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Spaltpilz Stammesdenken
Amy Chua, zvg.

Spaltpilz Stammesdenken

Eine gefährliche Mischung aus Identitätspolitik und demografischem Wandel bedroht die Demokratie in den Vereinigten Staaten. Dabei könnten sie von der Schweiz lernen.

Read the english version here.

Seit einiger Zeit sind die USA in den Fängen des politischen Tribalismus, und die Coronakrise hat diesen Eindruck lediglich bestätigt. Die Wahrnehmungen und Reaktionen auf die Pandemie, inklusive Meinungen darüber, wer die Schuld trägt und wann die Restriktionen gelockert werden sollten, waren fast vollständig bestimmt durch die Zugehörigkeit zum Pro-Trump- oder Anti-Trump-Lager.1 Grundlegende Fakten – etwa wie viele Menschen an Covid-19 gestorben sind oder ob ein bestimmtes Mittel hilft oder nicht – sind vielfach fast unmöglich zu bestimmen, weil die Medien derart infiziert sind von der politischen Polarisierung.

Doch um ein Problem zu lösen, müssen wir es zuerst korrekt diagnostizieren. Wenn wir uns auf die Symptome fixieren, übersehen wir die Wurzeln des Problems. Im folgenden werde ich versuchen, diese Wurzeln zu identifizieren: zu erklären, warum die USA so stark polarisiert sind und warum diese Polarisierung die Dynamiken auslöst, die wir sehen – Dynamiken, die sich nicht auf Amerika beschränken, sondern sich in vielen Teilen der Welt abspielen.

Instinktives Gruppendenken

Menschen sind, genauso wie andere Primaten, Stammestiere. Wir müssen Gruppen angehören – das liegt in unserer Natur. Sobald wir zu einer Gruppe gehören, tendieren wir dazu, uns an sie zu kletten und sie als besser in jeder Hinsicht anzusehen. Im Rahmen einer kürzlich veröffentlichten Studie wurden Kinder zwischen vier und acht Jahren zufällig einer blauen oder roten Gruppe zugeteilt und angewiesen, entsprechende T-Shirts zu tragen. Anschliessend bekamen sie Bilder von anderen Kindern zu sehen – die Hälfte von ihnen trug rote, die andere blaue T-Shirts – und wurden dazu befragt. Obwohl sie absolut nichts über die Kinder auf den Bildern wussten, gaben sie durchs Band an, die Kinder «ihrer» Gruppe besser zu mögen; sie teilten ihnen mehr (hypothetische) Ressourcen zu und drückten starke unbewusste Präferenzen für sie aus. Nachdem sie ausserdem Geschichten über die Kinder auf den Fotos gehört hatten, offenbarten die Jungen und Mädchen systematische Verzerrungen ihrer Erinnerungen; sie erinnerten sich eher an positive Taten von Kindern «ihrer» Gruppe und an negative der «anderen».

Menschen sind also nicht einfach ein bisschen tribal – wir sind sehr tribal. Sobald wir zu einer Gruppe gehören, werden unsere Identitäten in erstaunlicher Weise mit ihr verknüpft, sogar auf chemischer Ebene. Wir bevorteilen Mitglieder unserer Gruppe, auch wenn wir selber nichts davon haben, und wir finden Gefallen daran, wenn Mitglieder anderer Gruppen leiden. Untersuchungen des Harvard Intergroup Neuroscience Lab zeigten jüngst, dass die Dopaminrezeptoren – das «Belohnungszentrum» unseres Gehirns – unter gewissen Umständen aktiviert werden, wenn Mitglieder einer «Out-Group» scheitern oder Unglück erleben. Andere Studien ergaben, dass Gruppenbindung die Oxytocinwerte erhöht, was zu einer «verstärkten Tendenz, die Out-Group zu dämonisieren und dehumanisieren», führt und die Empathie, die man sonst für eine leidende Person empfindet, «betäubt».

Tribalismus ist nicht zwingend etwas Schlechtes. Sport beispielsweise ist extrem tribal, kann aber Spass machen und sogar verbinden. In der Familie hat Tribalismus ebenfalls positive Effekte. Zum Problem wird er, wenn Tribalismus das politische System übernimmt. Dann wird dieses dysfunktional, weil Fakten, Argumente und politische Massnahmen plötzlich keine Rolle mehr spielen. Stattdessen hält jeder zu seinem Stamm, egal was passiert, und versucht, die andere Seite zu Boden zu bringen. Das erklärt, warum Donald Trump trotz wiederholter Patzer und haarsträubender Äusserungen bei seiner Basis eine erstaunlich stabile Unterstützung geniesst. Es erklärt auch, warum sich die Vereinigten Staaten in einer solchen Blockade befinden und warum Amerikaner mit unterschiedlichen Ansichten Mühe haben, nur schon miteinander zu reden. Wir sind in den USA an einem Punkt angelangt, an dem viele Bürger jene, die für die «andere» Seite gestimmt haben, nicht einfach als Leute mit einer anderen Meinung betrachten, sondern als unmoralisch, böse, unamerikanisch – wenn man so über die andere Hälfte des Landes denkt, wird es gefährlich. Gleichzeitig sehen wir eine Fraktionalisierung innerhalb von Gruppen – sowohl der Linken als auch der Rechten –, so dass sich immer kleinere, zersplitterte Identitätsgruppen gegenüberstehen.

Warum geschieht das jetzt in Amerika? Zwei Faktoren sind entscheidend.

Die «Bräunung» Amerikas

Der erste Faktor ist eine massive demografische Transformation. Während 200 Jahren waren die USA ökonomisch, politisch und kulturell von einer weissen Mehrheit dominiert. Wenn eine Gruppe so übermächtig ist, kann sie straflos andere verfolgen; sie kann es sich aber auch leisten, grosszügiger und inklusiver zu sein, wie es die Elite der WASP (White Anglo-Saxon Protestants) in den 1960er Jahren war. Sie öffnete die Ivy-League-Universitäten stärker für Juden, Schwarze und andere Minderheiten – auch deshalb, weil es schlicht das Richtige schien.

Heute stehen die Weissen davor, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ihren Mehrheitsstatus zu verlieren. Bereits stellen Non-Hispanic Whites eine Minderheit in Texas und Kalifornien, den beiden grössten Gliedstaaten, ebenso wie in New Mexico, Hawaii und Washington, D.C. Weniger als die Hälfte der amerikanischen Kinder unter 15 sind weiss.2 Gemäss Projektionen der Pew Foundation werden die Weissen 2055 nicht mehr in der Mehrheit sein.

Die Folge ist, dass sich im heutigen Amerika jede Gruppe bedroht fühlt. Nicht nur Minderheiten, sondern auch Weisse fühlen sich bedroht. Mehr als die Hälfte der weissen Amerikaner glaubt, dass «Weisse die Schwarzen als hauptsächliche Opfer von Diskriminierung abgelöst haben». Nicht nur religiöse Minderheiten wie Juden oder Muslime, sondern auch Christen fühlen sich bedroht, die sich über den «Krieg gegen die Bibel» empören. Mit Donald Trump im Weissen Haus fühlen sich Frauen bedroht, mit der #MeToo-Bewegung die Männer. Heterosexuelle, Homosexuelle, Latinos, Asiaten, Progressive und Konservative – sie alle fühlen sich angegriffen, gemobbt und diskriminiert. Und wenn sich Gruppen bedroht fühlen, ziehen sie sich ins Stammesdenken zurück. Sie schliessen die Reihen, werden vermehrt insular und denken verstärkt im «Wir gegen sie»-Schema. Das, kombiniert mit der aussergewöhnlich starken Ungleichheit, ist der Grund für die ausgeprägte Identitätspolitik, die wir auf beiden Seiten des politischen Spektrums beobachten.

Auf der rechten Seite halten weisse Nationalisten Versammlungen und Konferenzen ab, die noch vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen wären. Ein zentrales Thema der extremen Rechten ist, dass die weisse Rasse vom Aussterben bedroht sei, kurz davor, in einer Flut von Nichtweissen unterzugehen, die, so die bizarre Theorie, von Juden kontrolliert und manipuliert werde. Doch selbst im konservativen Mainstream wächst die (manchmal unausgesprochene, oft nicht einmal bewusste) Angst, dass Weisse (insbesondere weisse Männer) ihren Platz in Amerika verlieren. Ironischerweise hat die weisse Identitätspolitik starken Auftrieb erhalten durch die Linke, deren beständiges Beschuldigen und Anprangern wohl mehr geschadet als genützt hat. Ein Trump-Wähler drückte es so aus: «Vielleicht habe ich es einfach satt, als Rassist beschimpft zu werden, und meine Wut auf die autoritäre Linke hat mich dazu getrieben, diesen Mann trotz all seiner Makel zu unterstützen.»

Derweil gab es auf der Linken eine starke Verschiebung weg vom Prinzip der Inklusivität und hin zu einem exklusiveren Ansatz. Die Verschiebung ist besonders dramatisch an den Universitäten, wo es in der jüngeren Vergangenheit deutlich mehr Segregation nach Ethnizität, Religion, sexueller Orientierung und so weiter gab. Teilweise ist diese neue Exklusivität epistemologisch: Die Idee ist, dass Mitglieder der «Out-Group» nicht in der Lage seien, das Wissen der «In-Group» zu haben, weil sie nie diese spezifische Form von Unterdrückung erlebt hätten. Weissen Studenten wird etwa gesagt, dass sie Mitstudenten einer anderen Rasse nicht verstehen könnten und daher nie für oder über sie sprechen sollten. Das Ergebnis ist, dass die Grenzen zwischen den Gruppen zementiert und überwacht werden. In Yale, wo ich lehre, war es früher normal, dass konservative und linke Studenten gemeinsam Dinge unternahmen und Freundschaften schlossen; heute ist das praktisch ausgeschlossen. Vor nicht allzu langer Zeit galt es als Zeichen von multikultureller Offenheit, einen Sari oder Kimono zu tragen; heute wird so etwas sogleich auf Social Media als «kulturelle Aneignung» und «Rassismus» gebrandmarkt. Das ist ein erstaunlicher Wandel in der progressiven Bewegung. Sowohl die Bürgerrechtsbewegung der 1960er und ’70er als auch die internationale Menschenrechtsbewegung der 1990er und 2000er hatten eine universalistische Vision. Ihr Ziel war es, Differenzen zu überwinden – nicht zu betonen.

Nicht nur fühlen sich alle Gruppen – Weisse, Schwarze, Muslime, Christen – angegriffen und fürchten um den Verlust von Jobs, Studienplätzen und das Recht, die nationale Identität zu definieren. Diese Konflikte überschneiden sich auch mit den Parteigrenzen. Republikaner sind zu etwa 90 Prozent weiss, während sich der grösste Teil der ethnischen und religiösen Diversität des Landes in der Demokratischen Partei konzentriert.3

Kosmopolitische Eliten gegen den «Trump Tribe»

Es gibt aber noch einen zweiten Grund für die neuen Pathologien in den USA. Er hat zu tun mit dem Phänomen der «marktdominanten Minderheiten», einem Begriff, den ich 2003 geprägt habe, um Minderheiten zu beschreiben, die vom Rest der Bevölkerung als «Fremde» betrachtet werden und über einen überproportional grossen Teil der Vermögen eines Landes verfügen. Solche Minderheiten trifft man in Entwicklungsländern oft an. Es kann sich um ethnische, religiöse oder kulturelle Gruppen handeln, etwa die kleine chinesische Minderheit in Indonesien, die lediglich 3 Prozent der Bevölkerung stellt, aber rund 70 Prozent der privaten Wirtschaft kontrolliert, oder die Sunniten im Irak, die unter Saddam Hussein von den sprudelnden Öleinnahmen profitierten.

In Staaten mit einer marktdominanten Minderheit kann Demokratie extrem destabilisierend wirken. Unzufriedene Mehrheiten, die sich als rechtmässige Besitzer ihres Landes sehen, verlangen – angestachelt von machthungrigen Demagogen – «ihr» Land zurück. Mit dem sich ausbreitenden Ethnonationalismus sorgt die Demokratie nicht für Friede und Wohlstand, sondern für einen eskalierenden, oft tödlichen Tribalismus. Diese Dynamik entfaltete sich im Irak 2003 und spielte auch eine Rolle in Jugoslawien, Simbabwe, Venezuela und so ziemlich allen Ländern mit einer marktdominanten Minderheit.

Über weite Strecken der amerikanischen Geschichte schien es, als wäre das Land relativ immun gegen solche Dynamiken. Die USA hatten nie eine marktdominante Minderheit. Im Gegenteil: Während 200 Jahren wurden sie wirtschaftlich und politisch von der weissen Mehrheit dominiert – ein stabiler, wenn auch in vielerlei Hinsicht unfairer Zustand.

Doch zwei Dinge haben sich verändert. Die Ethnizität hat die Armen in den USA gespalten, und die Klasse hat die weisse Mehrheit geteilt. Die erste Entwicklung ist nicht neu; aufgrund der langen Geschichte von Sklaverei und Rassismus identifizieren sich viele Weisse der Arbeiterklasse stärker mit wohlhabenden Weissen als mit Schwarzen oder Hispanics mit ähnlichem Status. Die zweite Entwicklung ist jünger. Heute gibt es so wenig Interaktionen und Ehen zwischen Weissen von den Küsten und der ländlichen weissen Unterschicht, dass Sozialwissenschafter von zwei verschiedenen ethnischen Gruppen sprechen würden. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass eine Weisse mit einem Abschluss von Harvard, Yale oder Columbia jemanden von Indien, Korea oder Nigeria mit dem gleichen Hintergrund heiratet als einen armen Weissen aus einer ländlichen Region. So entwickelt sich eine eigene Version einer marktdominanten Minderheit in den USA: die kosmopolitische Elite, die zum grössten Teil in Städten an der Ost- oder Westküste lebt.

Diese kosmopolitische Elite weist eine erstaunliche Ähnlichkeit zu marktdominanten Minderheiten in Entwicklungsländern auf. Die Vermögen in den USA sind stark konzentriert in den Händen einer relativ kleinen Gruppe von Leuten, die Schlüsselsektoren der Wirtschaft dominieren: Wall Street, die Medien, Hollywood oder Silicon Valley. Auch wenn diese Elite keine ethnische oder religiöse Minderheit darstellt, hat sie eine besondere Kultur und gemeinsame, kosmopolitische Werte. Sie ist extrem insular; ihre Mitglieder verkehren und heiraten hauptsächlich untereinander, gehen auf die gleichen Eliteschulen. Sie werden vom Rest des Landes oft als arrogant und herablassend angesehen. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Elite nicht weiss ist; tatsächlich ist der elegant gekleidete, professoral auftretende Harvard-Absolvent Barack Obama aus der Perspektive der weissen Arbeiterschicht ein typischer Vertreter der kosmopolitischen Elite. Viele in der amerikanischen Unterschicht nehmen diese Elite als minderheiten- und einwandererfreundlich wahr – der klassische Vorwurf lautet, dass sie sich mehr um die Armen in Afrika als um jene in den USA kümmere.

Was 2016 in den USA passierte, ist das, was ich prognostiziert hätte in einem Entwicklungsland mit einer argwöhnisch betrachteten marktdominanten Minderheit, das Wahlen abhält: der Aufstieg einer populistischen Bewegung, in der demagogische Stimmen «richtige» Amerikaner dazu aufrufen, sich ihr Land «zurückzuholen» – oder in Donald Trumps Worten: «Make America Great Again».

«Trumpism» ist Teil eines globalen Musters, wobei die nationalistischen Bewegungen in Europa nicht der einzige, ja nicht einmal der beste Vergleich sind. Die amerikanische Politik hat heute mit den Entwicklungsländern ebenso viel gemeinsam wie mit Europa. Immer wieder sind in Entwicklungsländern Demagogen mit wenig politischem Ansehen an die Macht gekommen, indem sie sich tiefsitzender Ressentiments gegen eine marktdominante Minderheit bedienten. Trump war weder der erste «Tweeter in Chief» noch der erste Staatschef, der die Hauptrolle in einer Reality Show spielte. Beide Titel hat sich Hugo Chávez verdient, der venezolanischer Präsident wurde, indem er gegen die kosmopolitische Elite wetterte, welche über lange Zeit die Politik und den Ölreichtum des Landes kontrolliert hatte. Wie Trump gewann Chávez die Unterschicht mit einer gegen das Establishment gerichteten Plattform, Angriffen auf die Mainstream-Medien und einer impulsiven Rhetorik, die in der Elite als vulgär, widerlich und oft schlicht falsch verachtet wurde.

Wegen der beiden diskutierten Faktoren – demografische Umwälzungen und das Aufkommen einer eigenen idiosynkratischen Version einer marktdominanten Minderheit – entfalten sich erstmals in der amerikanischen Geschichte viele der zerstörerischen Dynamiken, die typischerweise mit Entwicklungsländern in Verbindung gebracht werden: ethnonationalistische Bewegungen, eine Erosion des Vertrauens in Institutionen und Wahlergebnisse, autoritäre Tendenzen, abschätzige Angriffe der Elite gegen die weniger gebildete Arbeiterklasse – oder «Deplorables», wie Hillary Clinton sie nannte – und vor allem die Verwandlung der Demokratie in ein Nullsummenspiel des Tribalismus.

Ausbruch aus den Echokammern

Als ob die Dinge nicht schon schlimm genug wären, ist nun die Coronakrise dazugekommen, die der gespaltenen Politik Amerikas ein noch hässlicheres Antlitz verliehen hat. Selbst die schrecklichen Todesfallzahlen, die albtraumhaften Bilder von Leichensäcken, überfüllten Krankenhäusern und Leichenhallen sind mit der parteipolitischen Polarisierung infiziert worden – einem ­Virus, gegen das es nach wie vor weder eine Behandlung noch einen Impfstoff gibt.

Der politische Tribalismus ist am schlimmsten unter Bedingungen wirtschaftlicher Unsicherheit und Chancenlosigkeit, und die Verwüstungen der Pandemie zeichnen die Klassengegensätze nach. Die Zahl der Arbeitslosen in den USA stieg zeitweise bis auf 26 Millionen, was einem Anteil von 20 Prozent entspricht; Niedriglohnarbeiter, unter denen viele Schwarze und Hispanics sind, wurden besonders hart getroffen. Während die hochgebildeten Fachkräfte von zu Hause aus – oder in ihren Zweitwohnsitzen am Meer – arbeiten können, verlieren einfache Arbeiter entweder ihre Stelle oder sind gezwungen, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Gleichzeitig sterben überproportional viele Angehörige von Minderheiten an Covid-19.45

Tribalismus, verstärkt durch Ungleichheit, demografischen Wandel und Xenophobie, ist nicht nur ein amerikanisches Pro­blem. Varianten des intoleranten, tribalen Populismus verbreiten sich überall in Europa, lassen den Rückhalt für supranationale Institutionen wie die Europäische Union schwinden und bedrohen die liberale internationale Ordnung. Der Brexit etwa war ein populistischer Gegenschlag gegen die Eliten in London und Brüssel, die, so die verbreitete Ansicht, das Land aus der Ferne regierten, abgekapselt von den «richtigen» Briten, von denen viele Immigranten als Bedrohung sehen. Genauso wie Trump reklamieren rechtsnationalistische Wortführer, von Frankreichs Marine Le Pen über Italiens Matteo Salvini bis hin zu Ungarns Viktor Orbán, für sich, einer marginalisierten Arbeiterklasse eine Stimme zu geben, indem sie einen wirtschaftlichen Nationalismus predigen, die Einwanderung bekämpfen und bewusst eine grobe und martialische Sprache verwenden als Symbol ihrer Ablehnung der Elite.

Für das Problem des Tribalismus gibt es keine einfache Lösung. Man hätte hoffen können, dass die Pandemie die Menschen zusammenbringt, aber bisher gibt es kaum Anzeichen dafür. Was spezifische Reformen betrifft, könnten die USA von Ländern wie der Schweiz lernen, die eine allgemeine (Wehr-)Dienstpflicht kennen. Ein möglicher Weg zur Überbrückung der Kluft zwischen der kosmopolitischen amerikanischen Elite und den Trump-Anhängern aus der Arbeiterklasse wäre ein Programm, bei dem junge Amerikaner ermutigt oder verpflichtet werden, nach der High School ein Jahr nicht im Ausland, sondern in einem ihnen unbekannten Teil Amerikas zu verbringen. Zum Beispiel könnte ein junger New Yorker einige Zeit in den Appalachen verbringen. Auf diese Weise erhielten junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die normalerweise in ihren eigenen Echokammern bleiben, die Möglichkeit, mit Menschen zu interagieren und zu arbeiten, denen sie normalerweise nie begegnen würden. Ein Lichtblick der Pandemie ist, dass sie viele Möglichkeiten dieser Art bietet; es besteht im ganzen Land ein enormer Bedarf an Hilfe beim «Tracing» von Kontakten, der Lieferung von Lebensmitteln, der Betreuung von Kindern und so weiter, und junge Menschen sind am wenigsten von Covid-19 gefährdet.

Tatsache ist jedoch, dass Tribalismus, sobald er das politische System einer Nation erfasst hat, nur schwer wieder loszuwerden ist. Ob in den USA oder in Europa: Wenn es eine Lösung geben soll, muss sie nicht nur Wirtschaft und Politik berücksichtigen, sondern auch Ethnizität und nationale Identität. Wir werden anspruchsvolle Diskussionen führen müssen über Immigration. Die Angehörigen der kosmopolitischen Elite müssen ihren Teil leisten, indem sie anerkennen, dass sie selbst Teil eines sehr wertenden Stammes sind – in den die meisten Leute nicht so leicht hineinkommen – und dessen Toleranz in der Theorie oft grösser ist als in der Praxis. Einigkeit wird nicht einfach so kommen; sie erfordert Anstrengung, mutige Führung und kollektiven Willen.

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