Der grosse Umbau
Was Digitalisierung bedeutet – und was auf die Schweiz zukommt.
Was hat es auf sich mit der Digitalisierung? Seit etwa zwei Jahren ist der Begriff plötzlich in aller Munde. Dabei digitalisiert die Computerindustrie schon seit über 70 Jahren die Welt. Man bildet Aufgaben und Probleme aus der realen Welt im Computer ab und löst sie dort digital. Das fing mit dem Entziffern verschlüsselter Funksprüche durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg an und breitete sich dann nach dem Krieg rasch auch im zivilen Bereich aus. Warum also gerade jetzt?
Offenbar haben viele Menschen erkannt, dass manche anstehenden Probleme, sei es der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie oder der Atomausstieg, nur durch eine weitere Digitalisierung dieser Wirtschaftszweige gelöst werden können. Wenn man das Stichwort bei Google Trends eingibt, stellt man seit zwei Jahren einen sprunghaften Anstieg der Suchanfragen dazu fest – und häufig wird im Zusammenhang mit dem Wort Industrie 4.0 oder Energiewende gesucht. Man erhofft sich Antworten oder zumindest eine Ahnung von Zukunft.
Technologischer Sprung
Man sollte den Transformationsprozess, in dem wir uns befinden, keinesfalls unterschätzen. Die Digitalisierung, die wir heute erleben, ist weit mehr als der graduell steigende Einsatz von Informationstechnologie in etablierten Wirtschaftszweigen. Sie schafft völlig neue Märkte und Wirtschaftszweige wie die Sharing Economy oder soziale Netze und zerstört damit und mit ihren neuen Geschäftsmodellen etablierte Unternehmen. Dazu gleich mehr – lassen Sie mich erst einen kurzen Blick zurückwerfen.
Wir befinden uns heute in einer radikal beschleunigten zweiten Phase der Digitalisierung. Die Ursachen dafür liegen in sechs technischen Entwicklungen der vergangenen 10 bis 15 Jahre begründet: So hat man dank des Cloud-Computing die Möglichkeit, je nach Bedarf von überall her auf ungeheure Rechen- und Speicherleistung zuzugreifen, dabei jedoch nur zu bezahlen, was man tatsächlich nutzt. Die mobile Revolution (das iPhone ist gerade mal 10 Jahre alt) bedeutet, dass praktisch jeder Bürger ständig online ist. Er trägt eine Vielzahl von Sensoren mit sich herum, die Lokation (nicht nur im Freien), Bewegungsmuster und viele andere Parameter erfassen. Ständig angeschlossen und vermessen werden etwa auch Schiffscontainer, Lastwagen oder Heizgeräte: Günstige Sensoren, leistungsfähige Prozessoren und drahtlose Kommunikation ermöglichen das Internet der Dinge, mit dem man Maschinen überwachen und so miteinander verbinden kann, dass sie ein intelligenter Teil einer Fabrik oder gar ganzer Lieferketten werden. Die Technologien, um mit den dadurch entstehenden wirklich grossen Datenmengen, Big Data, umzugehen, sie zu analysieren und daraus Entscheidungen und Vorhersagen abzuleiten, sind dank Open Source einfach verfügbar und dank Cloud Computing anwendbar. Wir nutzen soziale Netze, um uns miteinander auszutauschen, zu informieren und digitale Fingerabdrücke unserer Interessen oder gar Persönlichkeit zu hinterlassen. Schliesslich hat in den vergangenen fünf Jahren auch die künstliche Intelligenz sprunghafte Fortschritte gemacht. Computer sind schon heute bei gewissen Bilderkennungsaufgaben besser als der Mensch.
Diese Technologien haben alle gleichzeitig einen Reifegrad erreicht, der ihre weltweite Nutzung ermöglicht. Mittlerweile haben über zwei Milliarden Menschen Zugang zum Internet. Das ergibt die perfekte Gelegenheit für Firmen, die diese Technologien meistern, mit Hilfe von Software ihre Mitbewerber hinter sich zu lassen und ganze Wirtschaftszweige zu revolutionieren.
Warum Software die Welt regiert
Mark Andreessen, der Gründer von Netscape, veröffentlichte 2011 im «Wall Street Journal» einen Aufsatz mit dem Titel «Why Software Is Eating the World». Darin legte er sehr überzeugend dar, warum Software in den kommenden Jahren Bestandteil nahezu jedes Produktes und jeder Dienstleistung werden würde. Er postulierte, dass sich alle Unternehmen, egal in welchem Sektor, zu Softwarefirmen entwickeln müssten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ausser Informatiker interessierte sich 2011 kaum jemand für diesen Artikel. Heute, keine sechs Jahre später, hat sich die Situation deutlich verändert. Einige sehr konkrete Beispiele belegen den Trend: Firmen wie Uber, Facebook oder Airbnb haben mit enormer Geschwindigkeit und ohne grosse Infrastrukturinvestitionen ganze Industrien mit ihren neuen Geschäftsmodellen und einem bislang nie da gewesenen Kundenfokus auf den Kopf gestellt.
Aber auch in der klassischen Industrie, etwa im Automobilbau, gibt es neue digitale Mitbewerber. Ein prominentes Beispiel ist Google mit seinen selbstfahrenden Autos. Der Elektroautopionier Tesla liess sich im Gegensatz zur traditionellen Autoindustrie nicht von der schlechten Qualität der damals verfügbaren Batterietechnologie abschrecken – eben weil er auf Software setzte. Man nutzte diese, um aus eher ungeeigneten Laptopbatterien eine leistungsfähige und intelligente Batterie für das Auto zu bauen. Beide Firmen haben die Autoindustrie derart verunsichert, dass nun – aus Angst, den Anschluss verloren zu haben – alle Hersteller von ihren zukünftigen selbstfahrenden Elektroautos reden.
Die Digitalisierung, die wir heute erleben, ist eine revolutionäre und nicht mehr evolutionäre Veränderung aller Wirtschaftssektoren, die vor allem aus dem Silicon Valley getrieben wird. Sie zeichnet sich durch eine völlig neue Herangehensweise aus. Während unsere Mentalität darauf ausgerichtet ist, Bestehendes inkrementell zu verbessern, zielt das Silicon Valley darauf, mit softwaregetriebenen Innovationen die Welt radikal auf den Kopf zu stellen. «Move fast and break things», bringt Facebook-CEO Mark Zuckerberg das Motto seines Unternehmens auf den Punkt. Noch im Jahr 2011 waren an der New Yorker Börse vier der fünf wertvollsten Unternehmen Ölfirmen; im vergangenen Jahr waren es nur noch IT-Firmen.
Und die Schweiz?
Der Branchenverband ICT Switzerland hat 2016 eine Scorecard (digital.swiss, siehe Seite 55) zur Digitalisierung der Schweiz erstellt. Darin wird deutlich, dass wir zwar im Bereich der Infrastruktur, der regulatorischen Rahmenbedingungen und unserer allgemeinen Innovationsfähigkeit auf guten Grundlagen aufbauen, hinsichtlich der Anwendung jedoch noch viel Potenzial haben.
Ein Beispiel ist unsere Uhrenindustrie, die zu grossen Teilen den Trend zu Smartwatches ignoriert hat und nun nicht nur wegen der Exportkrise leidet, sondern auch, weil sie keine neuartigen Angebote entwickelt hat. So hat Apple – quasi aus dem Stand – mit seiner Watch die grossen Marken unserer Uhrenindustrie hinsichtlich Umsatzes schon lange überholt. Bedenkt man nun, dass wir nur zwei Arme haben, an denen wir überhaupt eine Uhr tragen können, so hat man hier eine Gelegenheit verpasst. Wenn sich unsere Volkswirtschaft auch in der digitalen Zukunft behaupten will, dann ist es höchste Zeit, sich mit den Möglichkeiten der zweiten Phase der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Unsere Unternehmen sind gefordert, an einer Strategie zur Digitalisierung zu arbeiten und diese rasch umzusetzen, um mit Experimenten im Markt Erfahrung zu sammeln.
Auch die Politik zeigt sich bislang noch zögerlich. Unser Bundesrat hat 2016 ein Strategiepapier zur digitalen Schweiz vorgelegt. Nur ist diese Strategie zurzeit leider eher eine Auslegeordnung als eine Vision. Man wünschte sich doch deutlich mehr digitalen Gestaltungswillen – insbesondere in jenen Bereichen, in denen Steuermittel oder staatlich regulierte Gebühren ausgegeben werden, wie etwa im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, in den Schulen oder in der Verwaltung selbst.
Die Schweiz muss diese gewisse Mutlosigkeit überwinden, wenn sie ihr Potenzial nutzen will. Ausserdem muss sie sich jetzt zwei drängenden Herausforderungen stellen, die beide weniger mit Technologie als mit Menschen zu tun haben: Es braucht einen Kulturwandel in den Unternehmen, und es braucht eine Idee, wie wir genügend Fachkräfte ausbilden und anziehen können.
Dienstleistung statt Materie
Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist ein Kulturwandel in Schweizer Firmen, der sich an der Agilität der modernen Softwareindustrie orientiert. Diese versteht ihre Produkte als Dienstleistung, die kontinuierlich aktualisiert wird. Tesla erweitert per Softwareupdate – über Nacht und nicht mit einem Werkstattbesuch verbunden – die Fähigkeiten seiner Autos. Das kann ein Maschinenbauer natürlich nicht so einfach machen. Doch auch er kann seine Kunden beispielsweise dabei unterstützen, Energie zu sparen oder den Verschleiss zu reduzieren – durch bessere Analyse und Einstellung der Einsatzparameter seiner Maschinen. Auch er kann also eine Softwaredienstleistung anbieten, die immer wieder Möglichkeiten zur Verbesserung bietet.
Die Orientierung hin zu Dienstleistungen, die mit neuen Geschäftsmodellen einhergehen, bringt einiges an Umstellung mit sich. Es reicht nicht mehr aus, das technisch beste Produkt zu haben, sondern man muss dieses mit entsprechenden Dienstleistungen wie etwa intelligenter Wartung oder einem Pay-per-use-Zahlungsmodell anbieten. Ausserdem drängt sich ein völlig neuer Umgang mit Wissen und Transparenz auf. Will man einem Kunden quasi automatisiert Zugriff auf die Fertigungsfähigkeiten der eigenen Fabrik geben, braucht dies einiges an Wissenstransfer. Kunden müssen ihre Baupläne digital einreichen, das Angebot wird automatisiert und damit auch einsehbar, der Kunde wird jederzeit wissen, wo genau sich seine Bestellung im Fertigungsprozess befindet. Das ist für viele Unternehmen irritierend, betrachten sie doch historisch ihre Kalkulation als schützenswertes Betriebsgeheimnis.
Hier zeigt sich besonders deutlich die Notwendigkeit eines Kulturwandels. Die Innovationsgeschwindigkeit hat sich durch die Digitalisierung enorm beschleunigt. Was Unternehmen – vor allem stark von Ingenieuren dominierte Firmen – noch lernen müssen, ist, sehr viel mehr als bisher mit externen Partnern zusammenzuarbeiten. Nur durch Kollaborationen lässt sich fehlendes Expertenwissen ausgleichen, und man gelangt sehr viel schneller ans Ziel, als das alleine je möglich gewesen wäre.
Dieses Umdenken wird nicht von selbst stattfinden, das ist Aufgabe des Verwaltungsrats und der Unternehmensführung. Leider sind dort bislang nur sehr wenige Informatiker vertreten, die mit neuen, allenfalls disruptiven Ideen Einfluss nehmen könnten. Das ist neben dem anspruchsvollen Kulturwandel die zweite Herausforderung – vor allem für ein kleines Land wie die Schweiz: Wie findet man gut ausgebildete Softwareingenieure? In der Schweiz werden in fünf Jahren etwa 30 000 Informatiker fehlen. Da sich der internationale Wettkampf um diese Talente noch verschärfen wird, täte die Bildungspolitik gut daran, hier rasch auf sämtlichen Ebenen Ausbildungskompetenzen und -angebote zu schaffen. Unsere Jugend muss lernen, die IT nicht nur zu nutzen, sondern auch kreativ damit Neues zu schaffen (siehe Seite 78).
Nur wenn wir diese Herausforderungen jetzt angehen, werden wir unseren Wohlstand aufrechterhalten können – nicht trotz, sondern dank der Digitalisierung. Wenn also die plötzlich erwachte Faszination für das Phänomen nicht nur in Google-Recherchen, Diskussionsrunden und Strategiepapiere mündet, sondern zu raschen und mutigen Entscheiden anspornt, dann kann man sich über den Hype nur freuen.