Spiel mit gezinkten Würfeln
Wem in unserer Gesellschaft der ganz grosse Wurf gelingt, der hat viel geleistet, Glück gehabt – oder gute Beziehungen. Netzwerke haben eine natürliche Tendenz zu verfilzen. Was kann man dagegen tun? Bewusst den Zufall mitspielen lassen!
Frau Rost, mit dem «Filz» ist es so eine Sache: Alle glauben zu wissen, was das ist – eine echte Definition dafür gibt es aber nicht. Von kleineren Gefälligkeiten unter Kollegen über das politisch-systematische Ausnutzen von Insiderwissen bis hin zur handfesten Korruption kann man darunter alles Mögliche verstehen. Hilft uns die Wirtschafts- und Organisationssoziologie?
Eigentlich ist es ganz einfach: Normalerweise sollten beispielsweise Positionen in Unternehmen oder auch politische Ämter so vergeben werden, dass bei gegebener Qualifikation jeder die gleiche Chance hat, sie zu besetzen. Mit «Filz» haben wir es zu tun, wenn diese Chancengleichheit nicht besteht, sondern «unsichtbare» Netzwerke, in denen Bekannte sich gegenseitig Positionen oder Vorteile zuschanzen, den Ton angeben. Filz untergräbt also das Wettbewerbs- und Leistungsprinzip durch persönliche Beziehungen.
Was hier noch eindeutig klingt, ist es leider nicht, denn: Allein in Zürich finden jeden Abend Dutzende von Networking-Parties statt, anlässlich derer man sich bei Smalltalk an Weisswein und Kanapees laben und Beziehungen knüpfen kann – anrüchig ist die Teilnahme daran aber nicht. Wie lassen sich «gesunde» Netzwerke und «ungesunde» Verfilzungen systemisch voneinander trennen?
Kaum, denn die Grenzen sind fliessend – «Netzwerk» klingt allerdings netter. Und natürlich bedeutet das Kennen von Menschen noch nicht, dass man sie und ihre Macht unlauter einsetzen muss. Aber: Ein gutes Netzwerk bringt mir Vorteile, deswegen habe ich es ja. Und mit der Ausnutzung derselben auf informellem Weg landen wir dann schnell beim Filz. In jedem Beziehungsgeflecht geht es schliesslich um eine Form von Reziprozität: Ich gebe dir, wenn du mir gibst. Das kann kleine, harmlose Dinge betreffen wie das Blumengiessen, wenn man in den Ferien ist – aber eben auch ein Amt, einen Job oder ein Verwaltungsratsmandat. Deshalb stimmt es auch, wenn man sagt: Das erste Mandat ist das schwierigste, die nächsten kommen wie von allein.
Bleiben wir also zunächst beim sogenannten «Wirtschaftsfilz». Wie setzt er sich zusammen?
Viele Leute glauben, in unserer Gesellschaft herrsche Chancengleichheit, weil wir vor Recht und Gesetz heute alle mehr oder minder gleich sind. Wenn man sich aber beispielsweise anschaut, wer hierzulande hohe Wirtschaftspositionen besetzt, sieht man, dass die Kandidaten aus einem sehr kleinen Bereich der Bevölkerung stammen, nämlich aus dem sogenannten Grossbürgertum, das sich über die letzten Jahrhunderte entwickelt hat. Das macht zwar weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, stellt aber je nachdem, welche Position Sie sich anschauen, stets mehr als 50 Prozent der Beschäftigten…
…was natürlich auch daran liegen kann, dass gewisse Teile der Gesellschaft auch kulturell mehr Wert auf höhere Bildung und bessere Qualifikationen legen und alles daransetzen, die eigenen Standards zu erfüllen. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass das Grossbürgertum einerseits mehr finanzielle Möglichkeiten, andererseits aber auch höhere Ansprüche an seine Sprösslinge und ihre Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hat, oder?
Natürlich. Und: Wenn eine Position oder ein Amt frei wird und es darum geht, wer für sie vorgeschlagen wird, schaut man natürlich zuerst in den Kreis der Bekannten. Das muss noch nicht einmal etwas Böswilliges haben, aber führt eben dazu, dass manche Leute sich vor Ämtern kaum retten können und andere nie in eines reinkommen. In der Wirtschaft geht es dann häufig auch um Verwandtschaft, um Familiendynastien, die an der Macht bleiben oder diese in einem kleinen Zirkel kumulieren wollen. Spätestens wenn aber der Enkel, der eine Führungsposition «erbt», ein Volltrottel ist, wird es hochproblematisch – und zwar nicht nur für die Familie oder den Betrieb, sondern auch für alle anderen, die für eine Position geeignet wären, aber an gläserne Decken stossen und frustriert sind – letztlich also für Volkswirtschaft und Demokratie.
«Es existiert immer eine Form der Aristokratie, und zwar genau dort,
wo Eliten sich einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen
und sich gegenseitig Positionen zuschanzen.»
Zugestanden. Wenn man mal von den vielen kleinen Familienbetrieben absieht, die dieses System zum Markenzeichen gemacht haben, müsste aber doch der Schweizer Wirtschaftsfilz im Zuge der Globalisierung – mehr Wettbewerb, mehr Talente – seit den 1990ern ernsthaft in Bedrängnis gekommen sein? Eine Studie der Uni Lausanne ist 2015 jedenfalls zum Schluss gekommen, dass der typisch eidgenössische Filz – also die Verflechtung von Eliten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung – die Jahrtausendwende nicht überlebt habe.
Auf die Art und Weise, wie Filz dort untersucht wurde, stimmt das. Die Studie hat ja insbesondere Board- und Militärverflechtungen ins Visier genommen, also die traditionellen Schweizer Arten des Filzes. Natürlich haben die Globalisierung und der technologische Wandel Einfluss auf diese Netzwerke: Früher musste man im Militär gewesen sein, um eine Wirtschaftskarriere zu machen – heute reicht die Leistung, die man in Ausbildung und Beruf nachweisen kann. Hiesige Unternehmen sind gemessen am weltweiten Standard deshalb mit die internationalsten Unternehmen, die es gibt – und das müssen sie im weltweiten Wettbewerb auch sein.
Hat sich also der Filz seit dem Fall des Eisernen Vorhangs einfach eine Etage nach oben verschoben – quasi aus dem Einzugsbereich des lokalen Wettbewerbs und der lokalen Wettbewerbshüter hinaus?
Ja, es hat sich eine Art internationale CEO- und Managerelite gebildet. Interessant ist: Diese global betrachtet schon sehr kleine Gruppe wird ständig kleiner. Das heisst, mehr Kapital kumuliert in den Händen immer weniger Leute. Aus der «Schweizer Perspektive» mag dieses Geflecht sehr intransparent aussehen, da die hiesige Öffentlichkeit sich viel mit sich selbst beschäftigt –, schaut man sich die globalen Bewegungen der Entscheider aber konzentriert an, kann man sagen: Aus den vielen nationalen Filzteppichen hat sich in den letzten knapp dreissig Jahren ein neuer, kleiner, globaler Filz gebildet.
Hierzulande hat man die enge Verbindung zwischen den politischen, wirtschaftlichen, zum Teil auch kulturellen Eliten, die ja ein Stück weit auch auf dem Milizprinzip fusste, lange als effizientes und konsensorientiertes Gesellschaftsmodell empfunden: Man kannte sich und wenn jemand einen Fehler machte, wusste man, wieso, und konnte auch mal darüber hinwegsehen. Diese positive Konnotation des «alten Schweizer Modells» auch unter Liberalen steht heute ein bisschen quer in der Landschaft, oder?
Stabilität und Vertrauen sind sicher ganz wichtige Faktoren: dass man Fehler bemerkt und die Gemeinschaft vielleicht auch einstehen und helfen kann oder, wenn es ganz schlimm wird, jemanden ausschliesst. Und in einem gewissen Sinne sind natürlich solche Netzwerke zumindest nach innen hin weniger korruptionsanfällig – hier existiert eine wechselseitige Kontrolle und das Vertrauen ins Gegenüber ist sehr gross. Insofern ist etwas Nostalgie verständlich. Die Frage ist natürlich immer: Kann man die Vorteile, die es in überschaubareren Strukturen unbestreitbar gibt, in ein neues Modell hinüberretten, das global konkurrenzfähig ist?
Wir reden hier über grundsätzlich verschiedene Netzwerkstrukturen.
Genau. Das eine ist dieses globale, vom Nationalstaat fast losgelöste Netzwerk, das andere quasi das kleine, lokale Grüppchen. Die Vorteile des einen sind die Nachteile des anderen. Es ist absurd zu behaupten, die total globalisierte Welt hätte nur Vorteile für alle. Genau das, was das alte Netzwerkmodell, der alte Schweizer Filz, geboten hat, kann das neue Modell nicht mehr bieten. Die Schweiz als Hochpreisinsel konnte es sich irgendwann schlicht nicht mehr leisten, die Verwaltungsratssitzungen von Grossbanken auf Schweizerdeutsch abzuhalten – weil die qualifiziertesten CEOs der globalen Finanzbranche eben nicht unbedingt Schweizerdeutsch sprechen.
In der Politik ist der Wettbewerb um Posten weiterhin ein nationaler – über Wahlen und Abstimmungen können Bürgerinnen und Bürger Einfluss darauf nehmen, welche Person welches Amt bekleiden soll. Wie steht es um die Verfilzung des Politbetriebs?
Politik ist ja per se verfilzt, wenn man so will, da politische Parteien «Clubs» Gleichgesinnter sind, in denen sich Menschen aufgrund von ähnlichen Präferenzen, Anliegen und ähnlicher Herkunft organisieren und gegenseitig hochziehen. Wen diese Parteien zur Wahl stellen, hat denn auch nicht unbedingt mit der Leistung der Kandidaten zu tun, sondern mit dem politischen Standpunkt und der Herkunft. Das gilt zum Teil auch für die Behörden und ihre Bürokratien: Der Stallgeruch ist immer noch wichtig, um in Ämter aufzusteigen, also das kulturelle Kapital: Wie man sich benimmt, mitunter ob man schon als Kind eine Oper von innen gesehen hat oder eben genau nicht.
Reiner Eichenberger hat einmal vorgeschlagen, auch für politische Ämter den Markt zu öffnen – national und international. Man muss ja nicht unbedingt aus Aarau sein, um dort als Stadtpräsident erfolgreich zu arbeiten. Wie realistisch sind solche Vorschläge?
Grundsätzlich neigen wir heute dazu, alles globalisieren zu wollen, in Datenbanken abzuspeichern und transferierbar zu machen – auch um Filz und Korruption zu bekämpfen. In einigen Fällen hilft das, manchmal ist es aber wichtig, Personen persönlich zu kennen, mit ihnen aufgewachsen zu sein oder um die spezifischen Probleme einer Gemeinde zu wissen. Das Gelingen des Eichenberger-Ansatzes hängt also stark davon ab, wie wichtig jeweils lokalspezifisches Wissen für ein Amt ist.
Was kann man sonst gegen politischen Filz tun?
Effizient, einfach und kostengünstig wäre es, Positionen und Ämter per Zufall oder per Los zu vergeben – das hatte schon Aristoteles empfohlen, um den Filz in der griechischen Polis zu beseitigen. Damals wie heute gilt: Es existiert immer eine Form der Aristokratie, und zwar genau dort, wo Eliten sich einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen und sich gegenseitig Positionen zuschanzen. Wenn man letztere per Los vergibt, anhand eines mathematischen Gesetzes, ist konsequente Filzpolitik nicht möglich.
«Aus den vielen nationalen Filzteppichen hat sich
in den letzten knapp dreissig Jahren ein neuer, globaler Filz gebildet.»
Klingt sympathisch, allerdings müsste man in Kauf nehmen, dass das Los auch mal auf einen Volltrottel fällt.
Natürlich, aber schlechte Politik wird es immer geben. Wenn wir uns am Ideal orientieren, dass die Politik repräsentativ für das Volk sein soll, ist es nur legitim, wenn das Los auch einmal jemanden mit beispielsweise geringerem Bildungsniveau trifft. Es gibt ausserdem eine Kombi-Lösung, die Qualität und Diversität gleichermassen sicherstellt, bekannt etwa aus Venedig, Florenz und Basel. An diesen Orten erprobte man früher die sogenannte «partielle Klugheitsauswahl».
Was ist das?
Das Schweizer Beispiel ist besonders schön: In Basel lagen Universität und politische Kultur im 18. Jahrhundert fast am Boden. Der Daig hatte die Stadt ruiniert: Die Professuren etwa wurden damals quasi vom Vater an den Sohn vererbt, dann weiter an den Enkel, und der Enkel hatte vorab schon gar keine wissenschaftliche Leistung mehr zu erbringen – ein Desaster. Um Abhilfe zu schaffen, hat man dann hundert Jahre lang nicht nur die Professuren, sondern auch politische Ämter in einem dreistufigen Prozess per Losverfahren vergeben. Zunächst hat man ermittelt, wer für das Amt tauglich ist, wer etwa die Kriterien für eine Professur erfüllt; dann wurde eine Liste von drei Personen erstellt und unter diesen per Los ausgewählt. Margit Osterloh, Bruno Frey und ich haben dieses System empirisch untersucht, und es ist durchaus geeignet, Filz zu verhindern und gleichzeitig die Qualität der Entscheidungsträger hochzuhalten – deswegen empfehlen wir diese alte Taktik nun auch in neueren Publikationen.
Die Kardinalsfrage: Gesetzt den Fall, es funktioniere langfristig wirklich besser als heutige Bewerbungs- und Auswahlverfahren – wie wollen Sie dieses Verfahren gegen den existierenden Filz durchsetzen, bevor die politische Kultur gebodigt ist?
(Lacht) Interessanterweise sind viele Wirtschaftsvertreter, etwa Manager in Unternehmen, sehr offen für diesen Vorschlag, viel offener als manche Wissenschafter und Politiker. Die Schweizer Gesellschaft für Organisation hat die Idee zur Diskussion gestellt und die Leute fanden das sehr vernünftig, weil sie ja sehen, dass häufig etwas falsch läuft. Häufig kann man auch gar nicht unterscheiden, wer besser oder schlechter für ein Amt geeignet wäre, weil es ganz unterschiedliche Performanceindikatoren sind, die man gegeneinander abwägen muss. Insofern wäre ein Los sogar fairer.
Was ist mit mehr Transparenz, wie gern gefordert?
Natürlich ist es wichtig, dass Ämter oder Posten nicht unter der Hand weggehen, sondern eine Ausschreibung erfolgt – und das ist bei vielen Ämtern nicht der Fall. Aber mehr Transparenz allein wird kaum ein Filzproblem lösen. Erstens ist vollkommene Transparenz eine Illusion. Und dort, wo wir etwas transparent machen, schaffen wir – zweitens – meist bloss Bürokratiemonster, die niemandem helfen und auch das Grundproblem nicht verschwinden lassen. Die Politik schmückt sich ja gern damit, «Chancengleichheit» herzustellen, indem sie immer neue Transparenzregeln schafft und Auflagen erteilt – das geht meist nach hinten los.
Sie meinen die stetig wachsenden Compliance-Abteilungen in den Unternehmen oder die angesagten Whistleblower-Hotlines, bei denen dann doch wieder keiner anruft?
Genau. Die verursachen erst mal nur hohe Kosten und nützen wenig. Diese grossen Abteilungen sorgen nicht einmal dafür, dass die Mitarbeiter sich wohler fühlen. Es geht einfach nur darum, die Forderungen der Politik oder der Aktionäre zu erfüllen – das zeigt die Organisationsforschung ziemlich eindeutig. Die Unternehmen machen das sogar, obwohl sie selber wissen, dass es nichts bringt.
Und die Politik schaut zu und ist zufrieden, wenn Gelder rausgeschmissen und die Vorgaben eingehalten werden?
(Lacht) Die Politik ist so oder so der Meinung, das Richtige getan zu haben. Welcher Politiker kennt denn noch ein Unternehmen von innen? Letztere müssen machen, was die Politik fordert, und man kennt ja das Bild: Ältere Herren, die sonst nichts mehr zu tun haben und dann dies oder jenes fordern – völlig egal, ob das nützlich ist oder nicht. Demokratisch ist das ein Selbstläufer. Aber Organisationen sind zum Glück recht flexibel. Seit es Organisationen gibt, gibt es auch ganze Abteilungen, die quasi nur zum Schein arbeiten.