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Strategisches Denkne in der Schweiz am Ende?

Seit 1990 produziert die offizielle Schweiz wie ein Füllhorn Armeereformen. Bis jetzt hat deren keine durch Konzeption und Umsetzung überzeugen können. Dabei kennt die schweizerische Geschichte eine Tradition eigener, bedeutender strategischer Denker, an die durchaus angeknüpft werden könnte.

Die «Armee XXI» beruht auf einer Lagebeurteilung, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden kann. Unter dem Stichwort «Armee 2011» wird darum bereits wieder an Korrekturen gearbeitet, das Laborieren geht also weiter. Was Wunder, wenn im Ausland zunehmend die Frage nach dem militärischen Urteilsvermögen der Eidgenossen gestellt wird – jener Eidgenossen, die in den vergangenen Jahrhunderten auch und gerade dank ihres strategischen Denkens europaweit in hohem Ansehen standen.

Als einer der bedeutendsten strategischen Denker der Neuzeit hat der Schweizer Antoine-Henri Jomini (1779–1869), General in napoleonischen und russischen Diensten, in seinem Werk «Précis de l’art de la guerre» 1837 die Kunst des Krieges wegweisend in sechs analytische Ebenen gegliedert:

«La première est la politique de la guerre.

La deuxième est la stratégie, ou l’art de bien diriger les masses sur le théâtre de la guerre […]

La troisième est la grande tactique des batailles et des combats.

La quatrième est la logistique ou l’application pratique de l’art de mouvoir des armées.

La cinquième est l’art de l’ingénieur, l’attaque et la défense des places.

La sixième est la tactique de détail.

On pourrait même y ajouter la philosophie ou la partie morale de la guerre; mais il paraît convenable de la réunir dans une même section avec la politique.»

Im Werk «Vom Kriege», das beinahe gleichzeitig mit jenem Jominis erschien, beschränkte sich der preussische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz (1780–1831) lediglich auf die Begriffe Strategie und Taktik. Clausewitz blieb dadurch dem strategischen Denken der Griechen und damit der Antike verhaftet. Die Gliederung von Jomini ist dagegen in hohem Masse modern; namentlich weist sie auch all jene Elemente des Strategiebegriffs auf, wie sie jenseits des Atlantiks kultiviert und vorgelebt werden. Jomini setzte sich aber auch mit den verschiedenartigen Zielen auseinander, die einem Krieg durch die Politik vorgegeben werden können:

«Un Etat est amené à la guerre:

pour revendiquer des droits ou pour les défendre;

pour satisfaire à de grands intérêts publics, tels que ceux du commerce, de l’industrie et de tout ce qui concerne la prospérité des nations;

pour soutenir des voisins dont l’existence est nécessaire à la sûreté de l’Etat ou au maintien de l’équilibre politique;

pour remplir les stipulations d’alliances offensives et défensives;

pour propager des doctrines, les comprimer ou les défendre; […].»

Die verschiedenen Arten des Krieges bedingen, um die gesetzten Ziele zu erreichen, bestimmte Mitteleinsätze und entsprechende Operationen. Abgestimmt auf die unterschiedlichen Ziele wies Jomini den Streitkräften schliesslich verschiedenartige Aufträge zu. Gerade auch diese systematische Art der Auftragsbestimmung ist leider in der schweizerischen Gegenwart inexistent.

In der Tradition des mathematischen und philosophischen Denkens von René Descartes (1596–1650) entwickelte Guillaume-Henri Dufour (1787–1875), Oberbefehlshaber im Sonderbundskrieg, seine Operationen. Während Jomini sich als Autodiktat in das strategische Denken Friedrichs des Grossen und Napoleons zu vertiefen hatte, genoss Dufour das Privileg, die militärischen Hochschulen Frankreichs persönlich besuchen zu können. Dank dieser Ausbildung war Dufour in einem solchen Mass auch mit der modernen Mathematik vertraut, dass er später als Dozent an der Universität Genf lehren konnte. Noch während der Operationen des Sonderbundskrieges verfasste er das Manuskript für seine Lehrtätigkeit. Verschiedene seiner Notizen (über Goniometrie, darstellende Geometrie usw.) sind 1947 unter dem Titel «L’œuvre scientifique et technique du Général Guillaume-Henri Dufour» veröffentlicht worden. Neben seinen mathematischen Fähigkeiten und seinem strategischen Geist war Dufour auch durch einen echten humanitären Geist beseelt, der später zur Gründung des IKRK führte.

In der Tradition von Jomini und Dufour wirkten Waadtländer Offiziere der späteren Milizarmee wie Ferdinand Lecomte (1825–1899), Edouard Secrétan (1848–1917), Fernand Feyler (1863–1931) oder Paul de Vallière (1877–1959). Von diesen Autoren führt sodann ein direkter Weg zum Waadtländer Henri Guisan (1874–1960), seines Zeichens Oberbefehlshaber im Aktivdienst 1939 bis 1945. Mit dem Zusammenbruch Frankreichs und dem Kriegseintritt Italiens war die Schweiz im Sommer 1940 von den Achsenmächten beinahe eingeschlossen und isoliert – angreifbar von allen Seiten. In Anbetracht einer militärischen Rundum-Bedrohung musste Guisan einen neuen Abwehrentschluss fassen, die Verteidigung neu konzipieren. Aufgrund der Idee, dem Feind den Zugriff auf die Alpenübergänge zu verwehren, wurden die Hauptkräfte der Schweizer Armee im zentralen Gebirgsraum zusammengefasst und die Abwehr in alle Richtungen vorbereitet. Das Gros der Armee wurde also in eine neue Stellung im Alpen- und Voralpengebiet zurückgenommen. Diese neue Armeestellung stütze sich im Osten und Westen auf die befestigten Zonen von Sargans und St. Maurice. Im Zentrum stand die alte Festung St. Gotthard. An der Grenze und längs den Haupteinfallsachsen durch das Mittelland standen Verzögerungstruppen, die allerdings sukzessive reduziert wurden. Dank der Gebirgsstellung sollte die gegnerische Panzer- und Luftüberlegenheit ausmanöv-riert werden. Erst im September 1944 verliess die Armee mit fünf Divisionen das Réduit. Mit dieser Strategie konnte die Schweiz damals militärisch bestehen.

Der militärische und politische Zusammenbruch des Dritten Reichs und die Besetzung Osteuropas durch die UdSSR veränderten dann die strategische Lage auch für die Schweiz. Fortan galt es, die Verteidigung primär gegen Osten auszurichten. Gleichzeitig musste die Schweizer Armee den waffentechnischen Rückstand aufholen. Um der neuen Situation gerecht zu werden, musste eine neue Verteidigungskonzeption erarbeitet und umgesetzt werden. Zwei Denkrichtungen standen einander gegenüber: «Mobile Defence» auf der einen, «Area Defence» auf der anderen Seite. Während die erste Richtung vor allem durch Zürcher Offiziere vertreten wurde, entsprach die zweite Richtung dem Anliegen von Offizieren um den späteren Korpskommandanten Alfred Ernst. Die Anhänger der «Mobile Defence» traten für eine konsequente Mechanisierung der Armee ein. Mit der «Area Defence» hingegen sollte die Raumverteidigung in Entsprechung zur schweizerischen Tradition umgesetzt werden. Im Gefolge der Mirage-Affäre und der Motion von Nationalrat Walther Bringolf von 1964 setzten sich die Vertreter der «Area Defence» weitgehend durch, die Konzeption der militärischen Landesverteidigung vom Juni 1966 jedenfalls widerspiegelte mit der Einsatzdoktrin der Raumverteidigung weitgehend die Forderungen der «Area Defence». Durch die Einführung der mechanisierten Gegenschlagsverbände wurden aber auch einzelne Forderungen der «Mobile Defence» aufgenommen. Und diese Konzeption blieb bis zur Einführung der Armee 95 in Kraft.

Gegen die Armee-Abschaffungsinitiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) wurde 1989 in der Schweiz ein heftiger Abstimmungskampf geführt. Im Sinne eines Gegengewichts zu dieser Initiative stellte das damalige Militärdepartement mitten im Abstimmungskampf und reichlich vorschnell das Reformprojekt Armee 95 vor. Ursprünglich als Sparidee einzelner Berner Bürokraten gedacht, diente es Bern nunmehr dazu, die eigene Fähigkeit im Hinblick auf Armeereformen zu demonstrieren. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese «Reform» jedoch als einfache Bestandesreduktion, die im Kern eine Armee von 400’000 Mann postulierte. Im Bereich der Doktrin wurde die alte Konzeption unter dem neuen Namen «Dynamische Raumverteidigung» beibehalten. Diese schlecht oder gar nicht durchdachte Scheinreform wies keinen Bezug auf zur strategischen Wende von 1989 in Europa und dem Zusammenbruch der UdSSR von 1991.

Sehr schnell wurden bei der Umsetzung denn auch die Schwächen der neuen Armee im Ausbildungsbereich sichtbar. Dies traf für die Dauer der Grundausbildung der Wehrpflichtigen ebenso zu wie für die Zahl der Wiederholungskurse. Es sei, so wurde später moniert, die verkürzte Ausbildung eine Konzession an die Wirtschaft gewesen. In Tat und Wahrheit wollte die Bürokratie weitere Initiativen der GSoA vereiteln. Anstatt ruhig und zielbewusst die Mängel der Armee 95 zu beheben, stürzte sich die Bürokratie, weitgehend ohne Mitwirkung erprobter Milizoffiziere, in das nächste «Reform»projekt: die «Armee XXI». Im Vordergrund stand wiederum die Fixierung auf den Bestand der Armee – diesmal waren es noch 200’000 Mann. Konzeptionellen Fragen, wie etwa der Formulierung einer Doktrin, wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt. Bis heute fehlt deshalb der «Armee XXI» die Orientierung. Das Grundsätzliche, etwa im Sinne eines Jominischen geistigen Denkprozesses, verliert sich im Labyrinth von Prozesslandschaften und Diskussionen um neue Mannschaftsreduktionen.

Unser Wehrsystem ist nicht nur orientierungslos, es befindet sich auch in einem eigentlichen Zerfallsprozess. Eine geistig-intellektuelle Erneuerung ist ebenso wenig in Sicht wie eine Wiedergeburt des strategischen Denkens. Es fehlt das Denken an sich, und die Armee ist heute führungslos. Offensichtlich will man sich der Notwendigkeit, strategische und militärische Probleme der Schweiz zu durchdenken, nicht mehr wirklich stellen.

Albert A. Stahel, geboren 1943, ist

Dozent für Strategische Studien der Militär-akademie an der ETH Zürich (MILAK), Titularprofessor an der Universität Zürich und Mitglied des International Institute for Strategic Studies in London.

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