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Zurück an den Absender

Die Energiestrategie 2050 ist voller Widersprüche und Risiken. Das Volk sollte sie ablehnen, bis die wichtigsten Fragen geklärt sind. Noch ist Zeit dafür.

Willst du einen Beitrag über die Vor- und Nachteile der Energiestrategie schreiben?», fragte mich die zuständige Ressortleiterin dieser Zeitschrift. Ich lehnte ab. Mit der Begründung, dass diese Strategie aus meiner Sicht nur Nachteile und Risiken mit sich bringe; Gutes hätte ich darüber nicht zu sagen. Die Redaktion liess sich davon aber nicht abschrecken – auch das müsse Platz haben im Heft.

Nun denn. Ich nehme mein Fazit hier gleich vorweg: Auch Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die unbedingt für den Ausstieg aus der Kernenergie sind, sollten bei der Volksabstimmung vom 21. Mai an der Urne ein Nein einlegen. Mit einem Ja würden sie nur weit grössere Risiken eingehen, um über kurz oder lang massiv enttäuscht zu werden.

Ich erläutere auf diesen Seiten gerne, wie ich zu dieser Haltung komme. Wenige Wochen vor der Abstimmung dürften die diametral entgegengesetzten inhaltlichen Positionen von Befürwortern und Gegnern den Lesern mittlerweile bekannt sein. Ich konzentriere meine Überlegungen darum auf institutionelle Aspekte, die noch kaum thematisiert wurden.

Je später das Ende, desto grösser der Schrecken

Bei der Abstimmung vom 21. Mai geht es nur um das erste von zwei Massnahmenpaketen der Energiestrategie, nämlich um das vom Parlament am 30. September 2016 revidierte Energiegesetz. Das zweite Massnahmenpaket ist zurzeit nur in Umrissen zu erkennen und seine Finanzierung völlig offen. Es gibt somit keine formelle Volksabstimmung über die gesamte Strategie. Man könnte nun meinen, mit einem Nein zum ersten Massnahmenpaket verweigere man sich dieser Strategie der «Katze im Sack» – und zwinge Behörden und Parlament, zuerst eine kohärente Strategie neu vorzulegen. Ausser etwas Spesen wäre vorerst nichts gewesen.

Dem ist aber leider nicht so – und schon das sollte einen derart ärgern, dass man ein Nein einlegt. Bund, Kantone und Gemeinden haben längst Nägel mit Köpfen gemacht. Freilich haben sie diese eventuell im falschen Brett und jedenfalls zu früh eingeschlagen. Sie haben viele Massnahmen des ersten Pakets schon eingeleitet und unwiderruflich umgesetzt, unter Inkaufnahme von erheblichen längerfristigen finanziellen Verbindlichkeiten wie etwa der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV). Ein Teil dieser Massnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien, zur Steigerung der Energieeffizienz oder zur Reduktion des Energiekonsums dürfte sich bei einer Änderung der Strategie volkswirtschaftlich als nutzlos oder gar kontraproduktiv erweisen. Ein Nein am 21. Mai würde uns wegen dieses übereilten Vorgehens tatsächlich einiges kosten.

Das ist schmerzhaft. Aber trotzdem nötig. Denn: je später das Ende, desto grösser der Schrecken. Mit einem Ja am 21. Mai würde der Erwartungswert volkswirtschaftlicher Verluste aus schädlichen Massnahmen dieser Art noch um Faktoren erhöht. Statt wie bislang dreistellige Millionenbeträge könnten sich in einigen Jahren dreistellige Milliardenbeträge als fehlgeleitet herausstellen. Die direkten und indirekten Systemkosten der Umsetzung der Energiestrategie, die in erster Linie Mieterhaushalte und KMU heute schon spürbar belasten, werden immer weiter zunehmen, bis die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger per Volksentscheid die Reissleine ziehen. Was, wenn sich das Volk erst dann verweigert, wenn in einigen Jahren das zweite Massnahmenpaket vorliegt? Die Energiestrategie, bis dahin umgesetzt, müsste erst dann als gescheitert erklärt und ersetzt werden – und würde einen gigantischen Scherbenhaufen fehlgeleiteter Investitionen hinterlassen. Davor warnte ich gemeinsam mit anderen Ökonomen bereits 2014 auf Basis einer institutionellen und ökonomischen Analyse.1 Die deutsche Energiewende, der die Schweizer Energiestrategie bedauerlicherweise ziemlich originalgetreu nachempfunden ist, der sie jedoch um Jahre hinterherhinkt, zeichnet uns diesen Pfad des Schreckens vor.

Abschreckendes Vorbild Deutschland

Obwohl Deutschland inzwischen schon mehr Leistung in neuen erneuerbaren Energiequellen (Wind, Sonne, Biomasse) als in Kohle-, Gas- und Nuklearkraftwerken installiert hat, muss es immer noch fast alle Kohlekraftwerke weiterbetreiben, um seine Stromversorgung aufrechtzuerhalten und Blackouts zu vermeiden. Diese Duplizierung der Kapazitäten hat Deutschland im globalen Vergleich zusammen mit Dänemark, das eine ähnliche Politik verfolgt, die weitaus höchsten Endkundenstrompreise gebracht. Daran wird sich aus meteorologischen, physikalischen, technischen, ökonomischen und institutionellen Gründen nichts ändern, solange der intermittierende Strom («Flatterstrom») aus Wind- und Solarkraftwerken nicht zu tragbaren Kosten in ausreichenden Mengen gespeichert werden kann. Dazu wären aber Quantensprünge in der Speichertechnologie nötig, die noch Jahrzehnte auf sich warten lassen werden, wenn sie überhaupt je eintreffen.

Die zugleich absurdeste wie betrüblichste Wirkung dieser Politik liegt darin, dass trotz massiver Investitionen in erneuerbare Energien – mit enormem Flächenverschleiss, beispielloser Natur- und Landschaftsverschandelung – und trotz explodierender Kosten die Treibhausgasemissionen der deutschen Stromwirtschaft nicht abgenommen haben. Deshalb räumen inzwischen selbst Mitglieder der deutschen Regierung die massiven Probleme ihrer Politik ein. Sie hatten ihrer Bevölkerung versprochen, mit erneuerbaren Energien nicht nur die Kernkraftwerke, sondern auch die schmutzigsten Kohlekraftwerke zu ersetzen, um so auch die Treibhausgasbelastung stark zu reduzieren. Und das haben sie bislang offensichtlich nicht geschafft. Leider steht den deutschen Bürgerinnen und Bürgern eine direktdemokratische Reissleine nicht zur Verfügung. Wir sollten unsere frühzeitig nutzen.

Fragen über Fragen

Angesichts der mittlerweile kritischen Zustände beim deutschen Vorbild ist nicht nachvollziehbar, dass die in der Schweiz federführende Bundesrätin und aktuelle Bundespräsidentin Doris Leuthard die Vollzugsarbeiten ihrer Energiestrategie nicht schon lange gestoppt hat, um Machbarkeit, Zielkonformität und volkswirtschaftliche Tragbarkeit dieses Vorhabens (endlich einmal) auf Herz und Nieren zu prüfen. Die Strategie, kurz nach der Havarie von Fukushima im Jahr 2011 überhastet formuliert, ist bislang keiner ernsthaften strategischen Nachkontrolle unterzogen worden. Zu diesem Schluss muss man kommen angesichts der vielen Fragen, die im Abstimmungskampf aufgetaucht sind und die von den zuständigen Behörden nicht faktenbasiert beantwortet werden konnten.

An Manipulation grenzt beispielsweise die offizielle Angabe zu den Kosten. Für das erste Massnahmenpaket, mit dem gemäss Parlament und Bundesrat nur die Hälfte der Ziele des Gesamtvorhabens zu erreichen ist, werden die Kosten pro Haushalt mit jährlich 40 Franken beziffert. Diese lächerliche Summe berücksichtigt aber nur die Zusatzkosten der Erhöhung der KEV – für die der Durchschnittshaushalt schon heute monatlich rund 75 Franken zahlt. Für weitere Massnahmen des ersten Pakets und die noch völlig verschleierten Massnahmen des zweiten Massnahmenpakets werden gar keine Kosten der Haushalte veranschlagt. Doch wer, wenn nicht die Haushalte als Stromkonsumenten und Steuerzahler, wird denn für die rund 200 Milliarden Franken aufkommen, die nach offiziellen Angaben für die Umsetzung der gesamten Energiestrategie bis zum Jahr 2050 anfallen sollen?

Wer übernimmt die Verantwortung?

Die Gegnerschaft rechnet für die Gesamtstrategie mit einer jährlichen Belastung der Haushalte in Form von höheren Preisen und Abgaben von durchschnittlich 3200 Franken. Auch das ist selbstverständlich eine Schätzung. Sie kommt der Wahrheit allerdings sicher näher als die offizielle Behauptung. Hinzu kommt, dass die volkswirtschaftlichen Kosten angesichts von Deindustrialisierung, Landverschleiss, Landschaftsbelastung und externalisierten Entsorgungskosten wohl noch weit höher veranschlagt werden müssten, wie oben zitierte Studie von 2014 aufzeigt. Manche Befürworter der Energiestrategie weisen zu Recht darauf hin, dass die Energiepolitik schon immer externalisierte Kosten zu übersehen pflegte. Die Antwort darauf kann allerdings nicht sein, das noch zu übertrumpfen.

Um die Verantwortung, die sich Bundesrätin Leuthard, der Bundesrat, die Mehrheit des Parlaments sowie Kantone und Gemeinden mit vielen der Volksabstimmung vorgegriffenen Massnahmen aufgeladen haben, sind sie nicht zu bedauern. Dass die Energiestrategie mit ihrer enormen Tragweite eine Volksabstimmung zu bestehen haben wird, wäre zu erwarten gewesen. Durch den Verzicht auf eine fundierte strategische Prüfung dieses gigantischen Vorhabens und – als fatale Folge davon – die Unfähigkeit, jetzt die kritischen Fragen von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern mit plausiblen Fakten beantworten zu können, wiegt diese Verantwortung noch viel schwerer. Die aktuellen Verantwortungsträger scheinen auch deshalb vehement für die Zustimmung des Volks zu kämpfen, um diesem ihre Verantwortung endlich abtreten zu können.

Bundesrätin Leuthard versucht, die Menschen mit ihrem Glaubensbekenntnis «Wir müssen nur wollen, dann dürfen wir auch können!» (NZZ) einzuschwören. Das erinnert an Angela Merkels «Wir schaffen das!» in der Flüchtlingsfrage, das inzwischen aufgrund der nachfolgenden praktischen Erfahrungen und politischer Entwicklungen in das Genre Tragikomik einzuordnen ist.

Bei der Präsentation des Abstimmungsbüchleins charakterisierte Leuthard kürzlich ihre Energiestrategie als «sicher, sauber, schweizerisch und alternativlos» (auch letzteres erinnert an die deutsche Bundeskanzlerin). Die Gegner machen das Gegenteil geltend – unsicher, unsauber und importtreibend sei die Strategie, und ob sie alternativlos sei, könne niemand sagen, weil Alternativen auch nicht geprüft worden seien. Ich teile diese Einschätzung der Sache. Das spielt im Moment allerdings noch nicht einmal eine Rolle. Denn das abschliessende prozessuale, vermutlich entscheidende Argument ist ein anderes: die Zeit.

Selbst wenn Befürworter und Gegner für ihre Positionen allerlei Argumente ins Feld führten und führen, so ist doch die Frist vom Zustandekommen des Referendums am 19. Januar bis zur Volksabstimmung am 21. Mai viel zu kurz angesetzt. Wie sollen Bürgerinnen und Bürger in diesen wenigen Wochen in diesem hochkomplexen Geschäft eine informierte Debatte führen, um schliesslich einen überlegten Entscheid zu fällen? Vermutlich hofften die Agendasetter im Bundeshaus, mit der knappestmöglichen Frist beim Ansetzen des Abstimmungstermins noch etwas vom Fukushima-Effekt profitieren zu können, dessen Halbwertszeit nun doch nicht so lang zu sein scheint. Sachliche Gründe für diese Eile sind jedenfalls ebenso wenig auszumachen, wie sie es nach Fukushima waren, als in wenigen Wochen die eine und einzige neue Energiestrategie formuliert wurde.

Ich hoffe, dass sich die Verantwortlichen politisch verspekuliert haben. Mit einem Nein kann es das Volk jetzt noch mit überschaubarem Risiko und nicht erst beim zweiten Massnahmenpaket mit grossem Risiko richten. Die Energiestrategie sollte mit dem Auftrag zur strategischen Kontrolle an die Absenderin zurückgeschickt werden. Dieses eminente Vorhaben muss studiert werden, bis die wichtigen Fragen schlüssig beantwortet werden können. Noch ist Zeit dafür.


1 S. Borner, B. Schips, D. Hauri, M. Saurer und B. Wyss: Energiestrategie 2050: eine institutionelle und ökonomische Analyse. Basel: Institut für Wirtschaftsstudien, 2014.

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Das erste Kernkraftwerk der Schweiz wurde 1969 von der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) in Betrieb genommen. Deren Träger waren und sind die Kantone Aargau, Appenzell, Glarus, Schaffhausen, St. Gallen, Zug und Zürich sowie einige ihrer Elektrizitätswerke, heute bekannt unter dem Namen Axpo Power AG. Bild: Schaltzentrale des Atomkraftwerks Beznau kurz nach der Inbetriebnahme 1969, photographiert von Jules Vogt / ETH-Bibliothek, Bildarchiv / Com_M18-0203-0013 / CC BY-SA 4.0
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