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Soviel Heimweh, soviel Schönheit

Gerhard Meier schreibt an seine verstorbene Frau

Im Januar 1997 ist Dorli, die Ehefrau Gerhard Meiers, gestorben. Sie war nahezu achtzig Jahre alt. Er selber lebt noch immer in Niederbipp, das seine Leser besser kennen unter dem Namen Amrain, einem Dorf am Jurasüdfuss, das in die Weltliteratur eingegangen ist als eine Gemeinschaft, die wie viele einen Gemischten Chor, einen Turnverein und früher einen Hufschmied hatte, aber ebenso selbstverständlich an der Geschichte der Welt und ihrer Literatur teilhat. Das ist vorwiegend ein Verdienst der Romane Gerhard Meiers, die von hier ausgingen. In den Erinnerungen einer der Hauptfiguren dieser Romane, Baurs, sind nicht nur Klassenkameraden oder Verstorbene und vielleicht Dorforiginale lebendig, sondern auch Dichter wie Robert Walser oder Claude Simon, Marcel Proust oder Leo Tolstoi, Kunstmaler wie Caspar David Friedrich oder Komponisten wie Frédéric Chopin. Zwischen den einen und den andern ist fast kein Unterschied, und dazu gehören auch Schmetterlinge, Bäume und Blumen, die sozusagen ein eigenes Leben führen. Natascha und der Fürst Andrej aus «Krieg und Frieden» und der Herr von Trotta aus Joseph Roths «Radetzkymarsch» haben jetzt mit Dorli zusammen eine unvergängliche Gegenwart.

Immer schon hat man vermutet, der Mann mit Namen Baur, der vor allem Lektüreerlebnisse im Gedächtnis bewahrt hat, sei ein alter ego des Schriftstellers Gerhard Meier. Jetzt, sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau, spricht er in seinem eigenen Namen in einem nicht ganz fünfzig Seiten umfassenden Text. «Ob die Granatbäume blühen» ist er überschrieben; das Zitat aus dem «Hohenlied» handelt von grenzenloser Liebe und Zärtlichkeit, denn es spricht die Geliebte, die den Freund hinaus auf die Flur lockt. Sie will ihm ihre Liebe schenken.

Gerhard Meier erzählt seiner verstorbenen Frau, was seit ihrem Tod in Amrain passiert ist, dass er zum Beispiel ein paar Monate nach ihrem Weggang Ehrenbürger der Gemeinde geworden ist. Er freut sich über gemeinsame Erlebnisse, etwa dass sie in Sils-Maria als Gäste des Nietzsche-Hauses Peter Handkes Fahnenabzüge eines neuen Werks lasen, wie auch auf einem Spaziergang die Granittafel mit dem eingravierten «Trunkenen Lied» Nietzsches, dessen Schluss lautet: «Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!» Man könnte vermuten, dass Trauer und Bitterkeit immer auch durchbrechen. Aber der Liebende lässt sie nicht aufkommen. Er erzählt seinem Dorli, was es ja nicht mehr wahrnehmen konnte, was an der Trauerfeier geschah und die Worte, die er für den Pfarrer aufgezeichnet hat. Er berichtet davon, dass die Familie einmal auf dem «Güggel», einer markanten Anhöhe des Jurakamms, den Kometen Hale-Bopp betrachtete, aber auch den Holunderbaum, den Dorli noch photographiert hat.

Man fragt sich, wie es Gerhard Meier gelingt, so gelassen und selbstverständlich mit seiner verstorbenen Frau zu reden. Einerseits ist es wohl sein Glaube, der ihn am baldigen Wiedersehen überhaupt nicht zweifeln lässt. Und dann wird man auch in Rechnung stellen, was diese Dora Meier-Vogel, geboren am 13. Februar 1917, für ihn gewesen ist, die Lebensgefährtin, die ihn zu seinem riskanten Ausstieg aus dem Beruf als Designer und technischer Leiter einer Lampenfabrik ermunterte, so dass er seiner Liebe zur Literatur nicht länger entsagen musste und seine Bücher schreiben konnte. Sie verkaufte fortan Zeitungen, Zigaretten und Schokolade am Kiosk, um das Budget im Gleichgewicht zu halten. Und sie freute sich, als sich alsbald auch der Erfolg des Autors einstellte. Aber das alles erklärt eigentlich noch nicht die gelassene Schönheit seines Textes. Es kommt hinzu, was im Roman «Die Ballade vom Schneien» einmal mit einem Satz Baurs angedeutet ist, dass nämlich das Leben eine Sache der Spiritualität sei. Das heisst, dass nichts wirklich ist, solang es nicht in die reale Gegenwart gerückt wird, durch Erinnerung und durch Sprache. Es ist Gerhard Meiers Kunst und seine unvergleichliche Sprache, die Heiterkeit und Ernst, Oberfläche und Tiefe, Gewöhnliches und Bedeutendes adelt, indem sie es in Unvergängliches verwandelt. Ich könnte mir denken, dass diese nicht ganz fünfzig Seiten hilfreich sein könnten für jeden, den der Verlust des Partners getroffen hat. Aber das ist ja nicht ihre Aufgabe.

Man stellt verwundert fest, dass diese Seiten eigentlich ein Alterswerk sind und dennoch keinerlei Eigenschaft eines solchen aufweisen. Denn auch das sind Unterscheidungen, die einer gewöhnlichen Existenzform angehören. Vielleicht spricht hier einer dankbar für alles, was ihm sein Leben geschenkt hat. Als er zu schreiben begann, fand er in kurzer Zeit höchste Anerkennung. Und als er auf sein gemeinsames Leben mit Dorli zurückblickte, fand er, was er seiner Art nach mit einem Zitat aus Virginia Woolf ausdrückt: die verstreuten Teile der inneren Vision sind eins geworden.

Gerhard Meier, «Ob die Granatbäume blühen». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005.

Anton Krättli, geboren 1922, promovierte in Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er war von 1965 bis 1993 Kulturredaktor der «Schweizer Monatshefte».

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