Stresstest fürs globale Dorf
Menschen mussten sich schon immer im vertrauten Umfeld wie in der weiten Welt zurechtfinden. Liberale Denker liefern Einsichten, wie das auch weiterhin gelingen kann.
Die Welt ist wieder einmal in Aufruhr. Einerseits pflügt sie die Globalisierung schon länger um, andererseits hat auch die Digitalisierung gerade begonnen, über sie hinwegzurollen. Die Debatten über Arbeitsplatzverluste im Westen wegen China oder Osteuropa scheinen, trotz der überaus schrillen Töne Trumps, eher der Vergangenheit anzugehören. Die Diskussionen über den «wegdigitalisierten» Taxifahrer, über das überflüssig werdende Hotel oder über «banking without banks» – alles Ergebnisse des jüngsten Digitalisierungsschubs – stecken hingegen noch in den Kinderschuhen. Zweierlei kann man aber diesem digitalen Schumpeter’schen Prozess der schöpferischen Zerstörung bereits heute ansehen: Er ist erstens in seiner Wucht radikal und zweitens in der Geschwindigkeit seiner Entfaltung geradezu atemberaubend.
Als liberaler Ökonom steht man solchen Prozessen grundsätzlich offen gegenüber, da man den Charakter des Prozesshaften schätzt, wenn der Prozess innerhalb einer funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung abläuft. Nur eben: Wie könnte eine solche Ordnung angesichts der Dynamik von Globalisierung und Digitalisierung aussehen? Und was wären die dazugehörigen, ein Mindestmass an Statik gewährleistenden Fixpunkte, welche man unter den altmodischen Begriff der Sozialpolitik fassen könnte?
Interessanterweise, und hier setzt dieser Beitrag an, können auf der Suche nach Antworten ausgerechnet liberale Klassiker des 20. Jahrhunderts ausgesprochen hilfreich sein – nicht unbedingt mit fertigen Rezepten, wohl aber mit inspirierenden Impulsen. Bei Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke lebt nämlich in den Diskursen um Staatslegitimation und Sozialpolitik eine grundlegende Dualität sozialwissenschaftlichen Denkens wieder auf, um die sich auch in der heutigen Debatte so vieles dreht: den kategorialen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.
Das Überschaubare und das Anonyme
Viele Liberale legen beim Begriff «Sozialstaat» ein instinktives Unbehagen an den Tag. Der Ausgangspunkt ihrer Kritik ist die Vorstellung, dass im Mittelpunkt der Sozialpolitik die Solidarität steht. Manche Liberale verstehen aber Solidarität als Zug menschlichen Verhaltens, der lediglich in unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen «echt» sei, die auf Freiwilligkeit basieren – nicht aber, wenn der Staat diese Solidarität mit Zwang «verordnet» und durch seine Instrumente der Besteuerung einsetzt, um die Mittel dafür zu haben. Was an dieser Kritik wertvoll ist, ist im vorliegenden Fall nicht so sehr die normative Frage, ob «staatlich verordnete» Solidarität via Sozialpolitik legitim ist. Spannend und analytisch produktiv daran ist, dass hier eine grundlegende Dualität aufgespannt wird: die unmittelbare, auf Vertrauen basierende, darum zwingend überschaubare Gemeinschaft einerseits – die mittelbare, organisierte, in ihrer Grösse potentiell unbeschränkte Gesellschaft andererseits. Diese Dualität ist nicht erst seit Ferdinand Tönnies’ Klassiker in der ordnungstheoretischen Diskussion präsent: Bereits Adam Smith hebt deutlich hervor, dass die «great society» dem sozialen Verhalten genuin andere Gesetzmässigkeiten auferlege, als dies in der kleinen Gruppe der Fall sei.
Genau entlang dieser Gemeinschaft-Gesellschaft-Scheidelinie lassen sich auch die Ordnungstheorien von Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke nachzeichnen. Obwohl ihre Theoriegebäude sich in vielem ähneln, weisen sie gerade hier einen diametralen Gegensatz auf: Hayeks grosse sozialphilosophische Sorge ist es, dass die Gemeinschaftslogik der kleinen Gruppe immer wieder die Regeln des abstrakten Gesellschaftskontextes konterkariert oder gar zerrüttet, während Röpke von der Frage umgetrieben wird, wie die Regelkreise kleiner Gemeinschaften von den Gefahren einer vermassten Gesellschaft bewahrt werden können. Während also Hayek die Moderne und ihre «great society» schon früh als Baustein seiner Ordnungstheorie ausmacht und sie im Spätwerk in die eigene Formel der «extended order» zu übertragen sucht, ist gerade diese Moderne für Röpke ein Prozess mit enormer zerstörerischer Sprengkraft für das menschliche Miteinander. An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Einschub: Was ist wesentlich für diese Moderne, die die beiden Denker auf so unterschiedliche Weise bewerten?
Die Moderne ist ein im Vergleich zur Menschheitsgeschichte ausgesprochen junges Produkt, das ich durch zwei zentrale Charakteristika operationalisieren möchte:
1) die Ausdifferenzierung der einzelnen gesellschaftlichen Sphären statt des verschmolzenen Lebenszusammenhanges des traditionellen Dorfes sowie
2) die Zunahme an abstrakt-anonymen zwischenmenschlichen Beziehungen statt des Austausches mit konkret-bekannten Personen im traditionellen Dorf.
Beide Merkmale prägen im 21. Jahrhundert weite Teile der Welt, seit dem Ausbreiten der Mobiltelekommunikation und des Internets in noch stärkerem Ausmass als je zuvor. Hayeks jahrzehntelanges Projekt einer «Verfassung der Freiheit» zielt nun darauf, Regelwerke zu finden, in denen die Moderne-Logik der «extended order» dem Bürger nahegebracht werden kann, der wegen seiner jahrtausendealten Existenz im Dorf diese Logik häufig konterintuitiv oder gar widersinnig findet. Röpkes Bemühungen um die Etablierung einer «Civitas humana» gehen in die genau entgegengesetzte Stossrichtung; sie heben den Wert der Verwurzelung des einzelnen im Traditionellen und Überschaubaren der kleinen Regelkreise hervor, um so der Vermassung und Orientierungslosigkeit der Moderne entgegenzuwirken. Diese ordnungstheoretische Verortung hat auch unmittelbare ordnungspolitische Konsequenzen, gerade auf dem Gebiet der Sozialpolitik.
«Extended order» braucht Sozialpolitik
Hayek umreisst im dritten Teil der «Verfassung der Freiheit» ein Konzept liberaler Sozialpolitik, dessen Kern darin besteht, das Grundprinzip des Rechtsstaates und der Ordnungspolitik, d.h. Politik durch verallgemeinerungsfähige Regeln zu organisieren, auf die Sozialpolitik zu übertragen. Er argumentiert, wie eine für alle Mitglieder der Jurisdiktion gleichermassen geltende Mindestsicherung nicht nur kein Widerspruch zum liberalen Staatsverständnis sein muss, sondern geradezu als notwendige Komponente der «extended order» gesehen werden kann. Seine Begründung kann genau im Lichte der obigen Gemeinschaft-Gesellschaft-Analyse gesehen werden: Der Versuch einiger Liberaler, den Staat aus der Sozialpolitik zu verbannen und diese ausschliesslich an die freiwilligen Regelkreise der verschiedenen Gemeinschaftsregelkreise (Familie, Kirche, Nachbarschaft etc.) zu delegieren, ist mit einem umfassenden Plädoyer für die Logik einer «extended order» nicht vereinbar. Die «extended order» hätte eine offene Flanke, wenn sie nicht für soziale Härtefälle selbst Lösungen bieten würde – und ausgerechnet an dieser neuralgischen Stelle auf die Atavismen der Gemeinschaft angewiesen wäre.
Röpke hingegen sieht die Kleinstadt gerade auch angesichts der Moderne als ideale Umgebung für die menschliche Existenz, welche auf Selbständigkeit und – gegeben die Überschaubarkeit des Kontextes – auf zwischenmenschliche Solidarität setzt. Das ist natürlich kein Plädoyer für Autarkie, im Gegenteil: In Röpkes Menschenbild ist eine solche Einbettung der Individuen in der Gemeinschaft ein Schutz gegen gefährliche, antiindividualistische Ideologien und gerade die unverzichtbare Voraussetzung dafür, sich als Individuum aus der festen Umgebung heraus in eine globale Arbeitsteilung einzubringen. Staatliche Sozialpolitik zersetzt diese traditionelle Gemeinschaft lediglich und versetzt die zuvor selbständigen Existenzen in die Lage einer «komfortablen Stallfütterung» durch das «Pumpwerk des Wohlfahrtsstaates».
Die Welt wird globaler – und lokaler
Sowohl Hayek als auch Röpke können wichtige Impulse für die Suche nach Antworten auf die aktuellen Umwälzungen liefern. Hayeks Konzept eines liberalen Sozialstaates bringt ihm seit dem Erscheinen der «Verfassung der Freiheit» viel Kritik ein, von Einwänden zeitgenössischer Weggefährten bis hin zum späteren Vorwurf, Sozialdemokrat zu sein. Röpkes Gegenentwurf wiederum wird gerne als naiv-konservativ oder rückwärtsgewandt bezeichnet oder jüngst gar als «Retro-Utopie» charakterisiert. Diese Fundamentalkritiken versperren den Blick auf die Relevanz der beiden Perspektiven für die heutige Zeit: Zentrale Facetten der Globalisierung bringen ein Mehr an abstrakt-anonymer Gesellschaft im Sinne Hayeks, während die Digitalisierung durchaus zu einem Comeback der Gemeinschaft nach Röpke führen kann. Dies sei an zwei Teilphänomenen erklärt, die nach heutigem Stand im Wesen der Gesamtphänomene Globalisierung und Digitalisierung jeweils eine zentrale Rolle spielen: 1) Wettbewerb und 2) soziale Medien.
1) Wettbewerb. Die sich vertiefende Spezialisierung der internationalen Arbeits- und Wissensteilung, im Kern bedingt durch den Rückgang der Transportkosten und durch eine stark erleichterte Mobilität von Menschen, Waren und Kapital, intensiviert permanent die Wettbewerbssituation. Diese Entwicklung spielt nicht nur eine Rolle für Unternehmen und ihre Angestellten, sondern für ganze Gesellschaften, Standorte und ihre politischen Rahmenbedingungen – und zwar völlig unabhängig davon, ob wir von der Bündner Surselva oder von Singapur sprechen. Jedem einzelnen wird heute deutlich, dass er Teil eines globalen Prozesses ist, in dem die abstrakten Regeln der «extended order» längst gelten und wo das marktliche Spiel immer mehr in anonymen Bahnen verläuft.
2) Soziale Medien. Gleichzeitig ist unser Alltag dank der Digitalisierung, im Kern bedingt durch den Rückgang der Kommunikationskosten und durch die Investitionen in die verschiedenen Ebenen digitaler Technologien, immer mehr durch die Nutzung von Anwendungen gekennzeichnet, die als soziale Medien bezeichnet werden. Diese sind, wie etwa im Falle von Facebook, so beschaffen, dass der einzelne nicht mehr nur Konsument, sondern auch Produzent von Medieninhalten ist, was mit sich bringt, dass der einzelne nunmehr zu verschwindend geringen Kosten befähigt ist, neue virtuelle Gemeinschaften zu bilden. Aber auch weit über die Kommunikation hinaus verändert die Digitalisierung sämtliche Bereiche der Ökonomie. Plattformen wie Uber, Airbnb oder die Schweizer Sharoo ermöglichen es Individuen, Ressourcenteilung selbständig zu organisieren – und machen Intermediäre nebst ihren Geschäftsmodellen überflüssig. Sie funktionieren, wie Röpkes Kleinstädte, auf der Basis von Vertrauen und sozialem Kapital, welche sie gleichzeitig verbrauchen und herausbilden.
An beidem, Globalisierung und Digitalisierung, kann man lebenspraktisch auch die Gefahren erkennen, die Hayek und Röpke ordnungstheoretisch im Konflikt der Logiken von Gemeinschaft und Gesellschaft sehen. Einerseits erfordert der globale Wettbewerb beispielsweise für immer mehr Menschen eine ständige berufliche Mobilität, die tatsächlich – wie von Röpke befürchtet – Bindungen in der Familie und lokalen Gemeinschaften schwerwiegend beschädigen kann. Soziale Medien andererseits führen auch zur Bildung von Austauschgruppen, die oft derart homogen geraten, dass hier der pluralistische Diskurs der Moderne kaum noch stattfindet und die Inhalte der interagierenden Gemeinschaft im Zeitverlauf immer extremer und einseitiger geraten können – bis hin zum Punkt, an dem die Toleranz, Pluralität und Diversität der «extended order» verachtet und als verzichtbar betrachtet werden.
Als Doppelwesen leben
Gerade in dieser Gleichzeitigkeit liegt grosse Hoffnung für die Welt in Aufruhr. Der Mensch ist durchaus fähig – und war seit dem Anbruch der Moderne stets fähig –, als Doppelwesen zu leben. Die Verarbeitung der resultierenden Konflikte hat nicht immer mit gleichem Erfolg funktioniert, die Lernfähigkeit scheint aber zuzunehmen. Globalisierung und Digitalisierung führen zweifelsohne zu mehr sozialer Dynamik. Sie führen potentiell auch zu mehr Instabilität im heutigen Miteinander. Schaut man aber genauer hin, drängt sich auch ein anderer Zusammenhang auf: dass sie sich – gerade wegen ihrer Gleichzeitigkeit – möglicherweise wie Komplemente zueinander verhalten und sich damit gegenseitig stützen. Ja, der Mensch der Globalisierung muss wohl in seinem «realen Leben» mobiler werden. Gleichzeitig befähigen ihn die digitalen Technologien aber dazu, die Entwurzelung dieser Zusatzmobilität dadurch aufzufangen, dass die Pflege des Freundes- und Bekanntenkreises nicht mehr im bisherigen Masse an Ort und Zeit gebunden ist. Ja, die Digitalisierung führt im «virtuellen Leben» zu mehr «echo chambers», in denen sich die Inhalte immer weiter zuspitzen und radikalisieren können – aber durch das zunehmend globale «reale Leben» sind wir auch vermehrt mit vielfältigen Kulturkreisen, Ideologien und Lebensformen konfrontiert.
Und was bedeutet das nun für die Ordnung und die Sozialpolitik, die ja am Anfang unserer Überlegungen standen? Wohin führen die Impulse von Hayek und Röpke im 21. Jahrhundert?
Auch hier gilt: Der Mensch kann durchaus als Doppelwesen leben, und sowohl dem Staat als auch der Zivilgesellschaft können wichtige Rollen zukommen. Märkte werden immer dynamischer, das steht fest, jedenfalls solange wir ihre heutige Verfassung beibehalten und die Welt friedlich bleibt. Hier kann der Staat, ganz im Hayek’schen Sinne, zum Garanten einer liberalen Sozialpolitik werden: Er würde für diejenigen, die temporär aus der dynamischen Arbeits- und Wissensteilung herausfallen, im Sinne der Statik temporären Halt bieten und sie dazu befähigen, wieder ins Spiel einzusteigen, während es nur human ist, Menschen mit dauerhaften Behinderungen auch dauerhafte Hilfe oder, wenn es die Erkrankung zulässt, Hilfe zur Selbsthilfe zukommen zu lassen.
Am spannendsten ist wohl, wie sich Wesen und Rolle der Zivilgesellschaft verändern werden. Diese wurde bisher oft entweder als leere Formel oder als lokal beschränkter Akteur gedacht, die aber wegen der hohen Vernetzungskosten auf anderen Ebenen kaum als relevant betrachtet werden konnte. Durch die digitale Vernetzbarkeit ändert sich dies radikal: Es ist durchaus eine Rückkehr zur Röpke’schen überschaubaren Gruppe im neuen Internetgewand feststellbar, die auch heute schon viele soziale Aufgaben übernimmt, etwa das Sammeln von nicht unerheblichen Beträgen für erkrankte Mitglieder oder gemeinsame Kampagnen jenseits des Staates durch solche zivilgesellschaftliche Gruppen. Auch journalistische Recherchen, Kunst oder Dokumentarfilme werden heute zunehmend über sogenanntes Crowdfunding finanziert. Überhaupt ist ein Wandel dahin erkennbar, dass der Ort des Politischen künftig wohl nicht mehr primär der Staat im Sinne seiner klassischen Institutionen sein wird, sondern zunehmend die digitalisierte Zivilgesellschaft, die damit das Zeug hätte, dem Idealbild Václav Havels einer Bürgergesellschaft von Freiheit und Verantwortung näherzukommen.
Konkretere Projektionen würden sicher schnell mit der Hayek’schen Warnung vor einer Anmassung von Wissen kollidieren. Bei aller Vorsicht bleibt es aber am Ende beim dezidiert optimistischen Ton dieser Zeitdiagnose: Wenn wir es kognitiv schaffen, die Ordnungsprinzipien sowohl der globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft als auch der digitalisierten Gemeinschaften zu verarbeiten und einigermassen widerspruchsfrei in beiden Kontexten zu leben, bietet dieses doppelte System viele der benötigten Fixpunkte schon heute in sich. Menschen wie der eingangs angeführte «wegdigitalisierte» Taxifahrer, deren Existenz durch die Wucht des global-digitalen Wandels zeitweilig in Gefahr gerät, haben nun zwei Sets an solchen Statik gewährleistenden Fixpunkten: Sie können sich einerseits auf die exogenen Fixpunkte des liberalen Sozialstaates und andererseits auf die durch sie selbst organisierbaren, endogenen Kreise der digitalisierten Zivilgesellschaft stützen. Durch diese Fixpunkte bleibt die Dynamik der Freiheit erhalten, ohne dass sie als Überforderung und Chaos wahrgenommen wird. Und das ist nun wirklich eine uneingeschränkt positive Nachricht.