Strassburgs paternalistische Sicht auf die Meinungsfreiheit
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Hassrede schränkt das Recht auf freie Meinungsäusserung unverhältnismässig ein. Das war nicht immer so.
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In dem wegweisenden Fall Handyside gegen das Vereinigte Königreich stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 1976 fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Recht auf freie Meinungsäusserung nicht nur Ideen schütze, die «positiv aufgenommen werden», sondern auch solche, die «verletzen, schockieren oder stören». Dennoch hat sich das Gericht in den darauffolgenden Jahrzehnten schwergetan, diesen robusten Schutz der Meinungsfreiheit angesichts neuer Gesetze gegen Hassrede aufrechtzuerhalten. In der Praxis hat der EGMR eine restriktive und widersprüchliche Rechtsprechung entwickelt, die den Staaten oft weitreichende Befugnisse einräumt, anstössige Äusserungen zu verbieten – wodurch genau jenes Recht untergraben wird, das er einst so nachdrücklich proklamiert hat.
Der Bürger wird infantilisiert
Was bei der Rechtsprechung des Gerichtshofs besonders auffällt, ist, dass eine kohärente Definition von Hassrede fehlt. Obwohl der Gerichtshof den Begriff in über zwanzig Urteilen verwendet hat, hat er nie eine präzise Bedeutung oder zumindest ein einheitliches Verständnis dafür entwickelt. Im Fall Gündüz gegen die Türkei (2004) stellte der EGMR fest, dass «konkrete Äusserungen, die Hassrede darstellen und die für bestimmte Personen oder Gruppen beleidigend sein können, nicht durch Artikel 10 der Konvention geschützt sind». Dass der Gerichtshof Beleidigungen als Massstab für die Einschränkung der Redefreiheit nimmt, muss zu denken geben.
Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention
Freiheit der Meinungsäusserung
- Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
- Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
Die Haltung des EGMR gegenüber «Beleidigungen» ist oft inkonsistent. Im Fall Ibragim Ibragimov und andere gegen Russland (2018), der das Verbot eines Buches eines muslimischen Gelehrten als angeblich extremistische Literatur betraf, entschied das Gericht zugunsten des Antragstellers. Begründet wurde dies damit, dass das Buch gemässigt und gewaltfrei sei. Bemerkenswerterweise stellte der Gerichtshof fest, dass «allein die Tatsache, dass eine Äusserung von bestimmten Personen oder Gruppen als beleidigend oder kränkend wahrgenommen werden kann, nicht bedeutet, dass sie Hassrede darstellt». Atamanchuk gegen Russland (2020) betraf einen Journalisten und Politiker, der verurteilt worden war, weil er Nichtrussen als Kriminelle bezeichnet hatte. Im Vergleich zum oben genannten Fall vertrat der EGMR hier eine gegenteilige Auffassung. Er hielt fest, dass Beleidigung, Verspottung und Verleumdung allesamt Gründe für Behörden darstellten, die Meinungsäusserung einzuschränken.
Man könnte sagen, dass der erste Fall die Religion als Doktrin betraf, während der zweite direkt auf Menschen abzielte. Doch das Gericht machte diese Unterscheidung nicht. Stattdessen behandelte es beide Fälle einfach als Beleidigungen und bewertete sie nur nach ihrer vermeintlichen Wirkung auf Einzelpersonen.
Diese Unklarheit hat es Staaten ermöglicht, die Meinungsäusserung weit über die Anstiftung zu Hass hinaus zu kontrollieren. So wurde im Fall Féret gegen Belgien (2009) dem Anführer einer nationalistischen Partei die Ausübung seines Amtes untersagt, weil er Flugblätter verteilte, die vor der «Islamisierung» Belgiens warnten. Das Gericht akzeptierte, dass eine solche Sprache in der Öffentlichkeit «Misstrauen oder Hass» erzeugen könnte, selbst wenn sie Gewalt nicht ausdrücklich befürworte. Die abweichenden Richter warnten hingegen, dass die Mehrheit die Bürger infantilisiere: Sie gehe davon aus, dass diese nicht in der Lage seien, auf politische Argumente zu reagieren, ohne der Fremdenfeindlichkeit zu erliegen.
Der oben beschriebene Status quo hatte weitreichende Folgen für zahlreiche Fälle, in denen die Einschränkung von Meinungsäusserungen aufgrund derer angeblich beleidigenden Natur als legitim erachtet wurde. Ein anschauliches Beispiel bieten Fälle mit homophoben oder transphoben Äusserungen wie Vejdeland gegen Schweden (2012) und Lilliendahl gegen Island (2020). In diesen Urteilen stellte das Gericht fest, dass Beleidigung, Verspottung und Verleumdung – selbst ohne Gewaltaufrufe – als Hassrede eingestuft und verboten werden könnten. Bemerkenswert ist, dass in allen genannten Fällen strafrechtliche Sanktionen verhängt wurden. Diese Rechtsprechung fällt unter das Prisma dessen, was ich als Paradigma des niedrigschwelligen Hasses bezeichne. Es umfasst Fälle von Äusserungen, die lediglich voreingenommen oder anstössig sind – und dennoch als ungeschützt durch die Meinungsfreiheit betrachtet werden.
Eine Hierarchie des historischen Leids
Im Gegensatz zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verbietet die EMRK bestimmte Äusserungen nicht direkt; stattdessen enthält sie Einschränkungsgründe für die freie Meinungsäusserung. Artikel 10 gewährt einen weitreichenden Schutz, erlaubt jedoch Einschränkungen, die in einer demokratischen Gesellschaft «notwendig» sein könnten. Artikel 17 hingegen verbietet den Missbrauch von Rechten. Letzterer wurde vom Gerichtshof genutzt, um ganze Kategorien von Äusserungen von der rechtlichen Beurteilung nach den Einschränkungsgründen des Artikels 10 auszuschliessen. Diese Anwendung von Artikel 17 findet sich vorwiegend in Fällen der Holocaustleugnung und zunehmend auch bei rassistischen und homophoben Äusserungen, die dadurch vollständig vom Schutzbereich der Konvention ausgeschlossen werden.
Artikel 17 der EMRK
Verbot des Missbrauchs der Rechte
Keine Bestimmung dieser Konvention darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in dieser Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in der Konvention vorgesehen, hinzielt.
Darüber hinaus variierte die Anwendung von Artikel 17 im Zusammenhang mit Völkermord. Ein bedeutsamer Fall ist Perinçek gegen die Schweiz (2015): Dieser betraf die strafrechtliche Verurteilung eines Mannes, der den Völkermord an den Armeniern öffentlich leugnete und ihn bei mehreren Konferenzen in der Schweiz als «internationale Lüge» bezeichnete. Der EGMR urteilte, dass diese Äusserungen keinen Missbrauch von Rechten nach Artikel 17 darstellten, entschied jedoch, dass die Verurteilung nicht gegen sein Recht auf freie Meinungsäusserung nach Artikel 10 verstosse.
In seiner Unterscheidung zwischen diesem Fall und Fällen der Holocaustleugnung brachte der EGMR mehrere wenig überzeugende Gründe für die unterschiedliche Behandlung des Völkermords an den Armeniern vor. Im Schweizer Fall etwa berücksichtigte der Gerichtshof zeitliche und geografische Faktoren und betonte, dass die fraglichen Ereignisse etwa neunzig Jahre zurücklägen und dass der Antragsteller die Äusserungen in der Schweiz gemacht habe, sie aber Vorfälle im Osmanischen Reich beträfen. Diese kontextuelle Analyse steht in deutlichem Kontrast zum Umgang mit Holocaustleugnung, die automatisch als ausserhalb des Konventionsschutzes stehend betrachtet wird.
Der Gerichtshof rechtfertigte seine Abweichung von früheren Urteilen zur Holocaustleugnung mit dem Argument, dass diese der Haupttreiber des Antisemitismus sei. Im Fall Perinçek hingegen betrachtete der Gerichtshof die Äusserungen des Antragstellers nicht als Anstiftung zu Hass oder Intoleranz gegenüber Armeniern. In Fällen der Holocaustleugnung hat der Gerichtshof immer auf eine Analyse verzichtet, um festzustellen, ob die Aussagen tatsächlich zu Hass oder Intoleranz anstiften. Stattdessen setzt er Holocaustleugnung und Hass automatisch gleich und stützt sich dabei auf historische und kontextuelle Gründe für diese automatische Assoziation.
Dieser widersprüchliche Ansatz offenbart eine erhebliche Inkonsistenz in der Behandlung verschiedener Völkermorde durch den Gerichtshof. Die unterschiedliche Bewertung des Völkermords an den Armeniern schafft de facto eine implizite Hierarchie historischen Leids, wodurch die Anerkennung der Opfer des Völkermords an den Armeniern gegenüber Holocaustopfern geschmälert wird. Einige Richter kritisierten diese ungleiche Behandlung und betonten, dass «das Leiden eines Armeniers aufgrund der Völkermordpolitik des Osmanischen Reiches nicht weniger wert ist als das eines Juden unter der nationalsozialistischen Völkermordpolitik».
Neben der beschriebenen Hierarchisierung historischen Gedächtnisses und Leids darf die erhebliche Auswirkung der Anwendung von Artikel 17 auf die Meinungsfreiheit nicht unterschätzt werden. In Fällen zum Recht auf freie Meinungsäusserung führt der EGMR normalerweise eine rechtliche Analyse nach Artikel 10 durch. Die Anwendung von Artikel 17 scheint jedoch zunehmend eine Bedeutung zu gewinnen, die über das hinausgeht, was ursprünglich von seinen Verfassern beabsichtigt war.
Die Anwendung von Artikel 17 zur Einschränkung von «Hassrede» bedarf sorgfältiger Überlegung. Sie beeinflusst die Ausübung der Meinungsfreiheit erheblich, indem die betreffende Äusserung von einer Bewertung nach Artikel 10 ausgeschlossen wird – und damit auch vom wichtigen Prozess der Abwägung konkurrierender Interessen. Ein inhärentes Problem bei der Anwendung von Artikel 17 in Fällen freier Meinungsäusserung ist die «erschreckende Möglichkeit, dass eine Demokratie zu intolerant und dadurch selbstzerstörerisch wird».
Der EGMR verkommt zur Zensurmaschine
In der gegenwärtigen Rechtsprechung verbietet der EGMR sogar beleidigende oder voreingenommene Äusserungen. Er wendet Artikel 17 auf einen Völkermord an, auf einen anderen jedoch nicht. Er beugt sich zu bereitwillig den nationalen Behörden. Zwischen 1979 und 2020 wurden nur 23 von 60 Fällen zugunsten des Antragstellers entschieden. Viele davon betrafen lediglich Beleidigungen ohne jegliche Anstiftung zur Gewalt. So droht der Gerichtshof zu einer Zensurmaschine zu werden, anstatt ein Verteidiger der Freiheit zu sein.
Das Recht, zu verletzen, zu schockieren oder zu stören, muss zurückerobert werden. Das bedeutet keineswegs, Hass zu legitimieren. Vielmehr geht es darum, eine Grundvoraussetzung der Demokratie zu bewahren: Die Meinungsfreiheit muss die Regel sein und Einschränkungen die Ausnahme. Andernfalls droht das Versprechen von Artikel 10 zu einer Worthülse zu verkommen; abweichende Stimmen sowie Minderheiten könnten im Namen ihres Schutzes zum Schweigen gebracht werden.