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Souveränität

Ein Porträt in zehn Bildern.

Souveränität
Christoph Frei, photographiert von Keto Schumacher für Prisma.

1. Motivation

Dass junge Leute heutzutage mit im Wortsinn grenzenloser Selbstverständlichkeit ihren Studienort im Ausland wählen, gehört zu den Errungenschaften eines befriedeten europäischen Raums. Grund für Dankbarkeit, müsste man meinen. «Not quite so», konstatiert Timothy Garton Ash. Er, der Zeithistoriker, sieht und spürt vor allem Gleichgültigkeit. Längst sei Europa insofern zum Opfer seines eigenen Erfolgs geworden, als jüngere Generationen nichts anderes mehr kennten als Frieden, schrankenlose Freiheit und materielle Sicherheit. Gerade darum aber – Opfer des Erfolgs – seien sie in keiner Weise mehr beseelt vom Impetus, den paneuropäischen Gedanken als kostbares Gut lebendig zu halten. Wenn er könnte, würde Garton Ash den sorglos-fröhlich-jungen Menschen auf dem Campus höchstpersönlich mehr Bewusstsein dafür einhauchen, was auf dem Spiel steht.

Im Hörsaal selbst, im direkten Austausch mit den Studierenden, stosse ich häufiger auf Neugier als auf Gleichgültigkeit. Offenkundig ist aber auch eine leichtfertig anmutende Oberflächlichkeit im Umgang mit den institutionellen Grundlagen und Voraussetzungen unseres guten Lebens – als ob die schiere Möglichkeit des jederzeitigen Zugriffs auf Daten und Informationen die vertiefte Auseinandersetzung überflüssig machte. Diese Beobachtung gilt nicht nur für Studierende: im Zuge fortschreitender Spezialisierung wird der gewaltenteilige Verfassungsstaat in den Bedingungen seiner Entstehung selbst für Dozierende – und sogar in den Politikwissenschaften – allmählich zur unbekannten Grösse. Die Menschenrechte seien 1789 entstanden, heisst es dann. Mischverfassung ist von gestern, wir in Europa machen Demokratie. Das völkerrechtliche Institut der Souveränität schliesslich, immerhin das mit Abstand wirkungsmächtigste Organisationsprinzip der politischen Moderne, fällt mittlerweile fast routinemässig vom Himmel. Das war 1648 – im Westfälischen Frieden.

Zur Souveränität folgt hier ein kurzer Versuch. Wenn die ersten, historischen Bilder dabei auf Frankreich zugeschnitten sind, bleibt dies der Sache selbst geschuldet: die originäre konzeptuelle Formatierung kommt von dort. Vom Kontext abstrahiert, finden allerdings alle Figuren ihre Entsprechung an unterschiedlichen Orten heutiger Weltinnenpolitik.

2. Vorstaatliche Fragmentierung

Bleiben wir also in Europa und drehen das Rad der Zeit um ein Jahrtausend zurück. Einen Staat nach heutigem Bild gibt es nicht, keine übergeordnete Entscheidungs-, keine Durchsetzungsinstanz, kein faktisches Monopol von Gewalt. Herrschaft ist zersplittert – und nicht etwa territorial gegliedert, sondern nach persönlicher Bindung: Schutz und Schirm von oben nach unten, Dienst und Beistand von unten nach oben. Es ist die hohe Zeit des Feudalismus. Auf der weltlichen wie auf der kirchlichen Seite teilt sich eine Vielzahl von Akteuren in der Ausübung dessen auf, was wir mit Staatsgewalt verbinden. Juristen gibt es nicht – was allerdings nicht bedeutet, dass Gerichtsbarkeiten und andere Befugnisse nicht geregelt wären: Sie unterliegen einem dichten Geflecht von Bindungen, die häufig auf göttliche Stiftung zurückgeführt werden und damit «immer schon» galten. Ergänzend steht die Fehde als primitives Verfahren der Konfliktlösung, der Übergang zum Faustrecht ist fliessend. Niemand hat jene «Ordnung» besser auf den Punkt gebracht als der britische Rechtshistoriker Samuel Finer: «Political authority resides nowhere in particular because it resides everywhere.»

So fragmentiert der soziale Raum, so durchdringend ist seine religiöse Einfärbung. Die wichtigste Aufgabe weltlicher Autorität ergibt sich nicht aus dem verblassten Erbe des römischen Kaisertums, sondern aus dem Grundtatbestand der res publica christiana. In dieser religiös-politischen Einheitswelt haben nicht nur Papst und Bischöfe ihr jeweiliges Ministerium zu tragen, sondern auch Kaiser und Könige, Herzöge und Grafen. Alle sind einbezogen in den Auftrag, den Ansturm des Bösen im gegenwärtigen Zeitalter aufzuhalten, der Wiederkehr Jesu den Boden zu bereiten. Der Rationalität jener Zeit entsprechend, beinhaltet auch der christliche Glaube ein Treueverhältnis gegenüber Gott, das ohne Wenn und Aber in den weltlichen Raum durchschlägt. Auf die Obrigkeit bezogen: sie muss Irrtum unterdrücken, Häresie verfolgen, falsche Lehren bekämpfen, Abtrünnige zur Rechenschaft ziehen, von «Hexen» bis hin zu Luther oder Zwingli.

3. Frieden

Auf die ungeheure Wucht der Reformation sind die sozialen Körperschaften der spätfeudalen Zeit nicht vorbereitet. In so grosser Zahl erobern die Protestanten Städte und Stände, dass die Unterwerfung der Ketzer nicht mehr gelingt. Frankreich gibt ein gutes, wenn auch nicht das ausgeprägteste Beispiel. Buchstäblich mit allen Mitteln, mit aller Macht und über geschlagene 36 Jahre hinweg versuchen die katholischen Guisen, durch die physische Ausrottung der Hugenotten den Frieden zu gewinnen.

Wenn A es nicht schafft, B zu unterwerfen; wenn die eigenen Wahrheiten absolut, damit unteilbar und Kompromissen unzugänglich sind; wenn überdies keine äussere Macht einen Schiedsspruch auferlegen kann – welche Möglichkeiten bleiben dann? Vor dem Hintergrund dieser konkreten Herausforderung wird das moderne Konzept der Souveränität in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vom Juristen Jean Bodin programmatisch formuliert. Wenn Katholiken und Protestanten nicht aufhören wollen, sich die Köpfe einzuschlagen, dann muss man ihnen das überkommene Eigenrecht nehmen, Kriege überhaupt zu führen. Schaffung und Erhaltung des Friedens setzen einen Akteur C voraus, der regelmässig überlegen ist – und neutral. Als Monopolist legitimer Gewalt unterwirft C sowohl A wie auch B und zwingt fortan beide Parteien wenn nicht in die Toleranz, so doch zum Verzicht auf Krieg.

Die intellektuelle und moralische Leistung Bodins erhellt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass ausgerechnet er – katholisch und tief religiös – das Politische auf der prinzipiellen Ebene von seiner religiösen Einbindung emanzipiert. Nicht der katholischen Sache muss die weltliche Autorität zum Sieg verhelfen, sondern Fundamente muss sie sichern. Zuerst kommt das Leben, dann die Moral. Die Verschränkung von Religion und Politik ist unhaltbar geworden, weil sie Krieg perpetuiert. Für Bodin und seine Mitstreiter folgt daraus mit Notwendigkeit der Rückzug der öffentlichen Gewalt in die konfessionelle Neutralität. Gleichzeitig aber – und offensiv formuliert – stellt sich der Souverän (!) machtvoll über die streitenden Parteien. Er subordiniert Religion im politischen Raum.

4. Staatswerdung als Prozess

Wenn C nicht vom Himmel fällt, woher kommt dann dieser machtvolle Souverän? Im Abgleich mit der Institutionengeschichte Frankreichs wird deutlich, dass Bodin nicht im Abstrakten antizipiert, sondern auf den Punkt bringt, was er als historischen Prozess erkennt – als eine Entwicklung, die 500 Jahre vor seiner Zeit begann.

Gemeint ist die schrittweise Ausschaltung sozialer Gegenkräfte oder, vom Zentrum aus betrachtet, die fortschreitende Konzentration von Herrschaftsansprüchen, ihre Verdichtung zur öffentlichen Gewalt. Nicht dynastischer Weitsicht war es dabei zu danken, wenn die Pariser Krondomäne stetig wuchs, sondern dem täglichen Kleinkrieg von Beamten an den Grenzen ihres Amtsbereichs – und der Bienenarbeit in Paris. Könige kamen und gingen; ein wachsendes Heer von Schreibern, Buchhaltern und Rechtskundigen aber wachte darüber, dass in der Auseinandersetzung mit ungebärdigen Vasallen, mit Städten und Ständen kein Anspruch jemals aufgegeben, keine Forderung vergessen, kein Einsatz ganz verloren wurde. Die schriftliche Fixierung und Fortentwicklung bestehenden Rechts ebenso wie die Konstruktion und argumentative Untermauerung einer französischen Version des Gottesgnadentums – all dies hätte nicht geleistet werden können, wären nach 1250 nicht ganze Schulen von Kirchenrechtlern in den Staatsdienst übergetreten.

Nicht am Anfang dieser epochalen Entwicklung, sondern an ihrem Ende konzeptualisiert Bodin den Übergang von der persönlichen Lehnsherrlichkeit zum unpersönlichen Institut einer über den Parteien stehenden Staatsgewalt – von der suzeraineté zur souveraineté. An die Stelle des feudalen Personenverbands tritt ein klar begrenzter Raum, aus dem König der Franzosen («rex Francorum») wird offiziell der König Frankreichs («rex Franciae») – und der fordert nicht länger Treue, sondern Gehorsam.

Freilich gibt es andere, auch nichtmonarchische Modelle. Neben territorial ausgreifenden Einheitsstaaten überleben sie als kleinere und kleinste Partikel, die durch lose Föderationen zusammengehalten werden – im Städtebündnis der Hanse etwa, in einer frührepublikanisch regierten Union in den Niederlanden oder im eidgenössischen Bund.

5.  Souveräne Machtvollkommenheit

Was sich in Frankreich paradigmatisch herausentwickelt, macht in Europa Schule. Um nach den konfessionellen Bürgerkriegen den Frieden zu wahren, beanspruchen Landesfürsten das Monopol der Zwangsgewalt auf ihrem Territorium. Zur Bezeichnung dieser neuartigen Herrschaftsform kommt der Begriff des Staates in Umlauf. Sein wichtigstes Attribut – bezeichnet im ebenfalls neuen Begriff der Souveränität – wird je nach Standort und Kontext mit mehr oder weniger Macht und Kompetenzen ausgestattet.

Auf der staatstheoretischen Seite geht der englische Philosoph Thomas Hobbes am weitesten. Gänzlich ungebunden soll der Souverän über das Recht verfügen, er selbst ist dessen einzige Quelle. Gewohnheitsrecht, sittliche Konvention, ständische Privilegien – alles schmilzt unter der Autorität Leviathans: «auctoritas, non veritas facit legem.» Der Souverän kann jede Kompetenz jederzeit an sich ziehen; er hält die öffentliche Gewalt ungeteilt in seiner Hand. Seine Macht gilt unbedingt und unwiderruflich. Ihre Legitimation durch Gesellschaftsvertrag impliziert einen Pakt gerade nicht zwischen Herrscher und Volk, sondern zugunsten eines Dritten: die Bürger verpflichten sich, alle Rechte auf den Souverän zu übertragen.

In der realpolitischen Umsetzung jener Zeit kommt Louis XIV dem Typus absoluter Herrschaft zweifellos am nächsten, wenn ihm auch eine Vielzahl von Grenzen erwachsen. Interessanter, ja faszinierend ist ein Regulierungs- und Kontrollanspruch, der selbst nach heutigen Massstäben erstaunt. Der Sonnenkönig sieht alles. Unter seiner vorausschauenden Führung ist die öffentliche Gewalt gehalten, Ordnung und Vernunft über Menschen zu bringen, die nicht vernünftig sind – und die sich selbst nicht helfen können. Dazu entwickelt Louis höchstpersönlich eine (von Daniel Engster wunderbar rekonstruierte) regulatorische Theorie des Staates, die wohl erst in der Gegenwart ihresgleichen wieder findet. Jedenfalls braucht es nicht viel Phantasie, im Auf- und Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaates eine Fortsetzung des panoptischen Traums zu erkennen. Der wachsende Bedarf an individualisierten Informationen ebenso wie der resultierende Ausbau techno- und bürokratischer Kontrollsysteme unterlegen diese Sicht.

6. Die Zähmung des Leviathan

Im globalen Westen ist souveräne Staatlichkeit noch im 21. Jahrhundert von einer Vitalität, die den Sonnenkönig überraschen müsste. Wie würde Ihre Majestät auf die Tatsache reagieren, dass die administrativen Offiziere eines demokratisch gewählten Präsidenten nicht 10 oder 12, sondern 57 Prozent der nationalen Wertschöpfung in Form von Steuern abschöpfen, um sie staatlicher Umverteilung zuzuführen?

Grösse und Effizienz von Verwaltungen sind eines. Fundamentale Veränderungen betreffen die Führung und Kontrolle der öffentlichen Gewalt. Welten liegen zwischen der rechtlichen Statur eines preussischen Königs und jener der deutschen Bundeskanzlerin. Welten will heissen: 350 Jahre Verfassungsgeschichte in Entsprechung zum politischen Ringen um die Verwaltung von Souveränität. Es ist die schwierige, aber eindrückliche Geschichte der sozialverträglichen Einbindung von Macht. Nicht auf die Tugend von Menschen wird dabei vertraut, sondern auf die Wirkung dauerhafter Institutionen.

In normativer Formulierung: Macht soll, erstens, durch Recht gebändigt werden. – Macht ist, zweitens, aufzuteilen und zu brechen, vertikal wie horizontal, funktional wie personal. – Vorstaatliche, überstaatliche, unveräusserliche Menschenrechte schaffen, drittens, staatsfreie Sphären; Staat und Gesellschaft treten auseinander. – Die der Macht Unterworfenen sollen, viertens, in Grenzen mitentscheiden. Dazu braucht es Bürgerrechte ebenso wie allgemeine, gleiche und freie Wahlen. – Anzustreben ist, fünftens, ein Ausgleich zwischen Reich und Arm. Staatlich induzierte Umverteilung ist dabei subsidiär zu verstehen. Vorstaatliche Solidarnetze wie Familie, Freunde, Nachbarschaft sollten nicht ersetzt, sondern ergänzt werden, wo Not es erfordert.

Rule of Law, Gewaltenteilung, Menschenrechte, demokratische Mitbestimmung, subsidiäre Hilfestellung – der St. Galler Staatswissenschafter Alois Riklin hat diese Institutionen in eine schlichte, aber wunderbar einprägsame Formel gefasst: Es sind Erfindungen gegen Machtmissbrauch – regulative Ideen, die jeder Gesellschaft als Zielpunkt wie als Korrektiv dienen können. Darauf angesprochen, was vom normativen Projekt der abendländischen Zivilisation zu halten sei, soll Mohandas Gandhi geantwortet haben: «I think it would be a good idea.»

7. Globale Ausstrahlung

Aus den normativen Vorgaben von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Menschenrechten ist im 18. und 19. Jahrhundert der liberale Verfassungsstaat hervorgegangen. Ergänzt um die Sozialdemokratie des 19. und 20. Jahrhunderts ergeben sich «westliche Verhältnisse». Man mag sie kritisieren, wie man will. Für Millionen von Flüchtlingen aus dem Rest der Welt sind es Inseln der Glückseligkeit.

Zu den wichtigsten Grundlagen privilegierter Räume solcher Art gehört ein Institutionenmix, der moderierte Souveränität begründet. Auf der Grundlage des Monopols physischer Gewaltsamkeit kann der Souverän zwingen, bleibt gleichzeitig aber vielfach eingebunden und kontrolliert. Hat es jemals eine Organisationsform gegeben, die elementare (und weniger elementare) öffentliche Güter zuverlässiger hergestellt hätte? Der souveräne Rechtsstaat schützt einen Raum, in dem sozialer Wandel möglich wird, aber in friedlichen Bahnen verbleibt. Er leistet Kontinuität. Er bietet Heimat und Zugehörigkeit. Er sorgt für die Effektivität des Rechts, für Sicherheit der Erwartungen. Zum privilegierten Leben gehören überdies Gesundheit, Bildung, öffentliche Infrastruktur.

Anzumerken bleibt, dass moderierte Souveränität zumindest in Europa fast überall in Eigenart gewachsen ist – in Spanien anders als in Schweden, in Grossbritannien anders als bei uns. Hier kommt ein Aspekt ins Spiel, der in der bisherigen Fokussierung auf die innere Ausgestaltung von Souveränität unerwähnt blieb. In ihrer klassischen, völkerrechtlichen Wirkung nach aussen gibt Souveränität seit bald vierhundert Jahren Anspruch auf eine unsichtbare Mauer, die Staaten schützt. Gründet der innere Frieden auf das staatliche Gewaltmonopol, so hängt der äussere Frieden an der wechselseitigen Respektierung souveräner Staaten untereinander, vorab also am Verzicht des einen auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen. Die Qualität der inneren Ordnung kümmert das klassische Völkerrecht wenig; im Gegenzug weist es Verantwortlichkeit konsequent den souveränen Staaten zu – nicht die geringste Leistung mit Blick auf die Hygiene des internationalen Systems.

8. Durchlöcherte Mauern

Von Katalonien bis Kurdistan: kann es überraschen, wenn souveräne Staatlichkeit nichts von ihrer Attraktivität eingebüsst hat? Als konstituierende Einheit des Völkerrechts verleiht sie Anspruch nicht nur auf territoriale Unversehrtheit, sondern auf Räume geschützter Autonomie. Beschränkung ist allein als Selbstbeschränkung denkbar, auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarung.

Wurde die öffentliche Gewalt im Innenverhältnis früh aufgebrochen und vielfältig eingebunden, so blieb die völkerrechtliche Armatur des internationalen Systems vom 17. bis ins 20. Jahrhundert bemerkenswert stabil. Mit der Entkolonialisierung breitete sich souveräne Staatlichkeit als europäischer Exportartikel über den Planeten aus. Momentan unterteilt sie 7,5 Milliarden Menschen in 194 anerkannte Staaten.

Seit dem Zweiten Weltkrieg mehren sich die Anzeichen dafür, dass diese völkerrechtliche Armatur nunmehr selbst – und unwiderruflich – aufgebrochen wird. Nichts, auch nicht eine junge, unstete Praxis der humanitären Intervention, hat die schützende Mauer der Souveränität in den vergangenen Jahrzehnten dabei so stark in Mitleidenschaft gezogen wie der fortschreitende Prozess der Globalisierung. Der epochale Abbau von Handelshemmnissen steigert Wohlstand, verschiebt aber gleichzeitig tektonische Platten: globalisierte Wirtschafts- und Gesellschaftsräume einerseits, souveräne Staatenräume anderseits sind nicht mehr deckungsgleich. Und längst sind Staaten nicht mehr autonom. Sie sind nicht einmal mehr alleinige Inhaber der Möglichkeit, legitim zu zwingen. Akte der öffentlichen Gewalt kommen immer häufiger von aussen – man denke an Resolutionen des UN-Sicherheitsrates oder Urteile aus dem Streitschlichtungsorgan der WTO. Die einzelstaatliche Verfassung schrumpft zu einer Teilordnung.

9. Suprasouveränität

Verharrt der Rest der Welt auf niedrigem Niveau freiwilligen Souveränitätsverzichts, so gehen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nochmals deutlich weiter. Das Primärrecht der Union bleibt zwar klassisches Vertragsrecht zwischen souveränen Staaten; das Sekundärrecht hingegen ist genuin europäische Gesetzgebung mit direkter Geltung. Eine Folge davon ist, dass innenpolitisch gewachsene, mehr oder weniger austarierte Institutionen von aussen aufgemischt und verändert werden. Wenn europäische Gerichtshöfe etwa mit Blick auf die Harmonisierung unterschiedlicher Menschenrechtstraditionen nationale Parlamente und Gerichte geradezu vor sich herjagen, steht objektiv mehr auf dem Spiel als die gute Laune der Gejagten.

Die Europäische Union bezeichnet den bis anhin konsequentesten Versuch, Souveränität unter den Bedingungen transnationaler Problemlagen neu zu formatieren. Über Jahrzehnte hinweg war dieser Gruppe der Luxus vergönnt, im Windschatten der Weltpolitik, jedenfalls unter dem sicherheitspolitischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten, ein einzigartiges Projekt voranzutreiben. Entstanden ist ein Gebilde, das sich auf die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen ebenso spezialisiert hat wie auf die funktionale Versachlichung ganzer Lebensbereiche.

Was diesem Gebilde allerdings noch immer an allen Ecken fehlt, ist ein geteilter Wille, der über Menschenrechte und Marktinteressen hinaus politisch trägt. Auf diesen Willen werden wir noch lange warten. «Frankreich» und «Ungarn», «Spanien» und «Schweden» sind über Jahrhunderte hinweg zu handlungsfähigen Strukturen mit eigener Identität erwachsen. Aus stolzen Nationalstaaten sind unterdessen zwar Mitgliedstaaten geworden, aber sechzig, dreissig und zehn Jahre Konkubinat schaffen weder ein europäisches Volk noch eine politisch handlungsfähige Einheit.

10. Nachruf

Was bis auf weiteres bleibt, sind wiederkehrende, nicht entrinnbare Spannungen und Widersprüche. Einerseits gilt, dass die funktionale Leistungsfähigkeit souveräner Staaten wohl auf lange Sicht hinaus unerreichbar bleiben wird. Tatsache ist aber auch, dass souveräne Staatlichkeit mit ihren systemischen Folgen – Sicherheitsdilemmata unter den Bedingungen von Anarchie –  je länger, desto weniger wird funktional genügen können. Nukleare Proliferation, Klimawandel, Cyberwar: wie lange werden adäquate Lösungen für neue, übergreifende Problemlagen an nationalen Ängsten und Egoismen scheitern?

Was sind Alternativen? Ist uns die Zeit vergönnt, sie geordnet zu entwickeln? Eine weitere Tatsache ist ja, dass die technologischen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts gegenwärtige Fundamente kräftig unterspülen. «God-like Technology» in den Worten des amerikanischen Biologen Edward Wilson – geschaffen in der Gegenwart, verwaltet über soziale Institutionen, die aus dem Mittelalter stammen.

Weiterwursteln oder vorwärtsmachen? Nicht erst seit Hiroshima versuchen wir mit aller Macht, neue Technologien und ihre Potenziale nationalen Interessen verfügbar zu machen, statt die Formen und institutionellen Bedingungen unseres Zusammenlebens neuen Möglichkeiten anzupassen. Fast schon krampfhaft «mauern» wir, klammern wir uns an den Status quo. Sind heutige Nationalismen noch etwas anderes als ein Ausdruck von Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Kontrolle, nach einer guten alten Zeit, die so nicht wiederkehrt?

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