Stadtpolitik für den Freisinn
Was die FDP gegen die Dominanz der Linksparteien in den Schweizer Städten tun kann.
2018 werden alle sechs Schweizer Grossstädte – Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern und Winterthur – von einer linken Mehrheit regiert. Winterthur, die ländlichste dieser Städte, ist zuletzt gefallen: Christa Meier (SP) wurde im März 2018 zu Lasten von Josef Liesibach (SVP) in die Exekutive gewählt. Von gesamthaft 40 Sitzen belegen die Linksparteien nun 28, also satte 70 Prozent – die SVP keinen einzigen. Die FDP hat immerhin noch sechs Sitze: je zwei in den beiden Zürcher Städten und je einen in Basel und Lausanne.
Welche Auswirkungen die immer schwächere bürgerliche Vertretung haben wird, lässt sich nur erahnen. Mit Sicherheit werden diese Auswirkungen aber nicht auf die Städte begrenzt bleiben, denn die Schweiz ist ein stark urbanisiertes Land: Drei Viertel der Bevölkerung leben in Städten und deren Agglomerationen. Die urbanen Zentren sind die Wirtschaftsmotoren des Landes und zudem wichtige Laboratorien für die Politik: Hier werden neue Lösungsansätze entwickelt und erprobt, die auch Eingang in die kantonale und nationale Politik finden. Angesichts dieser übergeordneten Funktionen sind die Entwicklungsperspektiven der Städte und die Art, wie sie regiert werden, Fragen von nationaler Bedeutung.
«Den Schweizer Städten geht es heute gut.»
Den Schweizer Städten geht es heute gut. Doch noch Anfang der 1990er Jahre sprach man von «A-Städten» mit Armen, Ausländern, Alten, Abhängigen – die jungen Familien und Gutverdienenden waren im Zuge der Suburbanisierung ins Umland abgewandert. Die Renaissance der Zentren begann Mitte der 1990er Jahre. Neben städtischen Errungenschaften wie z.B. verkehrsberuhigenden Massnahmen oder der liberalen Drogenpolitik zur Eindämmung offener Drogenszenen war der Trend aber wesentlich durch exogene Faktoren begünstigt: Der Immobilienmarkt genas (nach der Immobilienkrise zu Beginn der 1990er), der Schock des EWR-Neins von 1992 löste auf nationaler Ebene einen wirtschaftspolitischen Reformschub aus (z.B. Umsetzung der bilateralen Verträge mit der EU, Einführung der Schuldenbremse, Neugestaltung des Finanzausgleichs), infolge der Personenfreizügigkeit erlebt die Schweiz eine massive Zuwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte, die sich vor allem auf die Zentren konzentrierte, und auch der Megatrend Globalisierung trieb die Reurbanisierung voran, weil die Zentren sozusagen die Hubs der Globalisierung darstellen und sich die Schweiz als offenes Land mit attraktivem steuerlichem Umfeld gut positionierte.
Die Dominanz des links-grünen Stadtmodells
Die sprudelnden Steuereinnahmen – in den zehn grössten Städten wuchsen die Fiskalerträge von 1990 bis 2016 durchschnittlich pro Einwohner um 66 Prozent – eröffneten den Stadtregierungen grosse politische Gestaltungsspielräume. Sie nutzten sie für den Ausbau der Verwaltung und für Infrastrukturinvestitionen, aber auch für soziale Wohltaten und eine ganze Reihe von Projekten mit fragwürdigem Kosten-Nutzen-Verhältnis, wie z.B. die mit öffentlichen Mitteln finanzierten Glasfasernetze, die unnötige Installation stadteigener Veloverleihsysteme, die Übertragung städtischen Baulands an Wohnbaugenossenschaften weit unter dem Marktpreis oder generell die verhältnismässig teure Bauweise bei vielen öffentlichen Bauten. Trotzdem blieb mancherorts noch genug Raum für die Reduktion von Schulden und die Stärkung der Kapitalbasis.
In der politischen Landschaft vergrösserte sich während dieser Zeit der Stadt-Land-Graben (siehe Abb. 2). Die wachsende Kluft zwischen links-progressiven Städten und ihrem politisch weiter rechts stehenden Umland sind gemäss Untersuchungen des Politologen Michael Hermann vorwiegend auf eine soziale Entmischung durch Umzüge in beide Richtungen zurückzuführen. Man könne von einer Entwicklung hin zu «Ghettos der Gleichgesinnten» sprechen.1 Die politischen Einstellungen und Wertehaltungen der städtischen Bevölkerung manifestieren sich im Wahlverhalten und damit in der Zusammensetzung der Stadtregierungen und -parlamente. Auch wenn das links-grüne Lager in den meisten Städten schon vor zwanzig Jahren stark war, kam es seither in den Legislativen fast überall zu entscheidenden Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse.
«Niederdorf-Politik» für die Global City: Die Insider-Outsider-Problematik der Schweizer Städte
Ein wichtiges Merkmal der politischen Strukturen in Schweizer Grossstädten ist die wachsende Kluft zwischen einer Classe politique, die sich weitgehend aus Einheimischen rekrutiert, und einer immer internationaler werdenden Stadtgesellschaft. Der Ausländeranteil liegt zwischen 25 Prozent in Winterthur und 50 Prozent in Genf. In jüngeren Alterskohorten liegen diese Werte sogar noch höher. Auch die Wirtschaftsbasis der Stadt, die Wissenschaft, die Kultur sind zunehmend international orientiert. Das politische Personal und die Verwaltung jedoch – und auch die Wählerschaft – werden weiterhin von «Autochthonen» dominiert: In Basel ist der legendäre «Daig» noch immer eine politische Grösse, obwohl die Wirtschaft von multinationalen Unternehmen dominiert wird. Am UNO-Standort Genf sitzen noch Vertreter alteingesessener Familien an politischen Schaltstellen. Und am Finanzplatz Zürich verdient man das Geld auf den Weltmärkten, während lokale Netzwerke in den Zünften geknüpft werden. Pointiert könnte man sagen, die politischen Rahmenbedingungen der Global City werden im Niederdorf ausgehandelt.
«Ein wichtiges Merkmal der politischen Strukturen in Schweizer Grossstädten ist die wachsende Kluft zwischen einer Classe politique, die sich weitgehend aus Einheimischen rekrutiert, und einer immer internationaler werdenden Stadtgesellschaft.»
Diese geschlossene Gesellschaft der städtischen Politik begünstigt lokalen Klientelismus. Klassisches Beispiel ist der hochpreisige urbane Wohnungsmarkt, auf dem subventionierte Wohnungen weit unter Marktwert über Mechanismen zugeteilt werden, die alteingesessene Insider bevorzugen. So gehört etwa in Zürich jede vierte Wohnung «gemeinnützigen» Genossenschaften oder der Stadt selber. Ironischerweise führen die Menschenschlangen bei der Besichtigung subventionierter Wohnungen verbreitet zur Ansicht, der Markt funktioniere nicht, weshalb es weiterer Regulierungen bedürfe. Dabei sind die Schlangen – also das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage – im Gegenteil Folge der Unterdrückung des Marktes. Die Zeche zahlen junge und mobile Haushalte, die in die Städte ziehen wollen und dabei auf ausgetrocknete Märkte und überhöhte Neumieten treffen. Mit ihrer vermeintlich weltoffenen und sozialen Politik verursachen die Linksparteien Abschottung und asoziale Umverteilungseffekte.
Bürgerliche Stadtpolitik mit ländlicher DNA
Die Dominanz des links-grünen Entwicklungsmodells mit seiner «Niederdorf-Politik» für die grossen Städte ist aber nicht nur auf politische Einstellungen und Wertehaltungen der urbanen Wählerschaft zurückzuführen oder auf eine Abwanderung bürgerlicher Milieus in die «Agglo». Sie hängt auch damit zusammen, dass es an attraktiven Gegenmodellen mangelt. Lange Zeit hat die FDP ihre politischen Programme aus den Agglomerationen und Landgemeinden – die dort durchaus erfolgreich sind – relativ unbeholfen auf die Städte übertragen, ohne urbanen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. So passt z.B. das traditionelle Familienbild immer weniger zur städtischen Sozialstruktur, die von Singlehaushalten, Doppelverdienern oder Patchworkfamilien geprägt ist. Multikulturalität oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind Aspekte des urbanen «Grooves», die auf der bürgerlichen Seite oft noch ein gewisses Unbehagen auslösen. Gleiches gilt für umwelt- und klimapolitische Anliegen. In lokalen Wirtschaftsfragen zeigt sich die ländliche DNA bürgerlicher Stadtpolitik in Form einer Dominanz der gewerblichen Perspektive: Privilegien und spezifische Brancheninteressen werden verteidigt, die Standortpolitik häufig auf harte Faktoren reduziert.
«Multikulturalität oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind Aspekte des urbanen «Grooves», die auf der bürgerlichen Seite oft noch ein gewisses Unbehagen auslösen.»
Oder in der Verkehrspolitik: In der Agglomeration politisch erfolgreiche Konzepte, dem wachsenden Autoverkehr mit einem Ausbau der Infrastruktur zu begegnen, sind in der Stadt schon aufgrund der völlig anderen Raumverhältnisse zum Scheitern verurteilt. Auch bleibt die herkömmliche bürgerliche Stadtpolitik im Bereich der Stadtplanung oder der Denkmalpflege oft fantasielos. Entsprechende Bemühungen werden rasch als wirtschaftsfeindlich verworfen oder als planwirtschaftlich abgekanzelt. Wenn die Parteistrategen der FDP dem dominanten links-grünen Modell für die Schweizer Metropolen eine moderne liberale Alternative entgegensetzen wollen, müssen sie das «Dorf aus ihren Köpfen» herausbekommen.
FDP urban
In der politischen Stadtlandschaft gäbe es durchaus Raum für eine FDP: In den Städten wohnen viele gut ausgebildete, gutverdienende Personen, die grundsätzlich ein Interesse an liberalen, marktnahen Lösungen für urbane Herausforderungen haben. Eher wenig Hoffnungen auf Stimmenfang in den grossen Städten muss sich bloss die SVP machen: Sie hat ihre Wählerschaft mehrheitlich auf dem Land, und daran ist per se auch nichts auszusetzen. Es spricht nichts dagegen, dass die Parteien ihre Stärken dort ausspielen, wo sie ihre Präferenzen am besten in der soziokulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung verkörpert sehen. Diese Stadt-Land-Gräben sind auch nichts Schweizspezifisches: In den USA haben die Republikaner in den grossen Städten ebenso wenig Wähler wie die Demokraten auf dem Land. Doch es könnte langfristig sehr negative Konsequenzen haben, die grossen Städte als Wirtschaftsmotoren der Schweiz und Hubs der Globalisierung ausschliesslich den Wirtschaftsskeptikern zu überlassen – nicht nur für die Städte selbst, sondern für die gesamte Land. Es ist deshalb wichtig, dass die FDP an urbanem Profil gewinnt.
Genau das versucht eine Kooperation der freisinnigen Sektionen aus den acht grössten Schweizer Städten unter dem Label «FDP urban». Das Vorhaben findet gezwungenermassen im Spannungsfeld zwischen urbanen Präferenzen und Parteiidealen statt. Es kann sinnvoll sein, ökologische Anliegen zu betonen, ebenso wichtig ist es aber, auf marktwirtschaftlichen und effizienten Instrumenten zu ihrer Verwirklichung zu beharren. Zig Millionen Franken kommunaler Steuergelder in Gebäudedämmungen zu investieren, gehört z.B. nicht dazu, denn das ist einer der nachweislich ineffizientesten Wege zur Reduktion des CO2-Ausstosses. Auch im Bereich Wohnungsmarkt ist wenig gewonnen, wenn die FDP Stimmen gewinnt, indem sie interventionistische kommunale Wohnraumpolitik mitträgt. Hier wären eher Aufklärung und attraktive Gegenmodelle gefragt. In anderen Bereichen ist es dagegen wichtig und richtig, wenn die FDP offensiv urban denkt – zum Beispiel mit der Forderung nach Verdichtung mit Qualität, nach gesellschaftlichen Freiheiten und ganz generell mit Mut zu unkonventionellen Experimenten. Und beim Thema Migration kann sich die FDP klar urban positionieren: Mit einer grundsätzlich offenen, migrationsfreundlichen Politik, die aber Integrationsleistungen fordert und nicht blind gegenüber den Herausforderungen multikultureller Gesellschaften ist.
Die Suche nach Rückgewinnen von Wähleranteilen in der Stadt ist für die FDP eine Gratwanderung: Gewinnt sie Wähler mit einem Programm, das nicht der Partei entspricht, ist den Anliegen der Partei und ihrer eigentlichen Wähler wenig gedient. Kann sie aber ihr bürgerlich-verstaubtes Image nicht abschütteln, wird sie die Stadtpolitik nicht mitprägen können. Eine bürgerliche Stadtpolitik hätte vor allem dann eine Chance, wenn glaubwürdige Politikerinnen und Politiker mit einer klaren Agenda für die Stadt antreten und diese anschliessend mit sichtbaren Projekten und Massnahmen umsetzen. Glaubwürdigkeit geniessen «Charakterköpfe», die durch ihre Biografie und ihren persönlichen Stil ein urbanes Lebensgefühl verkörpern. Entscheidend ist dabei eine Politikagenda, die das klassische Lagerdenken überwindet und Themen, die der Bevölkerung unter den Nägeln brennen, lösungsorientiert angeht.
Zum Weiterlesen: das Städte-Monitoring von Avenir Suisse.
Michael Hermann: Im Ghetto der Gleichgesinnten. In: Tages-Anzeiger, 22.2.2011. ↩