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Lernen in der Politik – geht das?

Sachzwänge und Ideologien verbauen wichtige Lösungswege für komplexe Probleme. Wie lässt sich das ändern?

Lernen in der Politik – geht das?
Politiker haben mit vielen Hürden zu kämpfen, wenn es um die Umsetzung neuer Erkenntnisse geht, wie im Falle TTIP: mulitlaterale und komplizierte Vertragswerke, Widerstand aus der Bevölkerung – und: verquere historische Vergleiche. Bild: Greenpeace-Aktion in Wien, November 2014. Imago / Eibner Europa.

«Es ist keine Schande, nichts zu wissen, wohl aber, nichts lernen zu wollen.» Die mahnenden Worte von Sokrates haben sich im 21. Jahrhundert pervertiert. Heute wird sehr wohl erwartet, dass man «alles» weiss, für das Lernen hingegen bleibt trotz gutem Willen kaum noch Zeit. So jedenfalls der Eindruck mit Blick auf unsere Politikerinnen und Politiker. Selbstverständlich würde sich niemand gegen das Offensichtliche aussprechen: Lebenslanges Lernen und Lernen von «Best Practices» liegen im Trend und die Verlautbarungen dazu sind allgegenwärtig. Kein Wunder, denn die drückenden und komplexen Herausforderungen moderner Gesellschaften fordern und überfordern zuweilen jeden und jede.

Bloss: wo und wie findet das Lernen im politischen Alltag eigentlich statt? Gibt es Spuren, die auf Gelerntes schliessen lassen? Der rhetorische und auch etwas zynische Charakter dieser Fragen lässt sich nur unschwer verbergen. Denn wer kennt sie nicht, die träfen Geschichten im vertrauten Kreise, wo viele sich über die Unfähigkeit der Politik, aus Fehlern zu lernen, lustig machen. Untermauert wird dies durch historische Analysen, wie jenen der Pulitzer-Preisträgerin Barbara Tuchman, die minutiös nachweist, dass politische Systeme über Jahrhunderte hinweg selten gelernt und erwiesenermassen häufig dieselben Fehler begangen haben.

Lernen in der Politik ist also kein Selbstläufer und man wundert sich, was die für die Bestimmung des Lernbegriffs zuständige Disziplin, die Erziehungswissenschaft, zur Klärung beiträgt. Während Pädagogen von Rousseau bis Pestalozzi sich selbst unter Lebensgefahr zur Politik ihrer Epoche zu Wort gemeldet haben, vernimmt man von den Erziehungswissenschaftern unserer Zeit wenig. Wohl nehmen sie zu Fragen der Bildungspolitik Stellung, aber nicht, wenn es um die Lösung aktueller Probleme in der Politik geht. Dabei liegt ein reicher Fundus pädagogischen, andragogischen bis hin zu Konzepten des organisationalen Lernens vor, was bei näherem Hinsehen durchaus zur Gestaltung politischer Lernprozesse beitragen könnte. Voraussetzung dazu ist aber die Bereitschaft, sich mit den Ursachen von Lernresistenzen in der Politik auseinanderzusetzen. Welche lassen sich ausmachen und wie lassen sie sich überwinden?

Die Lernbarrieren

Um es vorwegzunehmen: es geht hier nicht darum, politische Akteure mit pädagogischen Tricks in die Schulstube zurückzuholen. Dazu ist die zu behandelnde Materie zu ernst. Es geht vielmehr darum, sie mit erprobten Konzepten bei ihren schwierigen Arbeiten zu unterstützen. Denn einmal in Amt und Würden, sehen sie sich trotz guten Vorsätzen schnell einmal Handlungszwängen ausgesetzt, die sie zu spontanem und überhastetem Handeln verleiten. In der Hektik des Alltags gewichten sie zwangsläufig Wahlversprechen, multiple und sich widersprechende Erwartungen, Loyalitäten, konkurrierende Ideologien etc. höher als das Befolgen durchdachter und durch Lernen erworbener Entscheidungsgrundlagen. Die Anwendung von neuem Wissen ist zudem immer auch mit nicht abschätzbaren Gefahren behaftet, und Entscheidungsträger müssen sorgfältig abwägen, ob sich dieses Risiko lohnt. Nicht zu unterschätzen ist ferner, dass Lernbereitschaft als Eingeständnis ausgelegt werden kann, eben nicht zu wissen: Etwas, das in Politik und medial aufgescheuchter Öffentlichkeit schwerlich toleriert wird.

Politische Protagonisten sind auch deshalb nicht frei in ihrem Handeln, weil sie überdies von komplexen verfahrens- und finanztechnischen sowie rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen abhängig sind. Die Umsetzung neuer Erkenntnisse hängt in hohem Masse von der Unterstützung politischer Behörden ab: Fehlen die nötigen finanziellen und organisatorischen Ressourcen, bleibt das Gelernte schnell einmal auf der Strecke. Ebenso, wenn es verfassungsmässigen Prinzipien oder internationalem Recht widerspricht. Zu berücksichtigen sind ausserdem Referendumsrechte, die es dem Souverän jederzeit erlauben, politische Veränderungen zu blockieren. Letztlich hängt es auch von einer Legislaturperiode ab, ob der Zeitpunkt für die Umsetzung von Gelerntem angemessen ist oder nicht.

Womit das Lernen beginnt

Über die Jahrhunderte hinweg sind zahlreiche Lernkonzepte entstanden, aus denen sich ein Narrativ über das Lernen in der Politik herleiten lässt. Im Sinne von «Blended Learning» spricht man von der Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze zur Erklärung eines empirischen Phänomens. Vielen dieser Konzepte gemeinsam ist, dass deren Ursprung einer «Disruption» bzw. einer vorausgehenden Störung geschuldet ist. In der Politik ist das in der Regel eine Blockade, deren Lösung unbekannt oder bekannt, aber nicht mehrheitsfähig ist. In der Lerntheorie sind solche Problemstellungen nicht das Ergebnis eines Konflikts oder einer Meinungsverschiedenheit, sondern die Konsequenz fehlenden Wissens, wie die Störung zu beheben ist.

Wenn aber das Wissen fehlt, wie soll dann gelernt werden? Von den Erfahrungen der politischen Akteure selbst? Dies ist eine naheliegende und durchaus gängige Praxis. Politiker und Politikerinnen werden gewählt, weil sie vorgeben, zu wissen oder zumindest besser zu wissen als ihre Kontrahenten. Im Lichte der oben genannten Analysen ist dies jedoch ein Fehlschluss, denn das Lernen aus Erfahrungen alleine führt (fast) unweigerlich zur Wiederholung altbekannter Fehler. Ausserdem lassen sich die Probleme des 21. Jahrhunderts kaum nur mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit lösen. Beunruhigend ist ferner, dass mit dem Auffrischen von Vergangenem die damit verbundenen Emotionen und Aggressionen wiederbelebt werden, was einen Lernprozess zusätzlich belasten kann.

Nichtsdestotrotz: Erfahrungswissen spielt in jedem Lernverfahren eine wichtige Rolle, wenn nicht explizit, dann implizit. Menschen entwickeln sich über soziale Interaktionen und gesellschaftliche Normen weiter, die sie stets mit sich tragen. Diese Form der Sozialisation ist dafür verantwortlich, dass das, was immer sie tun und denken, letztlich durch ihre lebenslang erworbenen Denk- und Verhaltensmuster geprägt ist.

Das Referenzwissen

Damit sich ein politisches Problem in einem Lernverfahren beheben lässt, bedarf es im Sinne der Kybernetik eines Lernstimulus, der einen Prozess auslöst. Dies geschieht, indem die Betroffenheit und Neugierde der Lernenden auf ein neues, womöglich unbekanntes Wissen geleitet wird. Dabei wird vom Referenzwissen gesprochen, das mit der Problemstellung verwandt, aber nicht identisch oder kopierbar ist. Wichtig ist dessen Praxisbezug wie beispielsweise Lösungsansätze, die sich in ähnlich gelagerten Fällen anderswo bewährt haben und deshalb auf eine breite Akzeptanz stossen. Es geht primär darum, die Aufmerksamkeit der Beteiligten weg vom Altbekannten und hin zu vorwärtsgerichteten und inspirierenden Ideen zu lenken.

Die Nichtübertragbarkeit des Referenzwissens erfordert, dass die Lernenden darin unterstützt werden, sich der Differenz ihres eigenen und des vorgegebenen Wissens gewahr zu werden. Zu Beginn des Lernprozesses werden sie deshalb aufgefordert, dieses Referenzwissen nach Gesichtspunkten zu prüfen, die für die gegebene Problemstellung relevant sein könnten. Damit werden fremde Wissensbestände aus der eigenen Sichtweise heraus validiert und für mögliche künftige Problemlösungen vorgemerkt.

Wissen in der Politik ist von Natur aus mehrperspektivisch, widersprüchlich, temporär und nicht verallgemeinerbar. Um das Referenzwissen fachkundig und umfassend zu bewerten, sind alle zum Thema relevanten Perspektiven zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind die am Lernprozess zu beteiligenden Personen nach ihren fachlichen Qualifikationen auszuwählen, so dass sie im Kollektiv über alle problemrelevanten Kompetenzen verfügen. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt somit nicht primär, wie üblicherweise der Fall, aufgrund von Parteizugehörigkeit oder hierarchischer Stellung, sondern aufgrund fachlicher Expertise.

Die individuelle und die kollektive Reflexion

Lernen wird somit nicht nur als lineare Aneignung von Wissen verstanden, sondern auch als zirkuläre Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, die Verknüpfungen mit Bekanntem und das Erkennen von Regelmässigkeiten erlaubt. In einer so entstehenden Interaktion tauschen die Lernenden ihre Erkenntnisse gegenseitig aus und suchen aus den aggregierten Wissensbeständen nach Überschneidungen und Wiederholungen. Generell wird nur jenes Wissen ausgetauscht, das im direkten Zusammenhang mit der Problemlösung steht. Meinungsäusserungen sind möglichst auf die vorangehenden Aussagen zu richten, und zwar so, dass sie gezielt auf jene Inhalte Bezug nehmen, die von besonderem Interesse sind. Diese spontanen und fragmentarischen Beiträge hinterlassen zwar Lücken, erlauben aber den Beteiligten, genau dort nachzufragen und zu vertiefen, wo neue, bisher ungedachte Lösungsansätze vermutet werden. Dank dieser inhaltlichen Verdichtung lassen sich neue Denkmuster und Trends ableiten, die letztlich zur Problemlösung beitragen.

Das neugewonnene Wissen muss dabei nicht von allen Beteiligten getragen werden. Im Gegenteil: das Streben nach Konsens behindert den Lernprozess, weil dabei wieder alte Verhaltensmuster aufbrechen, in denen es vorwiegend um die Dekonstruktion anderer politischer Haltungen oder um das Streben nach dem eigenen Vorteil geht. Dieses gemeinsam entwickelte Wissen hat also viele Eltern, da es aufgrund der Beiträge aller zustande kommt. Die individuelle Betroffenheit und Verbundenheit mit dem neu generierten Wissen wird zusätzlich gefördert, indem die Lernenden die neuen Erkenntnisse vor dem Hintergrund ihrer ursprünglichen Haltung auf ihre Relevanz prüfen – und nach Bedarf berichtigen.

Die Projektion

Den Praxisbezug und die Nachhaltigkeit des Wissens in der Politik zu sichern, erfordert demnach die Übertragung des erworbenen Wissens auf das individuelle Handlungsfeld. Im Lernprozess sind deshalb konkrete Szenarien zu planen, wie sich das Wissen im jeweiligen persönlichen Umfeld mehrheitsfähig machen und institutionell verankern lässt. Das Umsetzen der Summe dieser individuellen Pläne in den politischen «Courant normal» trägt zur Verbreitung des neuen Wissens bei und fördert dessen politische Durchschlags- und Wirkungskraft.

Wichtig bei diesem Lernprozess ist, dass die Lernenden jederzeit im Bilde sind, ob sie mit dem, was sie tun, auch die erhoffte Wirkung erzielen. Darum auch die grosse Bedeutung organisationslerntheoretisch begründeter «Feedback Loops», dank denen die politische und institutionelle Umsetzung von generiertem Wissen bewertet und gegebenenfalls revidiert wird. Auf diese Weise wird fortlaufend ein gegebenes Referenzwissen validiert, reflektiert und auf künftige Aktivitäten projiziert. Ein Konzept, das in einem solchen zirkulären Verständigungs- und Lernmechanismus begründet ist, ist die «Gouvernementale Lernspirale». Diese gibt nicht nur die strukturellen Vorgaben vor, sondern definiert auch die sozialen und kommunikativen Bedingungen, die das Lernen in der Politik begünstigen.

Soziale und kommunikative Bedingungen

Die Bereitschaft, an einem solchen Lernprozess teilzunehmen, kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Mit der zunehmenden Dringlichkeit, ein politisches Problem zu lösen, wächst aber der Druck, sich daran zu beteiligen und sein Wissen einzubringen. Dies umso mehr, wenn bekannt wird, dass andere, als wichtig erachtete Personen dabei sind. Voraussetzung sind zudem transparente und für alle nachvollziehbare Prozessschritte, die den Lernenden das Gefühl der inneren und äusseren Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit vermitteln. Dabei spricht man von der Gestaltung eines sogenannten «depolitisierten» Raumes. Darin werden jedem einzelnen Teilnehmenden die didaktischen Schritte, ihre Begründung sowie die geltenden Kommunikationsregeln erklärt. Wichtig ist das Vermitteln der Ergebnisoffenheit des Prozesses: Die inhaltlichen Ergebnisse sind unbekannt, bekannt hingegen ist der Weg dorthin.

Zu den sozialen Regeln gehört insbesondere das Rollenverständnis der Teilnehmenden: In einem solchen Verfahren sind sie sogenannte Wissensträger, gleichrangig und gleichwertig. Entsprechend egalitär werden sie behandelt: Alle erhalten dieselben Vorinformationen und dieselbe Sprechzeit. Im Lernprozess ist jeder Lehrer und Schüler zugleich: Zur Teilnahme berechtigt die Bereitschaft, Wissen einzubringen, die Gegenleistung dafür ist, dass die anderen dasselbe tun. Grundsätzlich sind keine vorbereiteten Referate oder offizielle Stellungnahmen zugelassen. Ein «Learning Broker» organisiert und moderiert das Ganze und sorgt dafür, dass die geltenden Abmachungen eingehalten werden. Politische und institutionelle Fesseln der Teilnehmenden werden dadurch zweitrangig, was Raum für spontanes und problemzentriertes Denken schafft. Emotionale und zwischenmenschliche Empfindlichkeiten lassen sich so minimieren.

Auf dem Weg zu einer neuen politischen Lernkultur

Damit das im depolitisierten Raum erworbene Wissen seine Wirkung im ordentlichen demokratischen Prozess entfalten kann, wird dieses nach den individuellen Plänen der Lernenden gezielt verbreitet, umgesetzt und bewertet. Das Ziel des Lernprozesses ist die Förderung individueller und kollektiver Handlungskompetenzen zur Lösung politischer Probleme, zur Überwindung von Blockaden oder zum Lernen von besten Praktiken. Nicht besonders kreative und innovative Inhalte, sondern die Art und Weise, wie sie entwickelt und umgesetzt werden, steht im Vordergrund. Ist das neu erworbene Wissen in der Praxis nicht umsetzbar oder mehrheitsfähig, gilt es dieses in weiteren Lernschlaufen so lange weiterzuentwickeln, bis es über die notwendige politische Durchsetzungskraft verfügt. Als Lernforen dienen herkömmliche Konferenzen, Workshops, runde Tische oder E-Learning-Events.

Dank dieser Methode der Gouvernementalen Lernspirale lassen sich unter Einbezug erziehungswissenschaftlicher Ansätze Lernprozesse in der Politik erfolgreich gestalten. Dies kann überall und zu jedem politischen Thema geschehen, wie beispielsweise bei der multidimensionalen Wirtschaftsanalyse in Myanmar im Auftrag der OECD, der föderalen Neuordnung in Deutschland oder der Bekämpfung des Hepatitis-C-Virus in der Schweiz. Der Nachweis, dass die Erziehungswissenschaft zur Lösung komplexer politischer Probleme beiträgt, ist also erbracht: Sie steuert damit seit Jahren ihren Anteil zu einer neuen Lernkultur in der Politik bei, wenn auch nicht so augenfällig und offensichtlich, wie sich dies manch einer wünschen würde. Das sokratische Wohlwollen gegenüber den Politikerinnen und Politikern dürfte sich so Schritt für Schritt wieder zurückgewinnen lassen.

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