Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Steine, Weg, Zeit, Ewigkeit

Ernst Halter: «Jahrhundertschnee». Zürich: Ammann, 2009.

«Zeit»… der Begriff gehört den Physikern, Biologen, Historikern, Psychologen, Philosophen. Die Zeit ist objektiv messbar, sie ist exakt, berechenbar. Daneben gehört sie allerdings auch dir und mir – sie wird uns lang im Warten, sie steht still in der Angst, rennt im Glück davon und rieselt im Lauf des Lebens schnell und schneller durch das Stundenglas. Festhalten geht nicht, aber ein Schnippchen schlagen kann man ihr schon – festschreiben ist eine Möglichkeit. So versucht Ernst Halter in seinem neuen Roman «Jahrhundertschnee» nicht weniger, als das ganze 20. Jahrhundert auf Papier zu bannen.

Das ist erstmal eine Riesenfleissarbeit. «Mein Leben lang habe ich Landkarten und Millionen von Zahlen gesammelt, Sprachen-, Berufs-, Einwohner-, Kilometer- und Quadratkilometerzahlen von Inseln, Staaten und Flüssen, Städten, Dörfern und Verwaltungsbezirken.» Der Autor, 1938 in Zofingen geboren, bekennt sich denn auch als «Statistiker». Doch die Zahlen sind ihm nicht nur Hilfsmittel für eine Bestandesaufnahme; seine Inventur – so sein Anspruch – ist hoch aufgeladen mit Fleisch und Blut. Sein Zählwerk birgt Schicksale, birgt Verzweiflung und Tod, Freude, Bosheit, Tapferkeit… kurz: das ganze Arsenal menschlichen Lebens. Was auf der Liste ist, bleibt unverloren, bleibt, wie ein Stein um Stein gesetzter Weg, begehbar in alle Ewigkeit.

Ein Jahrhundert wird also besichtigt, sein Kriegs-, Katastrophen- und Alltagsgeschehen ins Auge gefasst. Da kommt viel Material zusammen, viel Recherchierarbeit und viel Wissen. Das ist beeindruckend. Aber da gibt es Sätze, bei der Schilderung einer alten Frau etwa, die ein Lächeln im Gesicht hat, «das schon keines mehr war». Es sind solche Stellen, regelmässig alternierend mit allgemein Zugänglichem, die den Fokus von aussen nach innen verlagern – vom Allgemeinen zum Individuellen. Es sind jene Buchseiten, die dem Roman den Nährstoff geben. Dazu gehört auch ein fiktives, blitzgescheit bissiges Streitgespräch zwischen Brecht und Canetti – zwischen Ideologiehörigkeit und Ideologieverwerfung. Oder ein Porträt des «Schlossherrn», Jean Rudolf von Salis, dessen Geistesgrösse und Menschlichkeit während mehrerer Begegnungen wiederauferstehen.

«Die Zeit», so J. R. von Salis, sei «das grösste und gefährlichste Geschenk an den Menschen». Ob wir sie nutzen (wie uns gelehrt wird) oder vertrödeln (wie uns verboten wird) oder ob wir sie einzufangen versuchen (und dabei immer einen Schritt zu spät kommen) – der Zeit gehört die Summe aller Schrecknisse an oder des Glücks. Vielleicht sollten wir ihr vermehrt ein Schnippchen schlagen. Und sie ignorieren – oder einfach vergessen. Beim Lesen, zum Beispiel.

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!