hat die Glaubwürdigkeit der USA, demokratische Transformationen zu ermöglichen, stark gelitten. Deshalb können sich die Vereinigten Staaten nun keinen weiteren Fehltritt erlauben. In diese Richtung ist auch der Besuch von Nancy Pelosi auf der Insel im August dieses Jahres zu verstehen. Im Frühjahr leitete sie eine Kongressdelegation in die ukrainische Hauptstadt Kiew, und ihre Taiwan-Reise ist der krönende Abschluss ihrer jahrelangen Bemühungen um die Förderung der Demokratie im Ausland.
Sechstens gibt es in Taiwan keine prochinesische Region, wie es sie mit dem Donbass für Russland in der Ukraine gibt. Laut einer Studie des Election Study Center der National Taiwan University von 2021 ist der Prozentsatz derjenigen Taiwanesen, die «eine möglichst baldige Wiedervereinigung befürworten», und derjenigen, die «die Beibehaltung des Status quo befürworten, aber eine Wiedervereinigung in der Zukunft wünschen», zwischen 1994 und 2021 von 4,4 auf 1,4 Prozent respektive von 15,4 auf 6 Prozent gesunken.5
Die Sicherheitslage Taiwans wird jedoch durch die Tatsache erschwert, dass die meisten Länder der Welt Taiwan nicht als souveränen Staat anerkennen und China behauptet, dass Taiwan «ein Teil des eigenen Territoriums» sei – was von vielen Ländern respektiert wird. Anders als in der Ukraine könnte die chinesische Führung behaupten, dass eine Invasion Taiwans notwendig sei, um regierungsfeindliche Aktivitäten in einer eigenen Region zu unterdrücken, und dass solche Handlungen daher nicht gegen internationales Recht verstossen würden.
«Die Rückschläge und der zähe Fortschritt der russischen Armee haben gezeigt, wie schwierig es ist, ein Land zu besiegen (und zu beherrschen), wenn die Bevölkerung zum Widerstand bereits ist.»
Xis Blick in die Ukraine
Während Präsident Xi und die Volksbefreiungsarmee in der Anfangsphase der Invasion Russlands auf eine schnelle Entscheidung des Krieges gehofft haben könnten, hat sich die Situation inzwischen radikal geändert. Die Rückschläge und der zähe Fortschritt der russischen Armee haben gezeigt, wie schwierig es ist, ein Land zu besiegen (und zu beherrschen), wenn die Bevölkerung zum Widerstand bereit ist. Hinzu kommt, dass Taiwan eine Insel ist und amphibische Angriffe in der Regel viel schwieriger als Landinvasionen sind. Ausserdem hat die chinesische im Gegensatz zur russischen Armee keine praktische Kampferfahrung.
«Es wird bestimmt noch einige Jahre dauern, bis die Volksbefreiungsarmee ihre endgültigen Lehren aus dem russischen Einmarsch in die Ukraine ziehen wird.»
Es wird bestimmt noch einige Jahre dauern, bis die Volksbefreiungsarmee ihre endgültigen Lehren aus dem russischen Einmarsch in die Ukraine ziehen wird. Vieles wird davon abhängen, ob Russland letztlich als Gewinner oder als Verlierer angesehen wird.
Auch wenn China eine direkte Invasion unversucht lässt, kann es viele andere Möglichkeiten ergreifen, um Taiwan einzuschüchtern. Dazu gehören verschärfte Wirtschaftssanktionen oder Handelsaussetzungen, verdeckte Operationen und Kooptation von lokalen Führungskräften und Schlüsselpersonen in Taiwan, Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, die Blockade von Taiwans Häfen oder die Besetzung kleiner, von Taiwan kontrollierter Inseln in den umliegenden Meeren.
Die Ukraine hat die russische Annexion der Krim 2014 ohne weitere Massnahmen zugelassen. Diese Passivität könnte Putin zu weiteren Handlungen ermutigt haben. Ein ähnliches Szenario könnte eintreten, falls China versuchen würde, die Jinmen- oder Mazu-Inseln zu besetzen; das sind Inseln vor der Küste Chinas, die zu Taiwan gehören. Das plausibelste Szenario in der nahen Zukunft könnte einen Versuch der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) beinhalten, eine dieser äusseren Inseln oder einige der noch weiter entfernten Atolle bei den Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer zu annektieren.
Es könnte aber auch sein, dass Chinas Einschätzung der internationalen Lage nach dem Krieg zu einigen Anpassungen der chinesischen Aussenpolitik in Richtung mehr Vorsicht führt, insbesondere da China sich selbst in einer Übergangsphase auf dem Weg zum mächtigsten Land der Welt sieht. Chen Ming-tong, Leiter des taiwanesischen Büros für nationale Sicherheit, meinte im April 2022, es sei unwahrscheinlich, dass China die Insel während der Amtszeit von Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen, die 2024 endet, angreifen werde.
Das Dilemma des Westens
Sollte es zu einem Konflikt zwischen den beiden Ländern kommen, stünde die internationale Gemeinschaft vor der zentralen Frage unserer Zeit. Taiwan zeigt das Dilemma von Staaten in Europa und Asien auf, die versuchen, eine werteorientierte Aussenpolitik mit ihren wirtschaftlichen Interessen abzustimmen.
Dies ist die wichtigste Fragestellung der aktuellen Geopolitik: Was bedeuten die Spannungen für die Abkopplung und Verringerung der Abhängigkeiten von autoritären Regimen, was die Zuverlässigkeit der Lieferketten betrifft, insbesondere in technologischen und sicherheitspolitischen Schlüsselbereichen wie Halbleiter, Quantencomputer und medizinische Güter?
Russland selbst hat im Mai 2022 den Gedanken geäussert, aus der WTO austreten zu wollen. In der Praxis hat sich Russland jedoch nie wirklich an der Welthandelsorganisation beteiligt. Im Fall von China ist die Situation anders; die Wirtschaftsräume von China und den USA sind zu sehr miteinander verflochten, um sich vollständig zu entkoppeln.
Die Umstrukturierung der bisher auf China ausgerichteten internationalen Lieferketten führt jedoch zu einer teilweisen Restrukturierung der Weltwirtschaft und des Welthandels. Es ist denkbar, dass es zu einer Entkopplung in einigen der sensibleren Bereiche kommen wird, während die Zusammenarbeit in Gebieten von gemeinsamem Interesse und Anliegen wie dem Klimawandel fortgeführt werden muss.
Auch wenn der Wettbewerb zwischen den beiden Weltmächten mehrere Dimensionen aufweist, die es im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA nicht gab, könnten sich die gegenwärtigen Spannungen über einen Handels- und Technologiekrieg hinaus zu einem Wettbewerb des gesamten Spektrums ausweiten, der Ideologie, Militär und Raumfahrt umfasst und durch die Entstehung zweier Blöcke mit den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf der einen Seite und dem russisch-chinesischen Bündnis auf der anderen Seite gekennzeichnet ist, die in der neu entstehenden internationalen Ordnung nach der russischen Invasion in der Ukraine an mehreren Fronten konkurrieren.
Europa und die Schweiz können zur Aufrechterhaltung des friedlichen, demokratischen Systems in Taiwan beitragen, indem sie gegenüber der KPCh standhaft bleiben. Die Folgen jedes Versuchs einer erzwungenen Vereinigung Taiwans mit der Volksrepublik müssen Peking klar sein: dauerhaft feindliche Beziehungen zum Westen, die Konsolidierung einer Koalition, die entschlossen ist, Chinas Macht im indopazifischen Raum einzudämmen, und massive, koordinierte wirtschaftliche Bestrafung. Das Instrumentarium, das gegen Russland eingesetzt wurde, könnte erweitert und gegen China verwendet werden. Eine offene Diskussion hierüber kann die Abschreckungswirkung stärken, indem sie der chinesischen Führung in Peking signalisiert, dass diese Zwangsmassnahmen erneut eingesetzt werden könnten.
taiwaninsight.org/2021/04/26/xi-jinpings-2-0-version-of-the-letter-to-compatriots-in-taiwan/ ↩
http://www.smh.com.au/world/china-and-taiwan-a-family-says-xi-jinping-at-historic-meeting-of-leaders-20151107-gktf07.html ↩
http://www.taipeitimes.com/News/front/archives/2022/03/13/2003774680 ↩
http://www.ait.org.tw/our-relationship/policy-history/key-u-s-foreign-policy-documents-region/taiwan-relations-act/ ↩
esc.nccu.edu.tw/upload/44/doc/6963/Tondu202112.jpg ↩