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Souveränität heute

Der bilaterale Weg wird steiniger. Isolation ist keine Option. Was nun? Fortschreibung einer Debatte.

«Avenir Suisse empfiehlt den EU-Beitritt» – diese irreführende Schlagzeile, die am 15. Juli dieses Sommers während Stunden über die Ticker lief, bevor sie korrigiert werden konnte, hat eine heftige Europa-Debatte ins Rollen gebracht. Auslöser der Schlagzeile war unsere Publikation «Souveränität im Härtetest. Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen», in der wir mit einer Reihe weiterer Autoren die Souveränitätsspielräume eines Nationalstaats in einer globalisierten Welt zunächst grundsätzlich und dann für spezifische Politikbereiche der Schweiz analysieren.

Untersucht werden diese Spielräume der Schweiz in den Bereichen Aussenhandel, Geldpolitik, Steuerpolitik, Energie- und Ressourcenpolitik sowie der Rechtsprechung. Zwei Schlussfolgerungen liegen nach dieser Analyse auf der Hand. Zum einen kann heute Souveränität nicht mehr einfach als nationale Autonomie verstanden werden – sie bedeutet mindestens ebenso Gestaltungsspielraum wie ebenfalls Mitentscheidung auf internationaler Ebene. Zum zweiten stellt das Verhältnis der Schweiz zur EU – im Prinzip wenig erstaunlich, aber als Resultat der Analyse aller genannten Politikbereiche doch überraschend – gleichsam eine Schicksalsfrage dar. Im Schlusskapitel wird daher reflektiert, wie es um dieses Verhältnis steht und wie es sich angesichts der gegenwärtigen Verfassung der Europäischen Union und globaler Entwicklungsszenarien in Zukunft gestalten könnte.

Wir haben bei unserer Analyse den Integrationswillen der EU höher gewichtet und halten diesen für realistischer als ein Szenario, in dem die Währungsunion an der Krise zerbrechen und die EU auseinanderfallen könnte. Im Gegenteil, wir gehen von der Möglichkeit einer «forcierten Integration» aus. Was wir im Sommer als mögliches Szenario beschrieben, ist heute eine Begründung für die Rettung Irlands: «Today it (the euro zone) is being held together by simple fear of the alternative.»*

Genau diese «forcierte Integration», so unsere Schlussfolgerung, könnte den Druck auch auf die Schweiz erhöhen, die Rechtsübernahme dynamisch zu gestalten. Daraus folgern wir, dass der bilaterale Weg nicht nur schwieriger werden, sondern als solcher möglicherweise nicht weiter gangbar sein könnte. Da eine Isolation der Schweiz keine Option darstellt, mündet unsere Analyse in der Empfehlung, weitere strategische Optionen rechtzeitig zu prüfen. Ins Spiel gebracht haben wir erstens eine Neuauflage des EWR, weil dieser nicht nur die Rechtsübernahme regeln und damit Rechtssicherheit schaffen, sondern vor allem die Beibehaltung der eigenen Währung, der niedrigen Mehrwertsteuer sowie der aussenhandelspolitischen Freiheiten garantieren würde. Nur wenn darin die politische Mitsprache als zu gering erachtet würde – und nur dann –, würde ein Beitritt zur EU notwendig, der allerdings, dies unsere Überlegung, ohne Übernahme des Euros (analog Grossbritannien, Dänemark oder Schweden) zu verhandeln wäre. Ausserdem haben wir dafür plädiert, eine globale Allianz kleiner und mittlerer handelsoffener Staaten zu initiieren. So weit unsere Überlegungen in Kürze. Von der Empfehlung eines EU-Beitritts kann also keine Rede sein.

Unterdessen hat der Bundesrat in seinem neusten Bericht zur Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder, August 2010) eine mindestens so schonungslose Analyse der Situation vorgelegt, in der er zum Schluss kommt: «Die Analyse der Situation … zeigt eine klare Tendenz zur Erosion des Handlungsspielraums der Schweiz im bilateralen Verhältnis mit der EU.»** Hingegen hält er – aus politischen Gründen, darf man annehmen – am bilateralen Weg fest, ohne wie wir die Prüfung weiterer Optionen zu empfehlen.

Die ersten Reaktionen auf unsere Studie haben gezeigt, dass unsere Annahme wohl etwas kühn war, es wäre in der Schweiz möglich, über das Verhältnis zur EU zu reflektieren, ohne gleich einem von zwei Lagern zugeordnet zu werden, die die Diskussion seit dem Nein zum EWR 1992 in der Schweiz bestimmen: den Befürwortern resp. Gegnern eines EU-Beitritts der Schweiz. Wir sind weder das eine noch das andere, sondern wünschen eine Debatte – und das ist uns, darf man sagen, gelungen. Dennoch möchten wir an dieser Stelle eine Kritiklinie herausgreifen, die uns weder der Sache noch der Debatte dienlich erscheint: wir nennen sie «Radikalkritik». Gemäss dieser stellt – sinngemäss zusammengefasst – die EU ein Gesellschaftsmodell dar, das utopistisch, ideell degeneriert und klientelistisch korrumpiert und ganz und gar unfinanzierbar geworden sei. Ursache dafür sei die am Selbsterhalt der eigenen Macht orientierte Strategie der classe politique, die von den ebenfalls eigennützigen Kurzfristkalkülen der Wirtschaft unterstützt werde, indem diese dem Sozialstaat die Kosten der Anpassung an den globalen Wettbewerb überlasse. Das alles habe Einstellungen bei den Bürgern gefördert, die den Sinn für Selbstverantwortung und Autonomie zerstörten und stattdessen eine Flut von Ansprüchen erzeugt hätten, die nun dabei seien, das «europäische Gesellschaftsmodell» zu ersticken.

Unser Eindruck ist, dass sich diese Kritiker bei ihrer Analyse von einer ideologisch verkürzten Wirklichkeitsdeutung leiten lassen, die die liberale Auffassung von Staat und Wirtschaft karikiert. Wer die europäischen Länder genauer betrachtet, erkennt, dass es ein einheitliches Sozialstaatsmodell in Europa nicht gibt. Niemand würde die britische working tax credit mit der deutschen Grundsicherung gleichsetzen oder die dänische flexicurity mit dem italienischen Rentensystem. Zudem befindet sich die Schweiz mit ihrer Sozialausgabenquote im europäischen Mittelfeld. Das ist zwar keine Entschuldigung, führt aber zur nächsten Bemerkung: die «Radikalkritiker» scheinen davon auszugehen, dass die politischen Systeme der europäischen Länder nicht fähig oder willens sind, die notwendigen Anpassungen eines zur Leistungsinflation neigenden Sozialstaates durchzusetzen. Nur: hat es da nicht in Deutschland die «Agenda 2010» der (übrigens sozialdemokratischen) Kanzlerschaft Schröder gegeben? Oder die Korrektur des «Volksheimes» in Skandinavien? Die Sparpolitik unter der Regierung Schüssel in Österreich? Hat nicht (der an der Macht durchaus interessierte) Sarkozy die Erhöhung des Rentenalters selbst gegen höchsten Widerstand durchgesetzt? Und ist nicht sogar in Griechenland ein energischer Wille zur Ordentlichkeit der öffentlichen Finanzen festzustellen? In der Schweiz hingegen wartet man bislang vergeblich auf eine Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Die Schweiz steht in vielem besser da als manch europäischer Mitgliedsstaat – denken wir an die Wettbewerbsfähigkeit, die Handelsoffenheit, die geringe Staatsverschuldung. Dennoch: auch hier wäre ein Schwarzweissvergleich mit der EU zu kurz gegriffen. Die Schweiz führt den «Global Competitiveness Index 2010–2011» zwar an, aber immerhin sind fünf der zehn wettbewerbsfähigsten Länder EU-Mitgliedstaaten, nämlich Schweden, Deutschland, Finnland, Niederlande und Dänemark. Ebenso gehören gemäss «Enabling Trade Index 2010» – selbstverständlich auch hier neben der Schweiz – vier Länder aus der EU zu den handelsoffensten Ländern der Welt, nämlich wiederum Schweden, die Niederlande und Dänemark sowie Luxemburg. Kurzum: die Fähigkeit der westlichen Demokratien, eine einigermassen vertretbare Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, wird unterschätzt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die sozialstaatlichen Institutionen – auf durchaus unterschiedliche Weise und auch in der Schweiz – ein zentrales Moment der gesellschaftlichen Stabilität in den Ländern Europas bilden.

Zudem ist die EU, «realpolitisch» betrachtet, nicht ein Schönwetterprojekt, das kurz vor seinem Untergang steht. Das zeigen die rund sechzig Jahre, in denen sich die Formation der europäischen Suprastaatlichkeit immer wieder durch Krisen hindurch erneuert hat – alles in allem so erfolgreich, dass bis heute kein einziges Land wieder aus dem gemeinsamen Zusammenhang aussteigen wollte. Europa ist auch nicht einfach «Brüssel», sondern ein Gebilde sui generis; eine «Grossrauminstitution mit abgestufter Souveränität», die eine höchst innovative Form des Miteinanderregierens erfunden hat – und die nicht aufhört, ihre governance weiterzuentwickeln; zum Beispiel mit dem im Vertrag von Lissabon neuerlich verankerten Recht der nationalen Parlamente, aus Subsidiaritätsvorbehalten gegen Entscheide aus «Brüssel» Einspruch zu erheben.

Schliesslich muss – dies ist eigentlich die zentrale Botschaft unserer Publikation – anerkannt werden, dass einzelstaatliche Souveränität unter den zivilisatorischen Voraussetzungen der Gegenwartsmoderne im Kontext einer «postnationalen Konstellation» gesehen werden muss, was letztlich bedeutet, dass die Lösung zahlreicher Probleme den Blick über die Landesgrenzen hinaus erfordert. Und genau hierin darf der liberale, wirtschaftsfreundliche Gehalt der Europäischen Union, also das «Europa der Freiheiten» (Jacques Delors), nicht unterschätzt werden. Ebenso wie nicht vergessen werden darf, wie Europa «nach 1989» ohne das Projekt der europäischen Integration aussehen könnte.

Eine einseitige und radikale Verurteilung der EU hilft in der Auseinandersetzung also nicht weiter – im übrigen ebensowenig wie eine Idealsierung derselben. Um so erfreulicher waren die Debatten, die Avenir Suisse im September und Oktober dieses Jahres in verschiedenen Schweizer Städten durchgeführt hat, denn sie kamen ohne pauschalisierende Lagerkämpfe aus. Im Gegenteil: die Erleichterung war spürbar – sowohl auf den Podien wie auch im zahlreich erschienenen Publikum –, endlich wieder über das Verhältnis Schweiz–EU diskutieren zu können, ohne gleich an den Pranger gestellt und des Landesverrats bezichtigt zu werden. Zu Wort kamen Exponenten der Wirtschaft, die das Verhältnis zur EU unterschiedlich beurteilten und daraus auch unterschiedliche Schlüsse zogen. Auch wenn kaum jemand einen abrupten Strategiewechsel – nicht zuletzt aus taktischen Gründen – für zwingend befand, war man sich einig darüber, dass die Schweiz «auf Gedeih und Verderb» mit der EU verbunden sei und dass daher ein stabiles Verhältnis zu ihr erste Priorität habe – aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen.

Mit Blick auf die Geschichte wurden nicht nur die friedenssichernde und bei der Auflösung des Ostblocks stabilisierende Funktion der EU ins Feld geführt. Vielmehr wurde von Walter Kielholz, dem Verwaltungsratspräsidenten der Swiss Re, der Binnenmarkt als zentrale Errungenschaft hervorgehoben, von dem gerade die Schweiz in höchstem Masse profitiert habe, der aber – Ironie der Geschichte – mit ein Grund dafür sei, weshalb sich die EU so geringer Beliebtheit erfreue. Denn wer möchte schon über Deregulierung und Normierung mehr Konkurrenz? Gerade aus diesem Grund war aus Sicht des ehemaligen Wettbewerbshüters Walter Stoffel die weitgehende Harmonisierung des schweizerischen Wettbewerbsrechts mit jenem der Europäischen Union für die Schweiz von Vorteil. Auf der andern Seite etwa warnte der Volkswirt Rolf Weder von der Universität Basel im Falle eines Beitritts vor hohen Anpassungskosten. Und Kurt Schmid vom Aargauischen Gewerbeverband betonte die Vorteile des kleinteiligen, dezentral handlungsfähigen Föderalismus.

Angesichts des mancherorts fast hoffnungsvoll heraufbeschworenen Szenarios eines Zusammenbruchs der Währungsunion, sei es, so ebenfalls Walter Kielholz, eine Illusion zu glauben, die Schweiz stünde in solch einem Fall «als Siegerin» da. Im Gegenteil – es würde ihr relativ gesehen zwar besser gehen, absolut jedoch wäre der Schaden grösser. Die Folgen für Europa wären unabsehbar. Gerade mit Blick auf die gegenwärtige Verfassung der EU wehrte sich Konrad Hummler, der geschäftsführende Teilhaber der Bank Wegelin & Co., gegen die «Priorität Europa» und unterstrich seine Vision eines City-State, eines global orientierten, urban organisierten und liberal ausgerichteten Stadtstaats, der keiner weiteren Annäherung an die EU bedarf.

Die Debatten zeigten: eine nüchterne, sachliche Diskussion des Verhältnisses Schweiz–EU ist möglich. Wenn der Eindruck besteht, dieses Thema dürfe, wenn überhaupt, nur in einem Schwarzweissschema diskutiert werden und Schattierungen seien nicht erwünscht, dann steht es schlecht um die Demokratie. Jedes noch so schwierige Thema – und gerade auch ein emotional aufgeladenes – bedarf einer nüchternen, realpolitischen Analyse, was nichts anderes heisst, als allen Perspektiven Rechnung zu tragen.

* Iain Martin im «Wall Street Journal» vom 24. November 2010

** Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik vom 17. September 2010

Von Katja Gentinetta und Georg Kohler erschien im Juli dieses Jahres im NZZ-Verlag der von ihnen herausgegebene Band «Souveränität im Härtetest. Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen».

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