INTRO
«Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu sagen, dass der Fortschritt der Zivilisation hauptsächlich darin besteht, dass wir als Individuen lernen, unsere Wünsche hinsichtlich besonderer Dinge allgemeinen Regeln zu unterwerfen. Aber die Mehrheiten sind noch nicht in diesem Sinne zivilisiert.» – Friedrich August von Hayek
Meine Freundin und ich, wir werden uns bald einen Rentner «halten». Grund dafür ist das Schweizer Rentensystem, genau genommen: die Weigerung von Volk und Politik, es endlich dem demographischen Wandel anzupassen. Wo einst nämlich ein AHV-Bezüger von einem halben Dutzend Einzahler getragen wurde, kommt diese Aufgabe in absehbarer Zeit zwei Beitragszahlern zu.
Das Rentensystem ist nur ein Beispiel von vielen: In den letzten Jahrzehnten ist ein ganzer Berg solcher «Wünsche hinsichtlich besonderer Dinge» – geäussert in ihrem Sinne von demokratischen Mehrheiten oder politisch einflussreichen Pressure-Groups – in Recht und Gesetz übergegangen. Einmal dort installiert, lassen sich diese gewährten «Extrawürste» kaum mehr aus der Welt schaffen. Die Kumulation ist längst mehr als bedenklich: Mit 38,8 Milliarden umverteilten Franken wurde jüngst ein neues Allzeithoch bei der staatlichen Bevorteilung bestimmter Branchen (Subventionen) erreicht – Tendenz steigend. In diesen Branchen spielt also meist nicht nur deutlich weniger Wettbewerb, was Effizienz und Innovation hemmt, den Privathaushalten fehlen eben jene 38,8 Milliarden, um zu investieren oder vorzusorgen. Die «Wünsche hinsichtlich besonderer Dinge», denen der wirtschafts- und sozialpolitische Umverteilungsapparat gern nachkommt, machen damit inzwischen fast zwei Drittel der Bundesausgaben aus. Auch die Sozialausgabenquote (im Verhältnis zum BIP) hat sich von 7,6 Prozent im Jahr 1950 auf aktuell etwa 27 Prozent erhöht. Den «sozial Schwachen» wird ungeachtet der Unkenrufe von links also mehr «geholfen» als je zuvor. Inzwischen werden schon «sozial Schwächere» finanziell und rechtlich bevorteilt. Das beginnt bei der Suche junger Familien nach einem Krippenplatz, setzt sich bei jener nach «bezahlbarem Wohnraum» fort und endet – buchstäblich – beim oben bereits erwähnten Rentensystem: Das Bundesamt für Sozialversicherungen meldete kürzlich, dass in der kommenden Dekade allein aufgrund des demographischen Wandels über 130 000 zusätzliche Vollzeitstellen geschaffen werden müssen, um den vor Jahrzehnten formulierten und immer wieder bestätigten Ansprüchen nachzukommen. Das AHV-Defizit wird bereits in weniger als 20 Jahren über 6 Milliarden Franken betragen, in 30 Jahren dürften es schon 9 Milliarden sein.
Die meisten dieser «besonderen Dinge» sind Einlösungen von harmlos klingenden Versprechen, die sich verschiedene Gruppen von Schweizern an der Urne einmal selbst gegeben haben – die meisten davon in der prallen zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als die vielen einzelnen Extrawürste opportun und zahlbar schienen. Eines hatten sie aber seither stets gemeinsam: Die ständig steigenden Rechnungen gehen an immer weniger Einzahler. Wer nun meint, das Zurückbinden der mannigfaltigen und längst unbezahlbaren Ansprüche stosse auf den Beifall derer, die vorgeben, sich politisch für «Gerechtigkeit» und «Chancengleichheit» einzusetzen, wird enttäuscht: sachdienliche Reformvorhaben scheinen weder in der Politik noch an der Urne länger mehrheitsfähig – deshalb werden sie mitsamt den steigenden Kosten auf künftige Generationen abgeschoben. Und zwar – wie kürzlich bei der «Rentenreform» zu beobachten war – ohne mit der Wimper zu zucken.
Die vielen Umverteilungsextrawürste sind damit längst zum Spaltpilz der Gesellschaften und der Generationen geworden. Sie sorgen nicht für mehr «Gerechtigkeit» (vgl. unser Dossier zur sozialen Mobilität hier), sondern für neue Verteilkämpfe und sozialen Unfrieden. Dass die Mehrheiten sich in absehbarer Zeit und «in diesem Sinne zivilisieren» werden, wird leider immer unwahrscheinlicher.
Michael Wiederstein
Chefredaktor