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Das Ticket

In den USA haben Kinder aus schwierigen Verhältnissen kaum Chancen auf einen Aufstieg. Die privat geführten, anspruchsvollen «Charter Schools» wollen das ändern.

Frühmorgens, 7.30 Uhr, vor einem Backsteingebäude in South Bronx, einem der ältesten Immigrantenquartiere New Yorks. Aus allen Richtungen kommen Primarschüler angelaufen, viele von ihnen dunkelhäutig, alle adrett in Uniform, die Jungen mit sauber getrimmtem Haar und die Mädchen mit Schleifen in den Locken. Bevor der Unterricht beginnt, erhalten alle Kinder ein kostenloses Frühstück. Danach geht es straff weiter, von 8 bis 16.20 Uhr, bis zum ordentlichen Abschiedsappell. So zeigt es der Prospekt der «South Bronx Classical», einer der bekannteren sogenannten «Charter Schools». Dieser besondere Schultypus gilt in den USA vielen als das vielversprechendste Instrument zur Erreichung besserer Chancengleichheit in einem tief geteilten Land.

Entgegen der Legende vom amerikanischen Traum ist die soziale Mobilität in den USA nicht höher, sondern tiefer als in den meisten anderen reichen Ländern. Innerhalb der mittleren Einkommensfünftel steigen Menschen oft auf oder ab. Doch darüber hinaus sei die amerikanische Gesellschaft auffallend statisch, stellten Ökonomen wiederholt fest: Wer ins ärmste oder reichste Fünftel geboren wird, bleibt mit grosser Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener dort. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist ein Schulsystem, das von enormen Qualitätsunterschieden geprägt ist: Dieses Land hat die teuersten Schulen und die besten Universitäten der Welt – und oft nur wenige Strassenzüge entfernt Primarschulen, in denen die Kinder kaum lesen lernen.

Ende der 1980er Jahre beschlossen Lehrer an öffentlichen Schulen zu handeln. Albert Shanker, langjähriger Präsident der nationalen Lehrergewerkschaft, erarbeitete das Modell der «Charter Schools»: Lehrer oder andere engagierte Bürger sollten selber kleine, unabhängige und schlagkräftige Spezialschulen aufbauen, die sich besonders auf arme und schwierige Schüler konzentrieren – so entstanden privat geführte und von der offiziellen Schulbürokratie losgelöste, aber mit öffentlichen Geldern finanzierte Lernlabore. Die Idee setzte sich rasant durch. Bis heute sind zwischen New York und Los Angeles rund 5000 Schulen entstanden, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Politische Kommentatoren feiern die «Charter Schools» regelmässig – die einen, weil sie sowieso für ein komplett privatisiertes und liberalisiertes Schulsystem und die freie Schulwahl mit Hilfe von Gutscheinen eintreten, die andern, weil sie überzeugt sind, dass «Charters» die Chancengleichheit erhöhen und Lehrer wie Schüler ermächtigen. Tatsächlich schaffen es manche der Schulen bemerkenswert gut, ihre Kinder zu Studenten auszubilden, die in den regelmässigen nationalen Leistungstests hervorragend abschneiden. Die «Charters» sind gerade unter armen Eltern derart begehrt, dass viele Schulen die begrenzten Plätze in Lotterien verlosen müssen.

Genau das ist denn auch eine viel geäusserte Kritik an den «Charters»: Sie seien eine Chance für einige wenige Kinder, während sich an den strukturellen Problemen verarmter und unterversorgter Quartiere nichts ändere, bringen Skeptiker an. Im Gegenteil – das in sie investierte Geld fehle mancherorts den traditionellen öffentlichen Schulen. Die SEED etwa, eine landesweit bekannte «Charter School» in Washington, erhält nach Angaben der «New York Times» mit jährlich 35 000 Dollar pro Schüler rund dreimal so viel Budget wie eine durchschnittliche öffentliche Schule. Kein Wunder, stellt die Autorin fest, dass auf diese Weise betreute Schüler besser abschneiden als andere. Es sei «bizarr», die «Charters» regelmässig als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es in der öffentlichen Bildung gar nicht mehr Geld brauche, sondern lediglich mehr Eigenverantwortung und schärfere Selektionsmechanismen für Lehrer, wenn doch gerade die üppige Ausstattung manche «Charters» so attraktiv für passionierte Lehrer mache. Wo man steht in dieser Debatte, ist in den USA kein schlechter Indikator für die grundsätzliche politische Haltung: Liberale und wohlhabende progressive Demokraten sind eher Anhänger der «Charters», Sozialwissenschafter vorsichtig optimistisch, linke Aktivisten warnen davor, in ihnen ein Allheilmittel gegen Armut zu sehen.

An der «South Bronx Classical» bekommen die Kinder von den Debatten wenig mit. Sie haben nach Unterrichtsschluss 20 Minuten freie Zeit – die Prospektbilder zeigen sie, natürlich, beim Schachspiel –, danach werden sie nach Hause entlassen. Die meisten von ihnen nehmen den Bus. Ein feiner Hinweis darauf, dass sie eben doch keine Standard-Privatschule besuchen.

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