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Sprache, langsam eroberte Heimat

Mit dem Schweizer Schriftsteller Francesco Micieli stellen wir in der fünften Folge des Fokus «Chamisso-Preis» einen weiteren, in der Schweiz lebenden Preisträger der seit 1985 jährlich vergebenen Auszeichnung vor.

Francesco Micieli, 1956 in einem kalabresischen Bergdorf geboren, wo hauptsächlich Nachkommen von 500 Jahre zuvor Eingewanderten leben, die ein altes Albanisch sprechen, wurde schon durch seine Einschulung zu einem Wechsel von der Mutter- zur Staatssprache gezwungen. 1965 folgt Francesco Micieli den in der Schweiz arbeitenden Eltern nach Lützelflüh im Emmental. So kommt er vom kargen Land, dessen Erde wie «getrocknetes Blut» aussah, in ein «Zuviel› Grün», von der kaum mehr vorstellbaren Armut in die behäbige Wohlstands-Enge helvetischer Provinz. Und hat gleich zwei neue Sprachen zu lernen: Berner Mundart und das Schulhochdeutsch. Nach anfänglichem Verstummen wird er als guter Schüler zum «Vorzeigeobjekt der emigratorischen Intelligenz» und studiert schliesslich Sprachen – Romanistik und Germanistik –, arbeitet in der Freien Theaterszene, beginnt zu schreiben. 1986 erscheint das erste Buch seiner Trilogie – knappen kompakten Kompositionen von unverwechselbarem, von essentiell elegischem Ton, in denen Francesco Micieli eindringlich die verlorene Welt der Kindheit, die Tragödie der Emigration und die allmähliche Annäherung an die Gegenwart der Fremde schildert.

«Ich kenne meinen Vater nicht. Ich weiss nur, dass er grosse Hände hat» heisst es im ersten Band «Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat»; in lapidaren Hauptsätzen fasst der Autor Wissen und Nichtwissen vom Vater in der Ferne. Die Mutter folgt dann dem Mann, überlässt das Kind der Obhut der Grosseltern. Francesco Micieli blickt mit erwachsenem Bewusstsein auf diese Kindheit, er verniedlicht nichts, registriert nüchtern, resümiert in jeweils wenigen Zeilen ganze Schicksale: «Mein Vater hat einen Bruder. Er hat im Krieg einen Arm verloren. Man hat ihm dafür einen Orden gegeben. Mit diesem Orden kann ich dich nicht umarmen, sagt er». Seine Sprache hat die elementare Kraft von Lesebuchsätzen und dazu den unverwechselbaren Klang autochthoner Dichtung.

Im zweiten Band «Das Lachen der Schafe» fungiert der Autor als ein «Schreiber», der die Geschichten und Sätze der analphabetischen Arbeiterin Caterina aufzeichnet; poetische Sequenzen und episodische Szenen evozieren zum einen die Erinnerung ans alltägliche Elend in Kalabrien – den prügelnden Vater, die Armut: «Der Tod ist ein Nachbar, zwei Bauernhäuser von uns entfernt» – zum andern die staunende Beobachtung und Reflexion im Emmentaler Exil: «Wir sind fremde Bäume. Wir stehen da, wir haben keine Wurzeln, wir geben nur Schatten».

Als dritte Ebene kommen Mythen und Lieder aus der sterbenden albanischen Überlieferung hinzu, Texte von archaischer Wucht. «Die Tragödie wurde im Süden erfunden. An einem heissen Tag, an dem der Mann die Frau erschlug.» Mit grosser erzählerischer Ökonomie, mit Sätzen von raffinierter Schlichtheit und flirrender Intensität verstört und verzaubert dieser, wenn er vom Schmerz der Emigration schreibt: «Jahrelang haben wir auf ein Wunder gewartet. Ein Wunder, das uns die Auswanderung wegnehmen würde. Nun sind wir Fremde überall.» Nun sind wir Fremde überall – das könnte als Motto über allen Texten Micielis stehen. Wehleidigkeit freilich liegt ihm fern, ein feiner Humor durchweht seine Bücher: «Die in der Heimat Gebliebenen bauen nun unsere Häuser und werden reich damit. Wir wollen ja alle ein mehrstöckiges Traumgrab im Lande unserer Geburt.»

Nicht zum Traumgrab, sondern zum realen Begräbnis der Mutter führt «Meine italienische Reise» – der dritte Titel der Trilogie. Der Erzähler fährt mit dem Vater im Zug zurück ins Herkunftsdorf, während der Mutter Sarg per Flugzeug und Auto die gleiche Reise antritt. Nun im Vollbesitz literarischer Techniken, geht Micieli vielseitig und spielerisch damit um. So schreibt er wechselnd in erster und dritter Person, schaut sich quasi über die Schultern, spiegelt das Erzählte im Traum und in erfundenen Episoden mit literarischen Bezügen. Kern seines Erzählens bleibt freilich das Thema der Emigration und ihrer Folgen: die Zerrissenheit, die Unbehaustheit, das Fremdbleiben allerorten. Prekär auch der Kontakt zum schweigsamen Vater: «Zwischen uns ist wenig Sprache», heisst es, und später: «Er hat sich eingeschlossen, verriegelt, abgesperrt, als wäre sein Leben ein heisser kalabresischer Tag.»

Der Erzähler selbst übt den schwierigen Spagat zwischen den Welten: das italo-albanische Dorf ist zur «heimatlichen Fremde» geworden. Welche Anstrengung der Spagat kostet, illustriert Micielis bisher letztes Buch «Blues. Ein Album», das das Spiel mit Spiegelungen und Reflexion, mit Identitätssuche und Identitätstausch hartnäckig, fast verzweifelt vor- und fortführt. Micielis Werk schöpft unverkennbar aus dem eigenen Erleben, ohne sich darin zu erschöpfen. Vielmehr gestaltet es universelle Erfahrung, formuliert existentielle Fragen. Wie fragil auch immer – die Sprache scheint zur einzigen Heimat dieses begabten Autors geworden zu sein.

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