Stellen wir die falschen Fragen?
Eine bildungspolitische Standortbestimmung Die «Baustelle Bildung» ist auch in der Schweiz von hektischer Betriebsamkeit
geprägt. Was aber fehlt, ist ein klares Leitbild – eine Vision, die der Vielzahl von Anstrengungen Richtung und Sinn geben könnte.
Das europäische Bildungsgefüge ist in Bewegung geraten. Signale sind seit langem da; sie lassen sich nicht ignorieren – und sie mahnen zum Handeln. Auch die Schweiz wird von dieser Bewegung erfasst. In Anlehnung an bewährte Säulen humanistischer Tradition soll ein Bildungssystem entstehen, das heutigen und künftigen Herausforderungen Rechnung tragen kann.
Doch wie sehen diese Herausforderungen aus? Suchen wir am richtigen Ort, stellen wir die richtigen Fragen? Wie reagieren wir etwa auf die Tatsache, dass sich Englisch als globale Wissenschafts- und Wirtschaftssprache durchgesetzt hat; oder auf die Information, dass in der Volksrepublik China derzeit 19 Millionen Studierende an Universitäten eingeschrieben sind, die sich im Kampf um einen Studienplatz nicht nur einer harten Selektion unterwerfen mussten, sondern ihr Studium mit wenigen Ausnahmen auch in der Mindeststudienzeit abschliessen? Durch vergleichbare Zahlen aus Indien und entsprechende Wachstumsraten liesse sich die Betrachtung fortsetzen. Wie sieht unsere Antwort auf die Abwanderung vieler unserer besten Forscher und Lehrer an amerikanische Eliteschulen aus? Was haben wir Schülern und Studierenden zu bieten, die im regionalen, nationalen und internationalen Rahmen zu den Besten ihrer Disziplin gehören wollen?
Soviel ist klar: Ein von Standortprotektionismus und Partikularinteressen, von staatlichem Umverteilungsdenken, von Ideen einer falsch verstandenen Chancengleichheit, von Besitzstandswahrung und Konkurrenzneid, von Bürokratie und Durchschnittlichkeitsdenken geprägtes Bildungssystem wird kommende Generationen nicht ausreichend vorbereiten können. Setzt es sich durch, so werden sich die heutigen Entscheidungsträger später einmal den Vorwurf gefallen lassen müssen, nicht nur ungelöste Probleme hinterlassen, sondern den nachfolgenden Generationen darüber hinaus auch noch jene Bildung vorenthalten zu haben, die allein zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben befähigt hätte.
Begriffliche Unschärfen
Als gesamtgesellschaftliches Anliegen stellen Erziehung und Bildung stets auch ein politisches Thema dar: eine Tatsache, die Reformen nicht einfacher macht. Bekenntnisse von Politikern aller Couleurs dazu, dass im Bildungsbereich nicht gespart werden dürfe, reichen als gemeinsamer Nenner – geschweige denn als Grundlage einer Vision – nicht aus.
Darüber hinaus entlarvt auch der Laie die unterschiedlichen Anliegen, die mit einem zwar grosszügig, aber unscharf eingesetzten Bildungsbegriff verbunden werden. «Wie allgemein üblich, haben wir Bildung und Ausbildung synonym verwendet. Aber bei sorgfältigem Sprachgebrauch muss man festhalten, dass Bildung nicht immer mit Ausbildung identisch ist und Ausbildung nicht automatisch auch Bildung bedeutet. Viele glänzend ausgebildete Leute sind ungebildet, und viele Gebildete sind nicht ausgebildet und haben ihre Bildung nicht aus Schulen. Alexander Hamilton zum Beispiel war einer unser ‹gebildetsten› und einer unserer Gründerväter, doch er ging nur drei oder vier Jahre zur Schule. Zweifellos kennt jeder Leser ausgebildete Leute, die er für ungebildet hält, und mangelhaft ausgebildete Leute, die er für gebilgebildet hält.»1 Diese Feststellung in Rose und Milton Friedmans Analyse des Versagens des staatlich gesteuerten Bildungssystems der USA weist auf die alleine schon begriffliche Schwierigkeit einer kohärenten Bildungsdiskussion hin.
Die von Richard Meister, dem langjährigen Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften getroffene Festlegung dreier Hauptdimensionen von Bildung stellt einen wichtigen Beitrag zur Behebung dieser begrifflichen Willkür dar, auch wenn sie sich weder in ihrer ursprünglichen Form noch in ihrer Weiterentwicklung im aktuellen politischen Diskurs wiederfindet. Und sie formuliert einen bemerkenswert klaren inhaltlichen Anspruch an das Bildungsverständnis: «Der Teil der Bildung, durch den der einzelne seiner Bestimmung als Arbeitender zugeführt wird, ist die Berufsbildung (…) Der Teil der Bildung, durch den der einzelne als Empfangender Anteil an der Kultur erhält, ist die Allgemeinbildung (…) Aber weder Arbeit und Allgemeinbildung noch Kultur sind das Letzte in der Bestimmung des Menschen (…) So tritt neben die beiden bereits genannten Dimensionen der Bildung, die Berufs- und die Allgemeinbildung, noch als dritte Dimension die Weltanschauungsbildung.»2
Was haben unsere Politiker vor Augen, wenn sie von «Bildung» sprechen? Eine offene politische Auseinandersetzung über die inhaltlichen Schwerpunkte des verwendeten Bildungsbegriffs wäre angebracht. Weder das utilitaristische Bildungsverständnis einer isolierten, ausschliesslich an den Bedürfnissen der Privatwirtschaft orientierten Bildung noch das Angebot einer end- und ziellosen Erweiterung individueller (Allgemein-)Bildung auf Kosten der Gesellschaft dürften dem Anspruch eines auf der erfolgreichen europäischen Bildungstradition ruhenden Bildungssystems gerecht werden. Richard Meisters Dimensionen von Bildung deuten hier in die richtige Richtung.
Sowohl die Frage nach den Konsequenzen, die wir für die Gestaltung unserer Bildungslandschaft aus dem dramatisch veränderten Umfeld ziehen als auch jene nach den Ansprüchen, die wir als Gesellschaft an die Bildung an sich stellen, mündet zuletzt in jene andere Frage, wie die direkt Betroffenen in das Bildungssystem eingebunden werden sollen. Welche Rolle kommt den «sich Bildenden», welche den «Bildenden» und welche den Bildungsinstitutionen zu? Welche Funktion muss der staatliche Träger der Bildungshoheit wahrnehmen? Wo liegen die Grenzen dieser Funktion? Wer trägt welche Verantwortung im Bildungsprozess? Muss die Erkenntnis, dass es den mündigen, jederzeit an seinem besten, langfristigen Interesse orientierten Lernenden nur im Idealfall gibt, dazu führen, dass die Gesellschaft den Auszubildenden die Eigenverantwortung in grossen Stücken abnimmt? Worauf stützt sich die in ihren Auswüchsen doch befremdliche Annahme, die Gesellschaft habe ein Bildungsangebot nach individuellem Interesse und ohne finanzielle Gegenleistung zur Verfügung zu stellen? Dürfen die phasenweise Schieflage von Angebot und Nachfrage oder der Vorwand des Schutzes der akademischen Freiheit dazu führen, dass Lehrende sich einer Leistungsbewertung und Kontrolle weitgehend entziehen? Sind individuelle Leistungsbereitschaft und der Wille, sich dem Wettbewerb zu stellen, nicht auch im Bildungsbereich (und für alle Betroffenen) zwingende Voraussetzungen?
Gefragt ist ein offener Blick über den Tellerrand hinaus. Gefragt ist eine schonungslose Analyse der Gegebenheiten, dann der Wille, konsequent zu handeln. Was not tut, ist eine offene Auseinandersetzung zur Klärung der Frage, welche Ansprüche an dieses Bildungssystem zu stellen sind. Gefragt sind schliesslich auch private Initiative, Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung, wenn denn der Standort Schweiz einen seiner wertvollsten Trümpfe nicht verlieren will.