(1) Tabuzone Föderalismus
Die unerwartet virulente Reaktion der
Öffentlichkeit auf die Avenir-Suisse-Studie «Baustelle Föderalismus» – sie hält noch immer an – hat sämtliche Erwartungen übertroffen
und auch die Herausgeber selbst überrascht.
Was im Kern als wissenschaftliche Analyse des veränderten räumlichen Verhaltens gedacht war, wurde vor allem von der ländlichen Öffentlichkeit als Generalangriff auf das föderalistische System und die organisch gewachsene historische helvetische Ordnung, als weiterer Schritt in der «Ökonomisierung des Lebens» gebrandmarkt. Insbesondere der immer wieder erhobene – und falsche – Vorwurf an Avenir Suisse, den «Föderalismus abschaffen» zu wollen, entbehrt bei näherer Lektüre nicht einer gewissen Ironie. Die Studie beschreibt ja gerade, wie sich der extrem fragmentierte Föderalismus angesichts der zunehmend raumübergreifendenden Probleme und Finanzierungsschwierigkeiten selbst aushebelt.
Die Suche nach den Ursachen der hohen Empfindlichkeit muss bei der Diskrepanz zwischen den sich dynamisch verändernden Lebenswelten und der statischen territorialen Rasterung des politisch-administrativen Systems beginnen. Die Debatte folgt letztlich einer klar definierten Konfliktlinie: die ökonomisch-finanzielle Perspektive, die die Ineffizienzen und Doppelspurigkeiten und die Kosten der Kleinheit analysiert, kontrastiert mit der «Politiker–Perspektive», die sich auf das lokale und regionale Zusammengehörigkeitsgefühl stützt. Die Studie hat versucht, diesen Widerspruch mit wissenschaftlichem Material aufzudecken und damit die Legitimitätsfrage neu zu stellen. Sie hat dabei offenbar an eine politische Tabuzone gerührt. Deutlichste Anzeichen dafür sind das Interesse der Boulevardpresse für das an sich technisch-trockene Thema (Blick: «Heidi-Schweiz am Ende – es geht nur noch um Profit») und die heftigen Reaktionen von Politikerseite (Ständerat Carlo Schmid, AI: «Erschiesst uns doch gleich»). Hinter der öffentlich zelebrierten Empörung der Politiker verbirgt sich aber nicht nur die vordergründige Befürchtung um den rituell wiederholten, durch die Schweizer Gründungsgeschichte beschworenen und damit nicht angreifbaren Zusammenhalt, sondern stehen handfeste Umverteilungsinteressen. Nichts illustriert das unmissverständlicher als ein Zitat von Ständerat Theo Maissen (GR): «Es gehört zur Daueraufgabe eines Bündner Politikers, dafür zu sorgen, dass der Geldfluss aus Bern nicht ins Stocken gerät.» Diese Aussage illustriert die kontinuierliche Erosion des föderalistischen Gedankens über die Jahrhunderte, an dessen Ursprung durchaus ein nationaler Gründungskonsens über die «ungleiche» Besserstellung der kleinen Stände stand, an dessen Ende aber heute nur noch die hohle Hand allein als Legitimation genügen soll.
Auch die Föderalismus-Debatte gehorcht den Regeln einer «Vier-Augen-Politik». Der öffentlich-medialen Empörung der Politiker steht durchaus ein Reformverständnis im persönlichen Gespräch gegenüber. Im öffentlichen Streitgespräch jedoch argumentieren Politiker weiterhin im Sinne einer «gefühlten» Erwartungshaltung ihrer lokalen Wählerschaft. Genau darin liegt letztlich das Problem. Die Wählerschaft kann sich nämlich den Luxus der Ambivalenz leisten; ein Urner kann etwa seinen patriotischen Gefühlen freien Lauf lassen, von Transferzahlungen profitieren – rund die Hälfte des kantonalen Budgets sind extern finanziert – und gleichzeitig dank ausgebautem Infrastrukturnetz in Zürich arbeiten und in Konstanz einkaufen.
In diesem Interessengefüge ist der dringliche Modernisierungsprozess somit nur möglich, wenn eine neue Zieldiskussion geführt wird. Solange jedoch die zuständigen Politiker mit einem coming-out zuwarten, ist dies schwierig bis unmöglich; es bleibt nur das passive Warten auf das Versiegen der immer knapperen öffentlichen Ressourcen. In den kleinsten föderalistischen Einheiten, den Gemeinden, ist dieser Prozess bereits zu beobachten. Wenn das Steuersubstrat versiegt, wenn die Leute abwandern oder aussterben und die Gemeinde zwangsverwaltet wird, kommt zuletzt auch die unausweichliche Gebietsreform. Die Hoffnung der Studie war, diese Entwicklung durch eine gestaltende Politik zu ersetzen. Wir haben sie noch nicht aufgegeben.