Sue Shi, Karotten und ein VVVIP
Grosse Dinge beginnen mit einem Namen. Mit Etiketten. Mit roten Teppichen. Rang und Namen sind immer sexy, und auf der ganzen Welt werden rote Teppiche mit Ehrfurcht ausgelegt. In Singapur haben Äusserlichkeiten jedoch eine besondere Bewandtnis. Es gibt im Chinesischen diesen Ausdruck: das Gesicht wahren. Er bedeutet, dass – egal, was geschieht – das Gesicht […]
Grosse Dinge beginnen mit einem Namen. Mit Etiketten. Mit roten Teppichen. Rang und Namen sind immer sexy, und auf der ganzen Welt werden rote Teppiche mit Ehrfurcht ausgelegt. In Singapur haben Äusserlichkeiten jedoch eine besondere Bewandtnis. Es gibt im Chinesischen diesen Ausdruck: das Gesicht wahren. Er bedeutet, dass – egal, was geschieht – das Gesicht stets lächeln muss. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, wie die Leute ihre Gesichter verlören. Die Zürcher Bahnhofstrasse: ein Teppich aus lächelnden Masken.
Die Singapurer der neuen Generationen tragen westliche Vornamen. Manche wählen sich einen solchen Namen selbst aus, wenn ihnen dieser Spass durch die Vorselektion der Eltern nicht bereits vergönnt ist. Namen wie Siewkuang Chiew oder Ta Choe Hoh hört man immer seltener, Singapore reloaded tönt nach Bernadette Ching, Heidi Chang, Trudy Chung. Und dann noch der angeheiratete Hans Klein-Ding (bei den Fami-liennamen stösst Mister Proper auf die Grenzen seiner Zaubermacht…). Als ich kürzlich bei meiner Bank anrief und ein Mann den Hörer abnahm, verlangte ich eine Stacey Lun. Seine Reaktion: «Yes, that’s me. How may I assist you?» Und eine tollkühne Japanfanatikerin mit Familienname Shi hat sich kürzlich zum achtzehnten Geburtstag den Vornamen Sue importieren lassen, wie ich las. In einem Land, wo Verpackungen und Inhalte willkürlich kombiniert werden, musste ich eine Strategie entwickeln, um nicht die Ehrlichkeit zu verlieren, die ich durch meine Musik verteilen will. Folglich habe ich die Welt in einen Zoo verwandelt. Und ich spiele den Senn.
An einem Konzert, das meine Schule veranstaltete und in das ich als Koordinatorin eingebunden war, kam meine Arbeitskollegin auf mich zu – das Foyer füllte sich gerade mit Leuten: «Um Himmels willen, was passiert denn da gerade? Ich sehe so viele VIPs frei herumlaufen!» Und wenn VIPs frei herumlaufen, dauert es nie lange, bis sie nach Betreuung verlangen. Durch uns, versteht sich. Da stand also der Senn etwas perplex vor der hereinbrechenden Horde von Kühen, Stieren und Munis und wurde damit beauftragt, ausschliesslich den Munis eine rote Schleife um den Hals zu binden. Nur: niemand hatte mir beigebracht, die Munis von den übrigen Stieren zu unterscheiden. In besonders prekären Fällen fällt es mir sogar schwer, eine Kuh von einem Stier zu unterscheiden! Im Banne des Pflichtgefühls fragte ich mich zunächst, wie sie aussähen, diese offenbar hochrangigen Zuchttiere mit dem Kryptonym «VIP».
In Singapur versammeln sich die VIPs der Welt – alles Teil der Verwestlichungsstrategie. Wer hoch hinaus will, darf sich nur mit der crème de la crème zufrieden geben. Es findet hier eine Vieh- und Kleintierschau statt. Man hat den Beteiligten komfortable Ställe mit geräumigen Foyers und vollen Futtertrögen hingebaut. In Lamborghinis, Ferraris, Porsches und anderen Viehtransportern werden die prätentiösen Zuchttiere von einer Tränke zur anderen chauffiert. Am Strassenrand winken die Sennen – alle fünfzehn Meter die nächste. Die Sennen haben Muskelkater. Aber: Gesicht wahren! Wir sind hier in Singapur. Tigerstaat. Löwenstadt. Die Schweiz Asiens.
Richtig tierisch wurde es für mich, als ich ein Konzert für ein Publikum aus lauter VVIPs (sie tragen tatsächlich ein Doppel-V auf der Etikette!) spielen sollte. Unter den Zuhörern solle es sogar einen VVVIP geben – eine mit Samthandschuhen anzufassende Zuchtrasse, wie die Koordinatorin mir zu verstehen gab. Ich entschied mich für einen Hasen: Der VVVIP ist für mich ein Hase. Meine Manager haben mir Samthandschuhe gekauft. Zum Spielen muss ich die Handschuhe ausziehen – man kann Karotten besser in mundgerechte Stücke zerschneiden, wenn man keine trägt.
Nach besagtem Konzert in einem von Singapurs edelsten Clubs kam der Hase zu mir, um sich für die Dressur zu bedanken. Er trug die rote Schleife etwas schräg. Ich habe sie ihm nicht zurechtgerückt. Mein bescheidener Beitrag zu Singapurs Europäisierung.