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Strategie ade

Was haben helvetische Politik und helvetische Wirtschaft gemeinsam? Genau – die neue Kurzsichtigkeit.

Was ist strategisches Denken? Wer nicht nur an das Morgen oder das Übermorgen denkt, sondern auch an das Überübermorgen, weiss, dass stets etwas Unerwartetes passieren kann. Er muss darauf gefasst sein. Er muss sich dagegen wappnen. Sich zu wappnen, das wäre doch eigentlich die Aufgabe einer Regierung.

Soweit die Theorie. Leider ist es so, dass die Bundesratspolitik der letzten zwanzig Jahre vor allem darüber Anschauungsunterricht bietet, wie stark Ratlosigkeit und kurzfristiges Denken das Handeln bestimmen. Die Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen in den 1990er Jahren lässt sich ebenso wie die gegenwärtige Diskussion um die internationale Anerkennung des Bankkundengeheimnisses auf den bundesrätlichen Mangel an strategischem Denken zurückführen. Ein anderes, innerhelvetisches Beispiel: Sicherheitspolitik wird nicht mehr gemacht, indem gründliche Vorbereitungs- und Denkarbeit im stillen Kämmerlein geleistet wird, sondern indem man die Bevölkerung per Internet nach ihrem Sicherheitsgefühl befragt.

Das kurzfristige Denken herrscht aber nicht nur in der Politik. Auch in der Welt der Unternehmen gibt es den Ton an. Der Glaube an Zahlen, die die Wahrheit widerspiegeln, das Streben nach fair value und die angebliche Annäherung an reale Bewertungen – all dies hat bei den Unternehmungen dazu geführt, dass die Jahresabschlüsse nach immer neuen Regeln erstellt werden mussten. Damit geht die Vergleichbarkeit mit früheren Jahren und die Verlässlichkeit der Zahlen verloren. Die Transparenz, die man zu fördern glaubt, fällt dabei der Informationsflut, die wie ein Tsunami mit jedem Jahresbericht über Verwaltungsräte, Analysten und Aktionäre hereinbricht, quasi als Kollateralschaden zum Opfer.

Die Abnabelung vom Wissen der Vorjahre ist verheerend: während die Bilanzen laufend ihr Gesicht verändern, bleibt die parallel dazu verlaufende wirtschaftliche Veränderung verborgen. Heute kann man aufgrund der veröffentlichten Zahlen beim besten Willen nicht mehr beurteilen, in welcher Verfassung sich eine Unternehmung im Vergleich zu früheren Jahren präsentiert.

Woher kommt diese Tendenz zur Kurzfristigkeit, ja Kurzsichtigkeit? Sicher spielen die Medien eine grosse Rolle und ihr Streben nach Primeurs. Die Bildmedien gewichten tendenziell den Unterhaltungswert höher als den Informationswert der Berichterstattung. Und wer unterhält mehr als Personen? Die damit einhergehende Personifizierung regt die Eitelkeit der dargestellten Persönlichkeiten an, die zunehmend Gefallen daran finden, an ihrem Ruhm statt an der Sache zu arbeiten. Verschlimmert wird die missliche Lage noch durch die unter political correctness segelnde Tabuisierung von Sachverhalten. Wir halten zwar rhetorisch die Meinungsfreiheit hoch – aber nur, wenn bloss gesagt wird, was gesagt werden darf. Beispiele gefällig? Die Straftaten von «Jugendlichen mit Migrationshintergrund». Die Anprangerung des Missbrauchs des Sozialstaats. Die Thematisierung der Situation im Gaza-Streifen, wo seit Jahrzehnten eine mit derjenigen des seinerzeitigen Warschauer Ghettos identische Lage herrscht, die von kaum einer Regierung oder einem Medium offen beschrieben wird.

Wer nicht klar spricht, kann auch nicht klar denken. Es ist aber einzig das Denken über die eigene Nase hinaus, das uns helfen kann, unsere drängenden Probleme erst einmal zu erkennen und dann vielleicht auch noch zu lösen. Dabei ist oft nicht das Naheliegende die Lösung, sondern das unserem Verstand auf Anhieb scheinbar Widersprechende.

Beispiele gefällig? «Regulierung» ist das Wort der Stunde. Dabei müssten die Probleme auf den Finanzmärkten doch eher durch einen Abbau von Regulierung und Überwachung gelöst werden. Denn die zunehmende Dichte der Regeln hat die Krise gerade mitverursacht: die Banken und ihre Führung verwenden heute mehr Zeit für compliance, also die Befolgung von Gesetzen, als für das eigentliche Geschäft, und missachten dabei grundlegende Regeln des Geschäfts – dass zum Beispiel Eigenkapitalrenditen von mehr als 20 Prozent nur mit entsprechend hohen Risiken erkauft werden können. Auch die Gesundheitskosten lassen sich kaum durch vermehrte Regulierungen lösen, die an die Landwirtschaftspolitik der Nachkriegsjahrzehnte erinnern, sondern wären im Gegenteil durch mehr Wettbewerb unter den Leistungserbringern unter Kontrolle zu bekommen. Und so weiter, und so fort.

Politik ist Strategie, und zur Strategie gehört, neben der Lösung kurzfristiger Tagesprobleme, die Vorbereitung auf die – teilweise unvorhersehbare – Zukunft. Wir müssen für alle Fälle gewappnet sein. Dabei sind Tabus absolut tabu. Das haben wir offensichtlich vergessen.

 

Georges Bindschedler, geboren 1953, ist promovierter Jurist und Unternehmer.

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