Gerechtigkeit und Populismus
Was ein falscher Begriff von Gerechtigkeit mit dem Erfolg von Protestparteien zu tun hat.
«Es reicht!» Auf diese leicht verkürzte Formel könnte man ein in jüngerer Zeit in vielen westlichen Ländern sehr beliebt gewordenes Politikrezept bringen. Nennenswerte Teile der jeweiligen Bevölkerungen protestieren gegen das, was man in den letzten Jahren als Zumutung von oben empfunden hat, ausgeheckt – so sehen es die Beteiligten – von abgehobenen, wenn nicht gar korrupten Eliten. Rechts- wie linkspopulistische Bewegungen und Parteien (also solche, die der antagonistischen Logik von «Volk versus Elite» folgen) wenden sich gegen Einwanderung und Frauenquoten, gegen «Brüssel» oder den Klimaschutz.
Die Bewertung dieser politischen Veränderungen könnte unterschiedlicher nicht ausfallen: Während die einen sie als ernsthafte Gefahr für offene, westliche Gesellschaften sehen, betrachten andere sie als Reanimation der Demokratie oder zumindest als Denkzettel für ein erstarrtes etatistisches System. Diese gegensätzlichen Betrachtungsweisen finden sich auch im liberalen Spektrum. Trotz gewisser Bauchschmerzen etwa angesichts protektionistischer oder fremdenfeindlicher Tendenzen ist unter Liberalen die Ansicht überraschend weit verbreitet, dass populistische Bewegungen selbst zwar nicht unbedingt liberal sind, aber ihr Erstarken gewissermassen eine List der Geschichte ist, die sich zugunsten der Freiheit auswirken kann. Sie werden als Aufstand der Strasse interpretiert, der bedeutet, dass die Regierten des Beschränktwerdens überdrüssig geworden sind. Nun machen sie sich auf, die Regierenden zu beschränken, befinden sich also im Einklang mit segensreichen Ideen wie der Gewaltenteilung, checks and balances oder der rule of law, die ebenfalls alle das Ziel verfolgen, die Macht der Herrschenden zu beschränken. Müssen Liberale, selbst wenn sie mit vielen Elementen populistischer Bewegungen hadern, diesem Grundimpuls nicht positiv gegenüberstehen?
Ein Vergleich populistischer und liberaler Weltanschauungen fördert demgegenüber fundamentale Differenzen zutage, die sich in ganz konkreten politischen Vorstellungen niederschlagen. Ob es die Ablehnung des Freihandels oder der Personenfreizügigkeit (Front National, Linke, SVP usw.) ist, zur gesellschaftlichen Norm erhobener sozialer Konservatismus (vertreten etwa von der nationalkonservativen PiS, die in Polen regiert) oder sogar offene Fremdenfeindlichkeit (UKIP, FPÖ) – Liberale stossen sich an vielen Elementen des politischen Populismus, die im Rahmen einer liberalen Philosophie kaum zu rechtfertigen sind. Hinzu kommt eine nicht unerhebliche konsequentialistische Betrachtungsweise: würden all diese populistischen Forderungen und Vorstellungen praktisch umgesetzt, zöge dies automatisch erhebliche Einschränkungen von Freiheit nach sich.
Es scheint also, dass Liberale sich bei der Beurteilung der Auswirkungen populistischer Bewegungen in einer Zwickmühle befinden.1 Auffällig ist auch: je weniger wirtschaftliche Themen im engeren Sinn betroffen sind, desto stärker wird insbesondere bei eher konservativen Liberalen die Hoffnung, dass der Feind des eigenen Feindes, wenn er schon kein Freund ist, zumindest ein Verbündeter sein möge. Ihre Lesart: wenn eine populistische Bewegung (oder auch nur die Angst vor ihr) liberalen Positionen zum Durchbruch verhilft, dann ist für die Freiheit in der Summe etwas gewonnen. Wenn also der Brexit sich letztlich als Katalysator für EU-Reformen erweisen sollte, müsste man aus liberaler Sicht dann nicht auch denjenigen dankbar sein, die aus illiberalen Beweggründen für den Austritt Grossbritanniens aus der EU gestimmt haben?
Inwieweit sich die Hoffnung auf freiheitsförderliche Konsequenzen des Populismus bewahrheiten wird, kann erst die Zukunft zeigen. Unabhängig davon, ob sie sich als naiv oder berechtigt herausstellt, bedarf diese Position aber bereits heute einer konzilianten Haltung gegenüber den weltanschaulichen Differenzen. Wer dazu nicht bereit ist und zum Beispiel Donald Trump etwa wegen seiner Einstellung gegenüber Frauen für untragbar hält, wird das Freiheitspotenzial des Populismus wohl eher gering einschätzen. Ein möglicher Freiheitsgewinn am Ende wiegt nach dieser Lesart den unterwegs entstandenen Schaden nicht auf. Wer hat nun recht?
Falsches Gerechtigkeitsverständnis
Die grundsätzliche Skepsis gegenüber populistischen Bewegungen, so viel bereits an dieser Stelle, ist berechtigt. Selbst wenn sie sich in Einzelfällen als Kooperationspartnerinnen liberaler Anliegen darstellen sollten, ist die Gefahr gross, dass diese Geister, einmal gerufen, ein höchst unerwünschtes Eigenleben entwickeln. Daneben gibt es aber ein zweites, strukturelles Problem, das gerade in Diskussionen zwischen den beiden grob skizzierten liberalen Positionen zu wenig bedacht wird. Es besteht darin, dass die Diagnose vom Populismus als «Aufstand der Strasse gegen abgehobene Eliten» vielleicht nicht gänzlich falsch, aber doch einseitig und unvollständig ist. Denn diese – das Wahlvolk positiv, die Eliten negativ zeichnende – Auffassung hinterfragt weder ihre sympathiebedingten Zuschreibungen noch prüft sie, ob der Anspruch, der hinter dem Unmut der Wählerinnen und Wähler steckt, nicht zumindest in Teilen selbst problematisch ist. Was bedeutet das konkret?
Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass dieser Aufstand sich nämlich gerade nicht gegen die illiberalen Züge der Staaten und ihrer Bürokratien richtet, sondern vielmehr gegen die liberalen Seiten westlicher Gemeinwesen. Das zeigt sich an fremdenfeindlichen Elementen wie am Zuspruch zum sozialen Konservatismus. Besonders deutlich wird es jedoch bei den sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen – und zwar auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums. All diesen Protestparteien und politischen Anti-Establishment-Bewegungen ist nämlich ein verqueres Gerechtigkeitsverständnis inhärent, das Gerechtigkeit nicht im Sinne eines unparteiischen «gewaltfreien Dissensmanagements» (Wolfgang Kersting) versteht, sondern als einen Zustand, in dem die eigenen Ansprüche befriedigt wurden2. Die von Populisten häufig bemühten Motive sind daher Tauschgerechtigkeit, wenngleich nicht unter diesem Namen, und Verteilungsgerechtigkeit. Es lässt sich leicht zeigen, dass diese Gerechtigkeitsprinzipien in der hier vertretenen Form theoretisch nicht haltbar sind. Erst recht sind sie mit liberalen Vorstellungen unvereinbar:
1) Tauschgerechtigkeit
Über Kriterien eines gerechten Tausches hat bereits Aristoteles nachgedacht. Seine Lösung lautete: der Wert der Tauschgüter soll einander entsprechen. Für viele Menschen hat diese Definition nach wie vor Gültigkeit. Dementsprechend ist es wenig überraschend, dass sie sich in den Forderungen populistischer wie anderer Parteien niederschlägt. Man wettert gegen «Dumpingpreise» oder «ausbeuterische Löhne» und fordert stattdessen «anständige» Bezahlung für anständige Arbeit bzw. Produkte. Mieten sollen «bezahlbar» bleiben, was man durch Mietpreisdeckelungen zu erreichen hofft. Auch Donald Trump hängt einem aristotelischen Verständnis von Tauschgerechtigkeit an, wenn er sich wünscht, dass für jedes deutsche Auto in den USA ein US-amerikanisches Exemplar in Deutschland herumfährt. Und selbst die für viele Liberale zunächst so positiv klingende Leistungsgerechtigkeit ist nur eine Sonderform dieses verqueren Denkens.
Der Haken an der Sache ist: eine solche Tauschgerechtigkeit kann es gar nicht geben. Denn sie setzt voraus, dass Güter oder Leistungen einen objektiven Wert haben. Doch einen objektiven und damit auch einen anständigen, fairen, gerechten Wert oder Preis gibt es nicht. Der Grund dafür ist, dass jede Bewertung ein rein subjektiver Akt ist. In Abhängigkeit davon, ob uns etwas gefällt, ob es uns nützt oder ob es uns stört oder gar schadet, werden wir dem Gut oder der Leistung einen höheren oder niedrigeren Wert zumessen. Und der fällt nun einmal von Mensch zu Mensch verschieden aus. Wer auf Homöopathie schwört, wird homöopathische Tropfen sehr viel höher bewerten, als das Menschen tun, für die Homöopathie schlicht Hokuspokus ist. Auch die Situation kann sich auf die Bewertung eines Objektes auswirken: Wenn Sie hungrig sind und in Eile, dann werden Sie eher bereit sein, einen recht happigen Preis für ein eher trockenes Brötchen am Bahnhofskiosk zu bezahlen, als wenn sie sich auf dem Heimweg nach einem opulenten Abendessen befinden.
Da es also unmöglich ist, den objektiven Wert eines Gutes oder einer Leistung zu bestimmen, ist es folglich auch nicht möglich festzustellen, ob der Wert zu tauschender Objekte ähnlich hoch ist. Doch wie lässt sich dann bestimmen, ob die Tauschparteien einen in ihrer subjektiven Bewertung gerechten Gegenwert bekommen haben? Dafür muss eine Bedingung erfüllt sein: der Tausch muss freiwillig ablaufen. Denn wer würde schon freiwillig einem schlechten, unnützen oder gar schädlichen Tausch zustimmen? Sofern sich alle Beteiligten einig sind, dass sie einen Tausch in vereinbarter Weise durchführen möchten, ist er – Betrug und Zwang ausgeschlossen – gerecht.
Doch dieses Freiwilligkeitskriterium verträgt sich nicht mit Markteingriffen und Preisfestsetzungen, wie sie in Mindestlöhnen oder Mietpreisfestlegungen enthalten sind. Auch die Forderung nach Leistungsgerechtigkeit unterstellt, es gäbe eine bestimmte Gegenleistung, die zu erhalten gerecht wäre. Hier gilt ebenfalls, dass immer nur die konkrete Tauschpartnerin bestimmen kann, wie hoch der Wert des Geleisteten für sie ist. Wenn die Parteien hierüber Einigkeit erzielen, dann ist der Tausch gerecht.
Entscheidend ist, dass dieses Kriterium – ganz in Übereinstimmung mit liberalen Überzeugungen – Eingriffe in freiwillige Tauschhandlungen, aus welchen politischen Motiven sie auch immer erfolgen mögen, ausschliesst. Populistische Politikvorstellungen fordern hier jedoch nicht selten das genaue Gegenteil. Das lässt sich u.a. an den G20-Abschlusserklärungen ablesen: Während sich die erste Konferenz 2008 noch emphatisch für freien Handel als Grundlage für Armutsbekämpfung und bessere Lebensverhältnisse weltweit aussprach, setzte Donald Trump 2017 unter dem Label des «fairen Handels» sein Verständnis von Gerechtigkeit durch – und das besteht ganz offensichtlich darin, dass Produkte und Dienstleistungen jedenfalls in der Summe nur gegen ihre US-Gegenstücke getauscht werden dürfen.
2) Verteilungsgerechtigkeit
Ähnliches lässt sich in bezug auf populistische Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit feststellen. Allgemein bedeutet Verteilung das Ausgeben aus einem Vorrat, und gerecht ist es, wenn die, die den Vorrat geschaffen haben (kriminelle Aktivitäten ausgeschlossen), über dessen Verwendung entscheiden dürfen. Nicht nur dem Populismus dient der Rückgriff auf einen offenbar nicht weiter begründungsbedürftigen Anspruch auf einen Teil des Kuchens als Rechtfertigung für dann geradezu notwendige Staatseingriffe.
Doch diese Argumentation übersieht, dass die Gerechtigkeit einer Verteilung sich nicht danach bemisst, ob ein bestimmtes Muster eingehalten wurde, sondern davon abhängt, dass die Berechtigten ihre Vorstellungen durchsetzen konnten. Die spendable Tante handelt also nicht etwa gerecht, wenn und weil sie allen Nichten und Neffen den gleichen Betrag schenkt, sondern vielmehr dann und deshalb, wenn sie Geld und Schokolade nach ihrem Gutdünken unter den Kindern verteilt. Wie diese gerechte Verteilung aussieht, das weiss aber immer nur die Tante. Die Anmassung, den «richtigen», «gerechten» Anspruch einer Gruppe auf geschaffenen oder noch zu schaffenden Wohlstand dank einer Art volkswilleninspirierter regierungsamtlicher Weisheit bestimmen zu können, atmet bei tatsächlichen Verteilungsmassnahmen wie Umverteilungen, vielen Sozialleistungen oder der Privilegierung einzelner Industrien eine ähnliche Hybris wie die Behauptung, in den Kopf anderer Menschen schauen zu können oder gleich besser zu wissen, was die Mitmenschen eigentlich wollen.
Diese Wahrheit ist ebenso unangenehm für Liberale wie für Populisten. Denn sie zeigt, dass die Populisten sich in diesem entscheidenden Punkt allenfalls graduell von etablierten Parteien unterscheiden: Auch diese sind sehr geübt darin, die Ansprüche einiger Gruppen zu Fragen der Gerechtigkeit zu erklären. Partikularinteressen werden virtuos zum Gemeinwohl umdefiniert. Dass mehr und mehr nationalistische Argumente Eingang in dieses politische Spiel finden, ist aus der Sicht weltoffener Liberaler mehr als bedauerlich. Diese Entwicklung ändert aber rein gar nichts daran, dass das Spiel längst ein falsches war.
Politische Bewegungen und Parteien sind mit ihrem Dilemma übrigens nicht allein: auch die Gerechtigkeitstheorie bemüht sich seit langer Zeit redlich, den Bürgerinnen und Bürgern weiszumachen, dass der Himmel auf Erden eben doch möglich sei – man müsse nur ihren Rezepten folgen. Und damit schliesst sich ein unheilvoller Kreis: wenn sich der versprochene Erfolg einfach nicht einstellen will, weil er sich nicht einstellen kann, liegt auf der Hand, dass immer neue Enttäuschung und immer neuer Protest vorprogrammiert sind.3
Die Konsequenzen einer freien Gesellschaft
Bleibt als letzte Frage, weshalb so viele Liberale sich scheuen, die Parallele zwischen Populisten und «politics as usual» wahrzunehmen, und populistische Bewegungen sehr viel positiver sehen, als eine nüchterne Analyse der politischen und weltanschaulichen Gemeinsamkeiten rechtfertigen würde. Ein Teil der Erklärung besteht aus einer unangenehmen Wahrheit: Auch für Liberale ist es nicht immer leicht, mit den Konsequenzen einer freien Gesellschaft zu leben. Auch Liberalen gefällt nicht automatisch jede Veränderung, und wie fast alle Menschen empfinden sie viele der Entscheidungen ihrer Mitmenschen als Zumutung. Die schreckliche Musik und die geschmacklose Kleidung, dass sie unvernünftige Dinge glauben, unhaltbare politische Ansichten haben und vieles mehr.
Doch es ist der Sinn von Freiheit, genau das zu ermöglichen, und ihr Preis ist es, die Zumutungen der Mitmenschen zu ertragen. Diesen Preis zu zahlen ist selten leicht und bisweilen nachgerade schmerzhaft. Trotzdem ist der Freiheit besser gedient, wenn sich auch und gerade Liberale dieser Herausforderung einmal öfter stellen, statt ihr Heil in falschen Gerechtigkeitslehren und diese durchsetzenden Rigorismen zu suchen.
1 Michael Wohlgemuth hat das mit Blick auf die Europäische Union in der Sonderpublikation «Ein Europa der Zukunft» (Mai 2017) des «Schweizer Monats» wunderbar auf den Punkt gebracht: «Zwar dürften diese politischen Bewegungen einen ‹grossen Sprung nach vorn› in eine übermässige Zentralisierung und Harmonisierung einer historisch beispiellos vielfältigen EU zu bremsen vermögen. Gleichzeitig drohen sie jedoch einen Sprung zurück zu provozieren, weg von den liberalen Errungenschaften der europäischen Integration: offene Märkte, Freihandel, Toleranz und grenzüberschreitende Zusammenarbeit.»
2 Es ist leicht einzusehen, dass das allenfalls im Paradies gelingen kann, wir auf Erden aber wohl mit einer bescheideneren Lösung vorliebnehmen müssen, weil unsere so unterschiedlichen Präferenzen und Bedürfnisse nicht sämtlich unter einen Hut gebracht werden können.
3 Die Nähe zu etablierten Parteien und bekannten Mustern der Wählerbewirtschaftung entspricht nicht dem Selbstbild der Populisten, und auch für ihre Wahlchancen ist es entscheidend, dass sie den Eindruck der Systemferne und des Andersseins aufrechterhalten können. Insofern ist es gut nachvollziehbar, dass populistische Bewegungen sehr darauf bedacht sind, ihre vermeintliche Eigenart zu betonen. Nebenbei bemerkt: die auch in diesem Artikel genutzte behelfsmässige Trennung in populistische und andere bzw. etablierte Parteien spielt dem durchaus in die Hände.