Stranger than fiction
Martin Suter: Melody. Zürich: Diogenes, 2023.
Was ist Erinnerung und Interpretation, was ist Fiktion? Was sich wie eine philosophische Problemstellung liest, ist für die Charaktere in Martin Suters neuem Roman eine konkrete Herausforderung. In gewohntem Suter-Setting folgen wir einer Liebesgeschichte zwischen Macht und Massanzügen, die zum Kriminalroman ausreift und nebenbei die kalkulierte Welt der Schweizer Wirtschaft und Politik offenlegt.
Hauptfigur ist Tom, der nach zwei Juradiplomen Anstellung als Nachlassordner bei dem Alt-Nationalrat Dr. Peter Stotz findet. Als er in dessen Villa am Zürichberg zieht, wird schnell klar, dass er auch als Freund und Zuhörer eingestellt worden ist und seine Aufgabe noch weiter reicht. Stotz’ leeres Privatleben wurde einzig von Melody erfüllt, einer beinahe zwei Jahrzehnte jüngeren Tochter marokkanischer Einwanderer, die wenige Tage vor der gemeinsamen Hochzeit spurlos verschwand.
Suter versteht es, mit Spannung in das Milieu eines von Macht getriebenen Managers und Politikers einzuführen. Dr. Stotz’ Ähnlichkeit mit manchen Topmanagern und Verwaltungsräten, die in den letzten zwei Jahrzehnten zwischen den grossen Schweizer Finanzinstituten gewechselt haben, fällt hier besonders auf. Hinzu kommen auch wenig verdeckte Verweise auf Glencores jüngsten Bestechungsskandal im Kongo.
Im letzten Teil seines Romans löst sich Suter von den Zürcher Kamingesprächen bei Wein und Armagnac. Tom versucht, gemeinsam mit Dr. Stotz’ Nichte Laura Melody zu finden, und folgt den Erzählungen des ehemaligen Politikers durch die Schweiz, nach Singapur und nach Griechenland. Dort zeigt es sich, dass die «Realität […] immer noch schräger als alle Fiktion» ist und der Kern dieses Krimis eine durchaus rührende Liebesgeschichte ist. Das macht «Melody» zu einem unverkennbaren Suter-Roman, der Bestätigung bei Fans wie Kritikern finden dürfte.