Was es bedeutet, wenn ein Mann vom Himmel fällt
Kurzgeschichte von Lesley Nneka Arimah. Aus dem Englischen übersetzt von Richard Barth. Mit Illustrationen von Arianna Vairo.
Es bedeutet Berichterstattung rund um die Uhr. Um Schadensbegrenzung bemühte Politiker, Protestaufrufe von Aktivisten. Und dass die Enkelin von Francisco Furcal zur Verteidigung des Familienerbes eine Pressekonferenz gibt.
«Die Formel meines Grossvaters ist einwandfrei. Mathematik ist eine konstante, absolute Wissenschaft. Wenn irgendwelche Probleme auftreten, hat sich der jeweilige Anwender verrechnet.»
Schlechter Zug, meine Gute. Das drängte doch nur alle in die Defensive, so dass sie ihre Protokolle, Testergebnisse und alles andere auftischen mussten, was ihre Genialität belegte. Nneoma versuchte sich zu erinnern, wo ihre eigenen Unterlagen nach dem Umzug gelandet waren, aber das erinnerte sie nur daran, wo sie ausgezogen war, und das erinnerte sie daran, wen sie dort zurückgelassen hatte.
Lieber an was anderes denken. Lieber auf die verwackelten Bilder konzentrieren, die eine per Bewegungssensor aktivierte Überwachungskamera aufgenommen hatte. Die Kamera hatte die letzten fünfzehn Meter des Falls eingefangen, die panisch um sich schlagenden Arme des Mannes wie Windmühlen, das lange Hinstrecken seines Körpers beim Aufschlag. Als wenige Monate zuvor die Flugformel veröffentlicht worden war, hatte die Zeremonie ziemlich langweilig begonnen, mit einem Mann, der fünfzehn Minuten mönchsgleich in der Luft schwebte, ehe er in den Himmel schoss. Die Wissenschaftswelt war in heller Aufregung. Was bedeutete es, dass der menschliche Körper nun Kräften wie der Schwerkraft zu trotzen vermochte, die in Frage zu stellen der Menschheit nie in den Sinn gekommen war? Ein neues Zeitalter schien anzubrechen.
Jetzt folgte in den Nachrichten ein Schnitt zu den Mathematikern, die die Fluggleichung entdeckt hatten. Schadenfrohe Reporter lauerten ihnen auf Partys auf, im Urlaub oder während sie mit ihren schnittigen schwarzen Autos ihre Kinder abholten, und gaben so flüchtige Einblicke in einen Luxus, der den meisten Zuschauern fremd war. Diese dürften die Verlegenheit in den Gesichtern ebenso genossen haben wie die wütenden Rechtfertigungen aus gut genährten Mündern.
Indem sie die Schuld nicht der Formel, sondern den Mathematikern in die Schuhe schoben, schützten Martina Furcal und das Zentrum das Familienerbe und sorgten dafür, dass der ganze Wirbel sich auf die vermeintlich unfehlbaren Wissenschafter konzentrierte. Vielleicht doch kein so schlechter Zug.
Nneoma zappte sich durch die Programme und hörte aufmerksam zu. Sollte das Gerücht, Furcals Formel beginne an den Rändern auszufransen, in irgendeiner Weise verfangen, bliebe das am Ende nicht ohne Folgen für die 2400 Mathematikerinnen und Mathematiker wie sie, die überall auf der Welt davon lebten, Gefühle zu berechnen und zu subtrahieren, sie aus lebenden Körpern zu saugen wie Gift aus einer Wunde.
Sie war eine von 57 registrierten Mathematikern, die auf die Berechnung von Trauer spezialisiert waren. Vor einem Jahr waren es noch 59 gewesen. Alvin Claspell, der Australier, hatte sich umgebracht, nachdem er – wenn man den Geschichten Glauben schenken konnte – verrückt geworden war und angefangen hatte, sich selbst zu zerfleischen. Ihre Arbeit war nicht jedermanns Sache. Und da Kioni Mutahi einfach verschwunden war, stand Neukenia jetzt mit einem einzigen Trauerarbeiter da.
Die Biafra-Britannia-Allianz, wie Nneomas Heimat nun hiess, war mit sechs Spezialisten die Provinz mit der höchsten Konzentration von Trauerarbeitern, schliesslich gab es hier auch die grösste Konzentration von Trauernden. Oder zumindest von zahlungskräftigen Trauernden.
Die immer gleichen Bilder in einer Endlosschlaufe. Nneoma schaltete die Anlage aus. Der Wirbel würde schnell vorbei sein, wenn die Jungs von der Flugabteilung erst mal auf die Idee kämen, dem abgestürzten Mann Rechenfehler vorzuwerfen. Sie würden schon einen Sündenbock finden – «cover your ass», wie die Nordamerikaner sagten, aber von denen waren ja nicht mehr viele übrig.
Auf der Telefonkonsole piepste eine Nachricht, und Nneoma drückte schnell den Knopf, hoffnungsvoll, dann beschämt, dann noch mehr beschämt, als es noch nicht mal Kioni war, nur ihre Assistentin, die sie an den Vortrag in einer Schule erinnerte, den sie heute halten sollte. Sie löschte die Nachricht – natürlich hatte sie drangedacht – und ärgerte sich. Wieder einmal spielte sie mit dem Gedanken, die junge Frau zu feuern. Aber manchmal braucht man eben eine Assistentin, etwa wenn die eigene Partnerin die Beziehung mit derselben höflichen Coolness, mit der sie sie angebahnt hatte, wieder beendet und man den ganzen Kram, der sich in drei Jahren angesammelt hat, innerhalb einer Woche packen und umziehen muss. In solchen Situationen ist eine Assistentin ziemlich praktisch. Aber das war jetzt acht Wochen her und Nneoma war drüber weg. Ehrlich.
Sie packte ihre Unterlagen zusammen und rief den Wagen. Sekunden später stand er vor der Glastür. Schnelligkeit war Amadis Stärke. Ihre Mutter erzählte immer, sie könne ihn rufen, während sie die Treppe hinuntergehe, und wenn sie die Tür aufmache, warte er bereits auf sie. Mama war mittlerweile gestorben, und Nneomas Vater, fertig mit der Welt, ging nie aus dem Haus. Amadi hatte alle Besorgungen für ihn gemacht, bis Nneoma aus Neukenia zurückgezogen war. Dann hatte ihr Vater ihr den Fahrer geschenkt wie einen Korb guten Käse. Sie hatte den Fahrer als das angenommen, was er war: ein Versöhnungsgeschenk. Und auch wenn es zwischen ihnen nie wieder sein würde wie früher, rief sie ihren Vater jetzt jeden zweiten Sonntag an.
Sie wies Amadi an, zuerst zum Supermarkt zu fahren. Sie fuhren durch die breiten Strassen von Enugu und kamen an einem Spielplatz voller schwitzender, eiweisser Kinder vorbei. Nicht, dass Nneoma ein grundsätzliches Problem mit den Briten gehabt hätte, aber die Einstellung ihres Vaters hatte teilweise auf sie abgefärbt. Wenn er richtig in Fahrt war, nannte Papa sie nicht Verbündete, sondern Flüchtlinge. Er wurde schon lange nirgends mehr eingeladen.
«Die kommen hier an, ohne eigenes Land, und versuchen alles an sich zu reissen, ohne irgendetwas beizusteuern», sagte er oft.
Das war nur die halbe Wahrheit.
Als die Britischen Inseln in den Fluten zu versinken begannen, hatten die Briten die Hand nach Biafra ausgestreckt, ein Hilferuf, der nicht unbeantwortet blieb. Bedingungen wurden formuliert, Verträge über den fairen Austausch von Dienstleistungen geschlossen. Doch während die eine Seite eine helfende Hand ausstreckte, hatte die andere ein Messer in der Hand. Einmal übergesiedelt bestanden die Briten auf ihrem eigenen Land und einer eigenen Regierung. Ein Kompromiss, erleichtert durch die britische Drohung mit dem Einsatz biologischer Kampfstoffe, mündete in die Biafra-Britannia-Allianz. Geteiltes Land, geteilte Regierung, geteilte Missstände. Ihr Vater war damals noch ein kleiner Junge, hielt aber noch immer voller Bitterkeit an der Idee der Unabhängigkeit Biafras fest, einer Unabhängigkeit, für die seine Eltern Ende der 2030er Jahre gestorben waren. Da war er nicht der einzige, aber die meisten Leute wussten ihre Ansichten für sich zu behalten, zumal wenn ihre Tochter Mathematikerin war, ein Beruf, der seine eigenen Probleme mit sich brachte. Und lieber eine, obschon aufgezwungene, Allianz zum beiderseitigen Nutzen als das, was die Franzosen im Senegal gemacht hatten. Oder die Amerikaner in Mexiko.
Während Amadi fuhr, liess er den Rückspiegel teilweise auf sie ausgerichtet, auf der Suche nach einer Gelegenheit, sie in ein Gespräch zu verwickeln. In dessen Verlauf er zweifelsohne vorschlagen würde, später kurz bei ihrem Vater vorbeizuschauen, nur auf einen Sprung, nur um Hallo zu sagen. Nneoma vermied den Blickkontakt. Sie konnte ihren Vater nicht sehen, nicht einmal, um kurz Hallo zu sagen, nicht heute, überhaupt nie.
Sie parkten vor dem ShopRite und Nneoma stieg aus. Wegen ihres knurrenden Magens packte sie mehr Obst in den Einkaufskorb, als sie in einer ganzen Woche essen konnte. An der Brottheke drängte sie sich zum Ärger der wartenden Kunden vor. Der Mann am Ladentisch erkannte sie und reichte ihr die übliche Auswahl Brötchen und das knusprige Baguette, das sie mit leichten Gewissensbissen essen würde. Die Franzosen verdienten nicht unmittelbar daran, aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, sie unterstütze damit, wofür diese stünden. Sie ignorierte die bösen Blicke der anderen Kunden, die sich fragten, wer sie wohl sein mochte (eine Diplomatin? Die Geliebte eines Ministers?), und ging, immer an den Wänden entlang, in grossem Bogen zur Kasse.
Und dann spürte sie ihn.
Nneoma verlangsamte ihren Schritt, nahm eine kleine Packung Waschmittel aus dem Regal und tat so, als lese sie die Waschanleitung, während sie ihn aus dem Augenwinkel musterte. Er war gut, aber nicht übertrieben gut gekleidet. Er schaute sie verwirrt an, fragte sich, warum er sich so zu ihr hingezogen fühlte. Nneoma spürte die Welle der Traurigkeit, die von ihm ausging, und wusste, wenn sie sich konzentrieren würde, könnte sie seine Trauer so klar sehen wie einen Splitter. Sie könnte ihre Ursachen sehen, ihre Architektur und wie sie in ihm verankert war. Und sie könnte sie abstellen.
Es fing an, als sie 14 war, im Matheunterricht. Sie war schon immer gut in Mathe gewesen, hatte aber nicht die geringste Absicht gehabt, Mathematikerin zu werden. Wer hatte das schon. Das war kein Beruf, den man wählte oder auf den man hinarbeitete; entweder hatte man das Zeug dazu oder nicht. An jenem Tag hatte der Lehrer ihnen einen langen Abschnitt aus Furcals Formel gezeigt, den er beim Zentrum gekauft hatte wie einen Virenstamm. Für die meisten anderen Schüler war er eine völlig undurchschaubare Abfolge aus Zahlen und Symbolen, doch für Nneoma war er so einfach zu lesen wie das Alphabet. Beim Anblick der Formel wurde etwas in ihr entfesselt. Von diesem Moment an sah sie die Traurigkeit eines Menschen so deutlich wie die Kleidung, die er trug.
Das Zentrum bezahlte ihre weitere Ausbildung, tilgte die geringen Schulden ihrer Eltern und kaufte ihnen ein neues Haus. Sie brachten ihr bei, wie sie ihre Fähigkeiten so weit vervollkommnen konnte, dass sie die Trauer eines Menschen nicht nur sehen, sondern abstellen konnte. Irgendwann war sie so versiert, dass sie selbst bei den hartnäckigsten Patienten schwerste Traumata austreiben konnte. Dann starb ihre Mutter.
Der Mann im Laden stand da und schaute sie an, und Nneoma nutzte seine Verwirrtheit aus und liess ihn stehen. Trauernde fühlten sich häufig zu ihr hingezogen, unwillkürlich, wie zu einem Magnet. Deshalb war ihr abgeschirmtes Leben so ein Segen und so unumgänglich. Das Zentrum hatte dafür grosses Verständnis und half unter Vertrag stehenden Mathematikern, ihre Klienten zu durchleuchten. Niemand wurde gezwungen, gegen seinen Willen mit einem Klienten zu arbeiten oder Dienstleistungen zu erbringen, die er nicht erbringen wollte. Nneoma arbeitete fast ausschliesslich mit Eltern, die ein Kind verloren hatten, reichen Paaren, die dachten, der Tod könne ihnen nichts anhaben – bis er an ihre Tür klopfte. Wenn das Zentrum Kooperationen mit Staaten einging, um mit traumatisierten Staatsbürgern zu arbeiten, war die Teilnahme freiwillig, und die meisten Mathematiker stellten sich ein paar Stunden pro Woche zur Verfügung. Es gab Ausnahmen, wie Kioni, die ausschliesslich mit solchen Leuten arbeitete, und Nneoma, die das komplett ablehnte. Mutter Kioni hatte Nneoma sie genannt, zuerst liebevoll, dann, als die Gemeinheiten die Oberhand gewannen, mit zunehmender Bosheit. Dieser Mann im gepflegten Anzug und mit den eleganten Schuhen gehörte eher zur von ihr bevorzugten Klientel. Gut möglich, dass er irgendwann ein Klient von ihr werden würde, aber nicht heute, nicht so.
Auf dem Namensschild des Jungen, der an der Kasse ihre Einkäufe scannte und einpackte, stand «Martin», aber das bedeutete nicht unbedingt, dass er tatsächlich so hiess. Die Briten bevorzugten Servicepersonal mit Namen, die sie aussprechen konnten, und die meisten Unternehmen taten ihnen den Gefallen. Das Tattoo am Handgelenk zeigte seine Staatsbürgerschaft an – ein Ureinwohner Biafras – sowie die Klasse, der er angehörte: der dritten. Zweifellos wohnte er ausserhalb der Stadtgrenze, wurde erfasst, sobald er die elektronische Schwelle passierte, und jede seiner Bewegungen überwacht, bis seine Schicht zu Ende war und er die Stadt verliess. Er war noch einer der Glücklicheren.
Zurück am Auto warf sie einen Blick auf ihr Privathandy, eine Nummer, die nur ihr Vater, ihre Assistentin und Kioni kannten. Immer noch keine Nachricht. Kein Wort von Kioni, seitdem sie ausgezogen war. Sie musste doch wissen, dass Nneoma sich Sorgen machte, egal, wie sie auseinandergegangen waren. Keiner ihrer gemeinsamen Bekannten in Neukenia wusste, wo sie steckte, und unter Kionis Nummer nahm niemand ab. Vielleicht brauchte Kioni das, um sie aus ihrem Leben zu verbannen.
Auf dem Weg zur Schule verspeiste Nneoma zwei Äpfel und ein Brötchen und blätterte in ihren Unterlagen. Sie hatte schon viele solche Vorträge gehalten. Es ging dabei weniger um Informationsvermittlung als um die Identifizierung potenzieller Mathematiker, und die erkannten einander intuitiv. Sie liess den Finger über die Formel gleiten, so fasziniert wie eh und je. Sie hatte 57 Zeilen von ihr mitgebracht, obwohl sie nur einige wenige benötigen würde, um die Schüler auf die Probe zu stellen.
Als die Welt ins Wanken geriet, als Erdbeben die Erdkruste aufbrechen liessen und lange untätige Vulkane sich streckten, gähnten und losbrüllten, stürzten die Kirchen (Moscheen, Tempel) in sich zusammen – unter den Erschütterungen zerbröselten nicht nur die Bauwerke selbst zu Staub, sondern auch die Institutionen. Das Vakuum füllte Francisco Furcal, ein chilenischer Mathematiker, der eine Formel entdeckte, mit der sich das Universum erklären liess. Diese war, wie das Universum, unendlich, und die Vorstellung, dass die Formel kein Ende hatte – und damit, wer weiss, womöglich auch die Menschheit nicht? –, war genau das, was die Welt brauchte.
In jahrzehntelangen Experimenten mit dieser unendlichen Formel entdeckten die Wissenschafter Gleichungen, die mit der Anatomie des menschlichen Körpers übereinstimmten und so Tätigkeiten wie die Nneomas ermöglichten. Auf einem Computer im Zentrum lief die Formel rund um die Uhr, um ihre Unendlichkeit zu testen. Es gab Tausende und Abertausende Zeilen. Früher konnte man in der Zweigstelle in Südafrika an einer Führung teilnehmen und zuschauen, wie eine endlose Folge von Symbolen über einen Bildschirm lief wie bei einem Nachrichtenticker. Dann wurde das Zentrum für die Öffentlichkeit geschlossen, und erste Gerüchte machten die Runde, dass Furcals Formel falsch sei. Dass ihre Logik nach Millionen und Abermillionen von Rechenschritten, jenseits von allem, was ein Mensch in seiner Lebensspanne berechnen könne, ins Straucheln gerate. Dass sie nicht unendlich sei.
Es waren Gerüchte, nichts weiter, doch dann fiel ein Mann vom Himmel.
Als sie in Sichtweite der Schule kamen, sahen sie ein paar Demonstranten mit leuchtenden elektronischen Plakaten. Das Rot wütender Menschen. Amadi bremste.
«Madam?»
«Fahr weiter, es sind nur zehn.»
Bis sie hier fertig war, konnten es allerdings gut und gerne dreimal so viele sein. Woher wussten die immer genau, wo sie auftauchen würde?
Das Auto wurde am äusseren Tor der Schule durchgewunken, dann am inneren. Dort musste Amadi seinen Ausweis vorzeigen, einmal, dann ein zweites Mal. Als der Wachmann entschied, Amadi dürfe nicht innerhalb des inneren Tores warten, mischte Nneoma sich ein: ihr Fahrer, ihre Regeln. Erwartungsgemäss lenkte der Wachmann ein, und Amadi parkte den Wagen unter einem Vordach, wo er nicht in der Sonne stand. In Empfang genommen wurde Nneoma von Nkem Ozechi, der Schulleiterin, einer kleinen, hübschen Frau, deren Hände sie an die von Kioni erinnerten. Sie hatte etwas Selbstgefälliges und ihr Gang kündete von einem Übermass an Selbstbewusstsein. Sie redete mit Nneoma, als würden sie sich seit Jahren kennen. An einem anderen Tag wäre Nneoma vielleicht geschmeichelt, ihr Interesse geweckt gewesen, aber heute wünschte sie sich einfach nur, dass der Vortrag bald vorbei war, damit sie nach Hause fahren konnte.
Aus dem Klassenzimmer blickten ihr lauter gelangweilte Gesichter entgegen, die meisten waren dreizehn, vierzehn (hatte sie je so jung ausgesehen?), die wenigsten hatten Interesse oder eine Vorstellung von dem, was sie tat. Sie hatten nicht genügend Leid erfahren, um zu verstehen, wozu es Leute wie sie brauchte. Aber Schulen wie diese, in denen (laut Nkem Ozechi) die Besten und Intelligentesten aus mehreren Nationen versammelt waren, bezahlten dem Zentrum gutes Geld, damit jemand wie sie einen Vortrag hielt, und für sie war es ausserordentlich leicht verdientes Geld.
«Wie viele von euch können auf einen Blick erkennen, dass jemand traurig ist?»
Alle hoben die Hand.
«Wie viele von euch sehen, dass jemand traurig ist, auch wenn er oder sie nicht weint?»
Die meisten Hände blieben oben.
«Wie viele von euch können jemand Traurigen anschauen, erkennen, warum er oder sie traurig ist, und die Trauer aus der Welt schaffen?»
Alle nahmen die Hand runter. Jetzt hatte sie sie. Sie sprach fünfzehn Minuten, dann kam sie zum Ende.
«Manche von uns Mathematikern beseitigen Schmerzen, andere sind auf negative Gefühle spezialisiert, aber alle bringen wir die Gleichung der betroffenen Person in Ordnung. Die Mutigsten», sagte sie mit einem Augenzwinkern, «haben es sich in den Kopf gesetzt, den menschlichen Körper mit Hilfe der Formel in die Lage zu versetzen, der Erdanziehungskraft zu trotzen, etwa um zu fliegen.»
Alle kicherten, stand ihnen der abgestürzte Mann doch lebendig vor Augen.
«Dank Furcals Formel werden die intelligentesten Menschen eines Tages verstehen, was das Universum im Innersten ausmacht.» Für viele war die Formel ein Synonym für Gott, den so lange falsch Verstandenen. Sie waren überzeugt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Formel entdecke, mit der man Leben nicht nur manipulieren, sondern selbst erschaffen könne. Doch das war jenseits des Horizonts dieser Teenager; sie klatschten höflich Beifall.
Die Schulleiterin, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, trat vor, um die Fragerunde zu moderieren. Die ersten Fragen waren ebenso vorhersehbar wie dumm. «Können Sie jemanden verliebt machen?» Nein. «Können Sie Menschen unsichtbar machen?» Nein. Nkem Ozechi wäre es vermutlich peinlich gewesen zu erfahren, dass die Fragen auch keine anderen waren als in weniger hochkarätigen Schulen. Dann (ebenso vorhersehbar) stellte jemand eine Nichtfrage.
«Was Sie tun, ist falsch.» Von einem spindeldürren Jungen mit grossen Zähnen. Obwohl er so schlank war, hatte er etwas Weiches, Verhätscheltes.
Nneoma hob die Hand, um Nkem Ozechi daran zu hindern einzugreifen. Sie konnte mit so was umgehen. «Erklär, was du meinst.»
«Also mein Vater sagt, was Leute wie Sie machen, sei falsch. Sie sollten niemandem Leid abnehmen, weil Leiden etwas ganz Natürliches ist. Es gehört zum Menschsein dazu.»
Irgendwo hinten begann jemand zu klatschen, bis Nneoma erneut beschwichtigend die Hand hob. Sie musterte den Jungen. Er sass weit genug vorne, dass sie an seinem Handgelenk den Beruf seine Vaters (Anwalt) und seine Klasse ablesen konnte (erste). Sie hatte so manches Streitgespräch gegen Leute wie seinen Vater für sich entschieden, Menschen, die ein leichtes Leben gelebt hatten, mit leichten, zu bewältigenden Schwierigkeiten, und es dann wagten, ihre kümmerlichen Problemchen mit abgrundtiefem Leid zu vergleichen.
«Dein Vater und die Leute, die draussen demonstrieren, haben keine Ahnung, was echter Schmerz ist. Für mich sind ihre Ansichten zu dieser Frage ohne Belang. Ich würde niemals jemanden fragen, ob ein Gericht mehr Salz braucht, der es gar nicht probiert hat.»
Der Junge sass mit verschränkten Armen auf seinem Platz und schmollte. Sie hatte seine Meinung nicht geändert, das konnte man bei solchen Menschen nie, aber sie hatte ihn zum Schweigen gebracht.
In der anschliessenden Stille hob sich ein weiterer Arm. Nicht sie, dachte Nneoma, nicht sie. Sie hatte das Mädchen mit Erfolg ausgeblendet, seitdem sie das Klassenzimmer betreten hatte. Ohne einen Blick auf das Handgelenk des Mädchens wusste sie, dass es aus dem Senegal kam und von der Eliminierung betroffen gewesen war. Aus jeder Faser ihres Körpers sprach unendliche Traurigkeit.
«Dann können Sie sie also zum Verschwinden bringen?» Es war, als wären sie allein im Klassenzimmer.
«Ja.» Und um ihre Hoffnung im Keim zu ersticken: «Aber das ist eine streng reglementierte und teure Prozedur. Die meisten meiner Klienten bekommen hohe Zuschüsse vom Staat, doch Voraussetzung» – falls die Hoffnung noch nicht ganz zunichte war – «ist in jedem Fall die Staatsbürgerschaft.»
Das Mädchen senkte die Augen und kämpfte mit den Tränen. Wie zum Spott hing hinter ihr eine Karte an der Wand, auf der die ganze Welt ausgebreitet war, so, wie sie vor siebzig Jahren ausgesehen hatte, und so, wie sie heute aussah. Der Grossteil dessen, was einmal Nordamerika gewesen war, lag unter Wasser, und wo sich einst Europa befunden hatte, war Meer. Russland war ein überflutetes Grab. Die einzigen Kontinente, die das Meer sich nicht ganz oder teilweise geholt hatte, waren Australien und die Vereinigten Länder – das ehemalige Afrika. Angefangen hatte die Eliminierung nach einer Phase relativer Ruhe, nachdem die Franzosen das Vertrauen ihrer Gastgeber gewonnen hatten. Die senegalesischen Zeitungen, die Warnungen abdruckten, wurden als volksverhetzende Käseblätter abgetan, die sich Verschwörungstheorien aus den Fingern saugten. Doch dann kamen die Lager, die Razzien und die mysteriöse Krankheit, die Millionen dahinraffte. Dann die in ihren Betten ermordeten Minister. Und das Mädchen hatte das alles überlebt. Um hier gelandet zu sein, an einer Schule wie dieser, mit einem der wenigen Stipendien für vertriebene Kinder, musste das Mädchen Unvorstellbares durchgemacht haben. Das Gewicht ihrer Trauer war zu schwer. Nneoma verliess den Raum, dicht gefolgt von Nkem Ozechi, die ihr eilig hinterherstakste.
«Vielleicht werden einige von ihnen Mathematiker, wie Sie.»
Nneoma musste sich sammeln. Sie sah die Tür zur Damentoilette, ging hindurch und liess sie Nkem Ozechi vor der Nase zufallen. Keines dieser Kinder würde je Mathematiker werden; die Geniedichte in diesem Klassenzimmer war so gering wie in einem Fischteich.
Sie vergewisserte sich, dass sie allein war, beugte sich vor und atmete tief durch. Dass sie kaum je mit Flüchtlingen, echten Flüchtlingen arbeitete, hatte genau diesen Grund. Die Komplexität ihres Leids zehrte jedes Mal an ihr. Die einzige Situation, in der sie etwas emotional ähnlich mitgenommen hatte, war, nachdem ihre Mutter gestorben war und ihr Vater an seiner Trauer zugrunde zu gehen drohte. Wie konnte Nneoma ihm sagen, dass sie ihn nicht einmal ansehen konnte, ohne daran zu zerbrechen? Er würde nie verstehen. Am Tag, an dem sie versucht hatte, mit ihm zu arbeiten, versucht hatte, die Trauer ihres Vaters zu essen, verstand sie ein für alle Mal, weshalb es verboten war, mit engen Verwandten zu arbeiten. Ihre Trauer war zugleich die eigene, so dass man nie lange genug aus dem eigenen Kopf rauskam, um sie zu berechnen. Am Ende waren sie sich schluchzend in den Armen gelegen und hatten sich gegenseitig getröstet, bis ihr Vater so wütend über die Sinnlosigkeit des Ganzen, über die Nutzlosigkeit ihrer Begabung in diesem einen entscheidenden Augenblick geworden war, dass er Dinge gesagt hatte, die er nicht zurücknehmen konnte.
Knarrend öffnete sich die Toilettentür. Nneoma wusste, wer es war. Das Mädchen konnte nicht anders, als zu ihr zu kommen. Eine Zeitlang starrten sie sich gegenseitig an, das Mädchen unsicher, bis Nneoma die Arme ausbreitete und das Mädchen sich hineinfallen liess. Nneoma sah die Traurigkeit in ihren Augen und trug die Folgen davon in ein imaginäres Koordinatensystem ein. Ein Punkt die von Kugeln zerfetzte Mutter des Mädchens. Einer der eines Nachts von einer Schlägerbande verschleppte Bruder. Der Vater, der einem synthetischen Virus zum Opfer fiel, das das gesamte Melanin in seiner Haut zerstörte, bis sein Körper eine einzige offene Wunde war. Und andere, kleinere Blessuren: Hunger, der so heftig war, dass sie eine Handvoll Dreck nach der anderen geschluckt hatte. Das Verstecken vor den Männern, die ihr nach dem Tod ihres Vaters nachgestellt hatten. Das Einschleichen in ihrem alten Viertel, wo neue Häuser von den Glücklicheren unter den aus Frankreich Evakuierten bewohnt wurden, von jenen, die nicht zurückgelassen und dem Ertrinken anheimgegeben worden waren, und deren Kinder sie nun mit Steinen fortjagten wie einen Hund. Nneoma sah sich jeden noch so kleinen Schmerz an, zeichnete die Umrisse nach, wog die Masse. Und dann nahm sie sie ihr ab.
Niemand hatte je wirklich erklären können, was in diesem Moment geschah, warum ein Mensch einem anderen die Trauer abnehmen konnte. Es gab jede Menge mathematische Theorien, die darauf beruhten, dass ein Mensch im Grunde genommen ein Haufen Atome war, die von positiven und negativen Ladungen zusammengehalten wurden, eine Art Zellenmathematik. Eine ganz spezielle Gleichung. Ein Theologe hätte es vielleicht ein Wunder genannt, einen Gnadenkuss von Gott höchstpersönlich. Philosophen meinten, es seien in Wirklichkeit die Patienten, die ihre Traurigkeit losliessen. Aber auf dieser Toilette bedeutete es einfach, dass ein Mädchen eine unerträgliche Last mit sich schleppte und im nächsten Augenblick loshatte.
*
Die Heimfahrt verlief wortlos. Amadi, der ihre Unrast spürte, enthielt sich anders als sonst, wenn es sie in diesen Teil der Stadt verschlug, des beiläufigen Umwegs an der Kreuzung vorüber, an der man zum Haus ihres Vaters abbog. Zuhause angekommen ging Nneoma sofort ins Bett und nahm zwei von den Tabletten, die ihr zwölf Stunden Schlaf bescherten. Danach würde sie wieder so annähernd normal sein, wie es eben ging. Die ungefilterten Erinnerungen des Mädchens würden verblassen, bis sie eher einer Geschichte in einem Buch glichen, das sie irgendwann gelesen hatte. Dem Mädchen würde es ebenso ergehen. Der Schlaf kam, tief und schwarz, ein traumloser Zustand ohne Licht.
Am nächsten Morgen schaltete sie die Anlage ein und sah überwiegend dieselben Berichte wie am Vortag, nur dass sich mittlerweile die Witwe des Mannes zu Wort gemeldet und eine vorbehaltlose Überprüfung des Zentrumsarchivs und von Furcals Formel gefordert hatte. Nneoma schnaubte. Es war die Art von Forderung, mit der man sich leicht breite Unterstützung sichern konnte, aber die Wahrheit lautete: Die einzigen Experten, die über genügend Wissen verfügten, um irgendetwas zu prüfen, arbeiteten alle für das Zentrum, und sie bräuchten Jahrzehnte, wenn sie jede einzelne Zeile der Formel durchgehen wollten. Wahrscheinlicher war es eine Masche, um möglichst viel Geld herauszuschlagen, und das würde der Frau auch gelingen. Die Furcals konnten es sich leisten.
Nneoma gelobte, mindestens eine weitere Stunde zu warten, ehe sie ihre Nachrichten abrief, und machte sich für ihre tägliche Laufrunde fertig. Ein flüchtiger Blick zeigte, dass ohnehin keine Nachrichten eingegangen waren. Sie gab den Code ein, um das Tor hinter ihr zu verschliessen, streckte sich und lief los.
Der Lauf liess die letzten Spuren der Gespenster des Vortags von ihr abfallen. Später würde sie Claudine anrufen, um herauszufinden, wie ernst diese ganze Absturzgeschichte war. Aus juristischen Gründen würde die PR-Frau nicht viel sagen können, aber vielleicht lösten ein Abendessen und ein paar Drinks ihre Zunge. Auf den letzten eineinhalb Kilometern zog Nneoma das Tempo an, ohne es zu übertreiben. Das letzte Mal, als sie plötzlich losgesprintet war, hatte sie sich einen Muskel gezerrt, und der Schmerzesser, der ihr zugewiesen wurde, war ein grimmiger Mann, der keinen blassen Schimmer vom Umgang mit Patienten hatte. Während er mit ihr gearbeitet hatte, hatte sie seine Missbilligung gespürt. Zweifellos war er der Ansicht, sein Talent in diesem behaglichen Sektor nur zu verschwenden, und betrachtete diesen Einsatz als lästige Pflicht, ehe er in die Lager zurückkehren konnte. Nneoma konnte Mathematiker wie ihn nicht ausstehen, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Dass Kioni und sie es überhaupt so lange miteinander ausgehalten hatten, grenzte an ein Wunder. Als sie um die Ecke zu ihrer Siedlung bog, sah sie, dass sich vor ihrem Tor eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Demonstranten?, fragte sie sich erschrocken, doch dann erkannte sie die vertrauten Gesichter ihrer Nachbarn. Als sie näherkam, packte sie ein Mann, den sie erkannte, ohne dass sie seinen Namen wusste, an den Schultern.
«Wir haben sofort die Sanitäter gerufen. Sie hat an Ihr Tor getrommelt und geschrien. Das ist Ihre Freundin, oder? Ich hab sie mal mit Ihnen gesehen.» Er sah sehr besorgt aus, und plötzlich wollte Nneoma gar nicht wissen, wer da zu ihr wollte und warum.
Es war nur eine Bettlerin. Die Frau trug keine Schuhe und ihre Zehen waren Wunden. Wie um alles in der Welt hatte sie es geschafft, die Sicherheitskontrollen der Stadt zu umgehen? Nneoma wollte zuerst zurückweichen, als die Frau die Hand nach ihr ausstreckte, erstarrte jedoch, als sie ihre Finger sah, feingliedrig und spindeldürr wie Insektenbeine.
Diese Hände hatten einst ihren Körper gestreichelt. Sie hatte diese Handflächen einst geküsst und diese Finger in ihren Mund gesaugt. Sie hätte sie überall wiedererkannt.
«Kioni?»
«Nneoma, wir müssen hier weg, wir müssen sofort weg.» Kioni war ausser sich und sah sich ständig um. Jeder sichtbare Zentimeter Haut hatte irgendeinen Kratzer, einen Biss oder eine Schnittwunde abbekommen. Von ihrem sonst so tadellosen Schopf Dreadlocks war nur noch die Hälfte übrig, die Kopfhaut wund und höckerig, als hätte sie ihr jemand ausgerissen. Der Gestank, der von ihr ausging, war der von Abwasser.
«Oh mein Gott, Kioni, oh mein Gott.»
Kioni packte ihre Handgelenke und liess sie nicht mehr los. «Wir müssen los!»
Nneoma versuchte an dem Knoten des Entsetzens in ihrem Magen vorbeizureden. «Wer hat dir das angetan? Wo müssen wir denn hin?»
Kioni schüttelte den Kopf und sank auf die Knie. Nneoma versuchte eine Hand loszureissen, und als das misslang, drückte sie das Metallimplantat in ihrer Handfläche, das den Sicherheitsdienst im Zentrum verständigen würde. Die würden wissen, was zu tun war.
Von ihrer jetzigen Perspektive aus konnte Nneoma die Verletzungen der anderen Frau besser sehen. Die Kratzer und Bisse waren auf den Bereich unterhalb der Ellenbogen konzentriert. Irgendetwas nagte und nagte an ihr. Und dann fiel Nneoma der Australier wieder ein und die Geschichten, er habe versucht, sich selbst zu zerfleischen.
«Kioni, wer hat das getan?», wiederholte Nneoma, obwohl ihr Verdacht allmählich zu Gewissheit gerann und sie die Antwort fürchtete.
Kioni hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln und ihre Lippen aufeinanderzupressen wie ein Kind, das seine Lüge nicht beichten will.
Der Streit zwischen ihnen hatte angefangen, als Nneoma das Undenkbare tat. Jede Grenze in ihrer Beziehung (und eine Handvoll Regeln des Zentrums) missachtend, hatte sie Kioni gebeten, mit ihrem Vater zu arbeiten. Kioni, die sich freiwillig für die vertriebenen Senegalesen, Algerier und Burkiner und sogar für die Evakuierten meldete, war die Letzte, die sie um so etwas hätte bitten sollen, und sagte ihr das auch ins Gesicht. Nneoma hatte sie eine Scheinheilige genannt, und Kioni sie ein verzogenes reiches Mädchen, das seinen Schmerz zu wichtig nehme. Und dann hatte Kioni sie gebeten, auszuziehen.
Jetzt musste sie Kioni irgendwie zum Zentrum bringen. Was auch immer mit ihr vorging, musste in Ordnung gebracht werden.
«Sie kommen und kommen und kommen.»
Nneoma ging in die Hocke, um Kioni besser zu verstehen. Die meisten ihrer Nachbarn waren zurückgewichen und ausser Hörweite, vertrieben vom Gestank. «Wer kommt?», fragte sie, versuchte zu verhindern, dass Kioni ihr entglitt.
«Alle, siehst du sie nicht?»
Allmählich dämmerte ihr, was mit ihrer Ex-Freundin vorging.
Mit wie vielen Menschen hatte Kioni in den letzten zehn Jahren gearbeitet? Fünftausend? Zehn…? Zehntausend Traumata, die sich in ihrer Psyche drängelten und um die Aufmerksamkeit ihres Wirts buhlten. Was würde passieren, wenn man nicht vergessen könnte, wenn sämtliche Gefühle sämtlicher Menschen, deren Trauer man gegessen hatte, wieder hochkämen? Wenn irgendwann, nach Millionen und Abermillionen Permutationen, etwas mit der Formel schiefging, könnte es passieren. Dass eintausend vom Himmel stürzende Menschen auf einem landen.
Nneoma versuchte sich zu entziehen, die Augen zu schliessen und zu vergessen, aber sie konnte nicht. Ihr Instinkt übernahm, und sie begann hektisch zu rechnen. Die Dimensionen waren zu gewaltig. Zu gewaltig.
Der letzte klare Gedanke, den sie je fassen sollte, galt ihrem Vater; wie hochrot seine Last gewesen war, als sie sie zu schultern versuchte, und wie unendlich blass sie urplötzlich erschien.»
Lesley Nneka Arimah
ist vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und lebt in Minneapolis. Ihre hier erstmals auf Deutsch erscheinende Kurzgeschichte «What It Means when a Man Falls from the Sky» erschien dieses Jahr im gleichnamigen, von der Kritik hochgelobten Kurzgeschichtenband bei Riverhead. Sie ist für den Kirkus Prize nominiert. Web: www.larimah.com
Richard Barth
ist freier literarischer Übersetzer und lebt in Zürich. Web: www.richard-barth.de
Arianna Vairo
ist Illustratorin und Grafikerin. Sie lebt in Mailand. Web: www.ariannavairo.com