Microtargeting
Wie der neue digitale Wahlkampf funktioniert.
Cambridge Analytica war bis vor wenigen Monaten eine eher obskure, ursprünglich aus London stammende Marketingfirma, die damit warb, sowohl für Donald Trump als auch für die Brexit-Kampagne psychologiebasierte Big-Data-Techniken eingesetzt zu haben. Was die Firma dabei wirklich getan und geleistet hatte, wird nun weltweit kontrovers diskutiert – u.a. weil mein Kollege Mikael Krogerus und ich im Dezember 2016 einen Artikel über das Unternehmen in der Zeitschrift «Das Magazin»1 veröffentlicht hatten, der zum meistgelesenen deutschsprachigen Text des Jahres 2016 im Netz wurde. Anfang März hat nun die britische Datenschutzbehörde ICO angefangen, die Brexit-Kampagne von Cambridge Analytica zu untersuchen. Der Verdacht steht im Raum, dass persönliche Daten widerrechtlich verwendet wurden – um Wähler zu beeinflussen. Das Verfahren hat erst begonnen, eines aber steht bereits fest: die Firma ist zum Inbegriff einer digitalen Manipulationstechnik geworden, die nicht nur viel weiter verbreitet ist, als bisher in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, sondern auch den bisherigen demokratischen Prozess untergraben könnte. Die Rede ist vom sogenannten Microtargeting – auf individuelle Empfänger zugeschnittene Informationsversorgung.
Wie der Terminus vermuten lässt, handelt es sich beim Microtargeting um eine Technik, die nicht nur im Marketing, sondern auch in den weltweit laufenden Informationskriegen und Desinformationskampagnen genutzt wird. Schon in den 1940er Jahren wurde von Kybernetikern wie Vannevar Bush und Norbert Wiener die Idee formuliert, Systeme durch angepasste Rückkopplungsprozesse, Feedbackschlaufen, Informationskreisläufe zu steuern. Klassisches Beispiel ist das Thermostat, das die Temperaturdaten des Thermometers empfängt und gegebenenfalls die Heizung anpasst, falls der vom Menschen eingestellte Sollwert nicht erreicht ist. Bald schon sahen andere Forscher, dass man ähnlich auch Wirtschaft und Staat steuern könnte. 1949 baute der Ökonom William Phillips – späterer Erfinder der Phillips-Kurve – einen Analogcomputer, der durch einen regelbaren Wasserkreislauf die Geldwirtschaft Grossbritanniens simulierte. 1971 experimentierte Salvador Allende mit einem Informationsnetzwerk namens Cybersyn zur Echtzeitsteuerung der chilenischen Planwirtschaft. Etwa gleichzeitig wurden in der ökonomischen Theorie die theoretischen Grundzüge der Spieltheorie und der psychologiebasierten Verhaltensökonomik formuliert, die sich mit der individuellen Verhaltenssteuerung durch berechenbare Anreizsysteme beschäftigten.
Psychologisches Microtargeting im Stil von Cambridge Analytica vereint diese beiden Ansätze: Individuen sollen durch einen speziell für sie hergestellten Informationskreislauf gezielt zu Handlungen bewegt werden. Dabei kann es sich um eine Kaufentscheidung handeln, aber auch um eine politische Wahl. Das Verfahren ähnelt dem von Händlern auf arabischen Basaren: Diese sind dafür bekannt, anhand von Details in Bewegung, Kleidung, Ausdruck und Sprache der Basarbesucher deren Herkunft, Interessen und Zahlungsbereitschaft so gut einschätzen zu können, dass sie Kunden viel Geld abnehmen und fast jedes Produkt verkaufen können. Auf einem Basar zahlt deshalb jeder Besucher seinen ganz persönlichen Preis für ein Produkt – ganz anders als Besucher eines westlichen Kaufhauses.
Der Basarhändler arbeitet auf Einzelfallbasis, und Allendes Sozialisten mussten noch mit Telegrafensystemen vorliebnehmen – die heutigen Technologien erlauben nun erstmals eine Umsetzung dieser Verfahren im grossen Stil, quasi in Echtzeit und auf Distanz, also auch mit Menschen, die man nie gesehen, geschweige denn je getroffen hat.
Data-Mining
Grundlage dafür ist die massenhafte Verbreitung von digitalen Empfangs- und Sendegeräten, wie Laptops, Smartphones oder sensorisierten, also «smarten» Haushaltsgeräten. 2012 besassen 48 Prozent aller Schweizer ein Smartphone, heute sind es 78 Prozent. Auf derartigen Geräten nutzen wir Programme, mittels derer wir unsere Innenwelt abbilden: Wir verzeichnen unsere Gedanken und Gefühlszustände, Aufenthaltsorte und sozialen Beziehungen, unseren Körperzustand – via Mails, Chatnachrichten, soziale Netzwerke, Computerspiele oder Fitnessapps. Aber auch unsere vernetzten Autos, Zahnbürsten mit Bluetooth, Kinderspielzeuge mit Cloudfunktion – alles erhebt, speichert, sendet unsere Daten. Was früher auf Papier in Stasi-Ordnern endete, steht heute per Kopie potenziell jederzeit überall bereit. Persönliche Daten haben deshalb Geldwert angenommen: «Gratisdienste» zahlen wir, indem wir unsere Eigentumsrechte an Daten übertragen. In schnell wegklickbaren Allgemeinen Geschäftsbedingungen stimmen wir diesem Geschäftsmodell beinahe täglich zu. Das Ergebnis ist ein explodierender Bestand an Daten, manche irrelevant, aber einige auch für bestimmte Zwecke besonders wertvoll.
Data Broker
In unserer Reportage «Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt» beschreiben Mikael Krogerus und ich, wie Cambridge Analytica versuchte, an einen Datensatz der Universität Cambridge zu gelangen, in dem Facebook-Likes von Millionen von Menschen gespeichert sind. Als das bekannt wurde, zwang Facebook die Firma, diese Daten zu löschen, also musste Cambridge Analytica neue Quellen suchen. Wo wurden die Mitarbeiter der Firma fündig? Bei sogenannten Data Brokern (dt. Informationsvermittlern), Grosshändlern von persönlichen Daten. Bei diesen kauft man beispielsweise Informationen über Clubmitgliedschaften, Einkaufsverhalten, Zeitungsabonnemente, Religionszugehörigkeiten, Grundbesitz, Kontaktdaten, Profilinformationen von sozialen Netzwerken usw. Data Broker existieren sowohl in den USA wie auch in Europa. Manche, wie Acxiom, sind milliardenschwere globale Unternehmen. Im Kern versuchen Data Broker alle erhältlichen Informationen zu Individuen zu sammeln – und zusammenzuführen. Sie funktionieren wie private Geheimdienste: Man kann bei Data Brokern in den USA ziemlich einfach die Adressen aller Bürger, die statistisch beispielsweise als Muslime oder Juden eingeschätzt werden, kaufen. Da die zugrunde liegenden Daten aufgrund der Gratisdatenwelt oft frei kursieren, sind derartige Datensätze für wenige Cents pro Person erhältlich. Oft existieren Mindestmengen von etwa 10 000 Kontakten bei der Abnahme. Ähnlich, aber aufgrund der Datenschutzgesetze in geringerem Umfang funktioniert es auch in Deutschland und in der Schweiz, Adresslisten von Personen mit bestimmten Eigenschaften zu erwerben. Es ist beispielsweise nicht mehr besonders schwierig, wohlhabende «ZEIT»-Abonnentinnen in Hamburg ausfindig zu machen.
Profiling & Analytics
Während die zugrunde liegenden Datensätze zu einzelnen Aspekten der Personen oft «anonymisiert» sind, lassen sie sich so zusammenführen, dass sich im Resultat das digitale Abbild einer Person ergibt, ein sogenanntes Profil. Dabei sucht man bestimmte Übereinstimmungen in Datensätzen – oft findet man so schnell zu Echtnamen. Aus einem möglichst vollständigen Aggregat kann man nun versuchen, Interessen oder auch politische An- und Absichten zu erkennen. Gesucht werden Muster in grossen Datenmengen, die es ermöglichen, aus vorderhand völlig andersartigen Informationen beispielsweise politische, sexuelle oder religiöse Eigenschaften zu ermitteln. So lässt sich beispielsweise aus den Orten, zwischen denen sich ein Mensch bewegt, leicht sein ungefähres Einkommen schätzen. Ähnlich lassen sich Persönlichkeitsfaktoren wie Ängstlichkeit oder Offenheit beispielsweise aus vorderhand wenig aussagekräftigen Handy- oder Social-Media-Daten ziehen – und anschliessend der statistische Zusammenhang solcher Eigenschaften mit Parteivorlieben errechnen –, um schliesslich zu entscheiden, bei welchen Typen es sich am meisten lohnen würde, sie anzusprechen, um sie beispielsweise für eine Wahl zu gewinnen. Weil es in den USA öffentliche Wählerlisten mit Namen und Adressen gibt, können dort Datensätze leichter deanonymisiert werden als etwa in der Schweiz.
Targeting
In Donald Trumps Kampagne wurden die republikanischen Wahlhelfer über Apps informiert, wo sie potenzielle Wechselwähler antreffen könnten und über welche Themen sie mit ihnen reden sollten. So wurden auch individualisierte Postzusendungen erstellt. Niemand ist von diesem System ausgeschlossen, auch Menschen, die glauben, offline zu sein, sind irgendwo digital verzeichnet.
Die meisten Daten sammeln aber weiterhin soziale Netzwerke wie Facebook, wo man sich heute bereits über Werbeplattformen einloggen und sich aussuchen kann, wen man wie und wann erreichen will. Sie wollen weibliche Pendler morgens im Zug nach Zürich ansprechen? Kein Problem: Facebook hat diese Informationen längst gesammelt (das Unternehmen nutzt nicht nur eigene Daten, sondern kauft auch bei Data Brokern fehlende dazu). Wie die Botschaft an die Adressaten genau auszusehen hat, damit sie wirksam werden kann, ist klassisches Werbehandwerk – bei dem man natürlich alle psychologischen Erkenntnisse nutzen kann.
Aufgrund der Zielgenauigkeit von Ad-Targeting können auch miteinander in Kontakt stehende Gruppen gezielt und gleichzeitig angesprochen werden: Arbeitskollegen, Nachbarn, Freundeskreise. Im Optimalfall entsteht so eine 1:1-Ansprache, der Kandidat spricht direkt seinen Wähler an. Es geht dabei auch nicht nur um Bilder und klassische Werbebotschaften, denn auch «Fake News», nachrichtenähnliche Texte, lassen sich derart designen und an Mann oder Frau bringen. Viele Medienhäuser bieten heutzutage an, Werbebotschaften im Nachrichtenstil unter eigenem Namen zu verfassen; man nennt das dann «Native Advertising». Diese Inhalte unterscheiden sich nur durch kleine Hinweise von journalistischen Texten; ungeübte Mediennutzer sehen keinen Unterschied.
Wie wirksam das Targeting mit Bild, Ansprache oder Native Advertising ist, lässt sich messen. Facebook erkennt, welcher Anteil der Empfänger eine gewisse Anzeige anklickt, wie lange sie sie betrachteten, wie oft sie sie weiterleiteten und so weiter. Vieles davon erfährt der Werbende, um anschliessend seine Massnahmen anpassen zu können. Ähnlich die Rückläufe bei verschiedenartig gestalteten Spenden- oder Unterschriftenaufrufen, die testweise zwei ähnlichen Vergleichsgruppen zugespielt werden. So fliessen immer neue Daten ins System, es entsteht eine Art Kreislauf. Politische Kandidaten erfahren heutzutage so fast in Echtzeit, welche Schlüsselwörter bei einer Rede beispielsweise besondere Wirkung entfalten – und können dementsprechend agieren. Der politische Kandidat wird so zur simplen physischen Verkörperung und zum Sprachrohr eines stetig dazulernenden Optimierungsmechanismus. So funktioniert digitaler Populismus. Das US-Wahljahr war golden für Facebook. Aber auch in totalitären Systemen lässt sich mit solchen Techniken gutes Geld verdienen.
Limits
Inwieweit welche Targetingverfahren wirklich effektiv sind, wie weit sie real verwendet werden, welche Art von Profil erstellt wird – all das ist von aussen nicht mit Sicherheit zu sagen. Hinter verschlossenen Türen von privaten Unternehmen und politischen Kampagnenleitungen lässt sich die Wahrheit gut verstecken. Cambridge Analytica beispielsweise hat sich einerseits als «Supercharger» der Brexit-Kampagne Leave.EU präsentiert – andernorts aber die Zusammenarbeit mit Leave.EU an sich abgestritten. Je mehr recherchiert wird zum Thema, desto mehr verwickelt sich das Unternehmen in Widersprüche – und desto klarer wird damit, dass unsere Daten von Unternehmen gekauft werden können, denen man kaum vertrauen kann. Es verwundert deshalb kaum mehr, dass die Mutterfirma von Cambridge Analytica auch im Militärbereich arbeitet und beispielsweise ein Psy-Ops Center für die Nato aufbaut.
Was tun in diesem Zusammenhang die Gesetzgeber? Die vorderhand klar wirkenden rechtlichen Grenzen der EU-Datenschutz-Grundverordnung jedenfalls scheinen sich durch «Offshore»-Ansiedlungen umgehen zu lassen. Cambridge Analytica stammt eigentlich aus London, hiess dort SCL Elections, gründete sich aber im US-Steuerparadies Delaware unter anderem Namen neu. Anschliessend trat man in Grossbritannien dann als US-Firma auf – und ermöglichte wohl ein «laserscharfes Targeting», wie es Leave.EU-Financier Arron Banks auf der Leave.EU-Seite nannte. Auch für Fachleute ist es in solchen Fällen nicht einfach zu erkennen, welche Normen bezüglich Datenschutz angewendet werden sollen. Im Zweifelsfall tanzt man durch stetige Neuentwicklungen den Gesetzgebern einfach auf der Nase herum.
Für Big-Data-Firmen wie Cambridge Analytica mag sich der EU-Austritt Grossbritanniens als Glücksfall erweisen, da so einige der härtesten Datenschutzstandards weltweit für sie wegfallen könnten. Zudem ist im Anschluss an die US-Wahl bekanntgeworden, dass die neue US-Administration überlegt, die Datensätze und darauf basierenden Marketingmethoden als Regierungsmittel zu nutzen. Cambridge Analytica hat Büroräume gegenüber dem Weissen Haus angemietet, und der Profilingservice Palantir unterstützt Donald Trump bei der Bekämpfung der Immigration. Langsam wird erkennbar, dass eine neue Herausforderung für die Demokratie entsteht: die vielschichtige, aber doch gemeinsame öffentliche Wahrnehmung wird gezielt atomisiert. Auch dafür gibt es einen Namen, man kennt ihn aus der Welt der Computerspiele: virtuelle Realität.
1 Mikael Krogerus und Hannes Grassegger: «Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt». Web: https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/