Streuli am Broadway
Man mag seinen Augen kaum trauen, doch am Westufer des Zürichsees, bei Horgen, stehen riesige Redwoods, typisch kalifornische Mammutbäume – die hat der Emil mitgebracht. Damals waren sie natürlich noch kleiner. Sie wissen schon, der Emil von der Seidenmanufaktur Streuli. War ja vier Jahre in Manhattan, Kaufmannsgehilfe beim Seidenimporteur Aschmann in der Vesey Street, Nähe […]
Man mag seinen Augen kaum trauen, doch am Westufer des Zürichsees, bei Horgen, stehen riesige Redwoods, typisch kalifornische Mammutbäume – die hat der Emil mitgebracht. Damals waren sie natürlich noch kleiner. Sie wissen schon, der Emil von der Seidenmanufaktur Streuli. War ja vier Jahre in Manhattan, Kaufmannsgehilfe beim Seidenimporteur Aschmann in der Vesey Street, Nähe Broadway. Hat sich in die Stadt New York schlichtweg verliebt. War da noch jünger, aber auch schon pummelig und sehr spendabel beim Geldausgeben, das er nicht selbst verdient hatte. Noch immer keine Erinnerung? Emil Streuli: unpatriotischer Weinkenner («konnte aus seinen starksauren Eigenschaften schliessen, dass selber Wein vom Zürichsee stammte»), guter Klavierspieler und Möchtegernentrepreneur, der mit seiner Firma Gas Generating auf die Nase fiel… – fällt der Groschen? Es sind natürlich doch schon 150 Jahre her. Aber vieles hat sich nicht verändert. Damals wie heute war es verpönt, auf der Jersey-Seite des Hudson zu leben, waren die Strassen von Manhattan hoffnungslos verstopft – wenn auch mit Droschken –, so dass der New Yorker fast alle Wege zu Fuss erledigte, war alles zehnmal grösser als zu Hause und zehnmal teurer, reihte sich am Broadway schon Theater an Theater und ging, wer etwas auf sich hielt, nur in die angesagtesten Restaurants – 1859 das Austernparadies Delmonico’s mit Speisekarten in Perlmutter, und was heute in ist, hiess damals «dandy».
Wer sich also an Emil nicht mehr erinnert und alles nochmals nachlesen will – der emsige Historiker Hans Peter Treichler hat die zehn handgeschriebenen, lange in einem Wandschrank vergessenen Tagebücher Streulis sprachlich überarbeitet, thematisch zusammengestellt, kurzweilig erläutert und schwungvoll verbunden. Entstanden ist ein individuelles Porträt New Yorks der Jahre 1858 bis 1861, nämlich bis Emil – übrigens ein Gegner der Sklaverei – vor dem drohenden Sezessionskrieg zurück nach Horgen reiste.
Treichler ist kein kritischer Begleiter – immerhin ist er den Streuli-Nachkommen verpflichtet, die ihn die privaten Konvolute durcharbeiten liessen; aber er stimmt auch kein schlichtes Hohelied auf den reisefreudigen Jungunternehmer an. Vor allem ist er kein staubtrockener Historiker mit Faible für endlose Fussnoten. Er begleitet Emil Streuli mit lebendiger Freude durch das damalige New York und zeigt ohne erhobenen Zeigefinger und Brille auf der Nasenspitze, was aus den Häusern und Strassen wurde – neben Vesey Street liegt heute Ground Zero –, in denen Emil handelte, wandelte, anbandelte und scheiterte.
Hans Peter Treichler: «Ein Seidenhändler in New York. Das Tagebuch des Emil Streuli 1858–1861». Zürich: Verlag NZZ, 2010