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Sorgenkind Altersvorsorge

Das kapitalgedeckte Vorsorgesystem der Schweiz gilt international als Erfolgsmodell. Und auch selber sparen wir nicht mit Lob. Zu Recht?

Das Vorgehen ist denkbar simpel. Die Kommission für berufliche Vorsorge macht einen Vorschlag zum BVG-Mindestzinssatz, der Bundesrat segnet ihn ab. Letzten Herbst wurde solcherart politisch festgelegt, dass der diesjährige Mindestzinssatz 2 Prozent betrage. Dass eine Fachkommission entscheidet, den jährlichen Mindestzinssatz für die Guthaben beitragsorientierter Einrichtungen über der Rendite zehnjähriger Bundesobligationen anzusetzen, ist das eine (und schon bedenklich genug). Dass diese Entscheidung weder öffentlich kommentiert, noch kritisiert, noch angefochten wird, ist die andere und eigentlich interessantere Feststellung. Vielleicht gibt es ja wichtigere Themen bei der Vorsorgediskussion als die Höhe der anzuwendenden Verzinsungs- und Umwandlungssätze. Jedoch lehren uns die Diskussion und das Abstimmungsergebnis vom März 2010 zur Senkung des Mindestumwandlungssatzes das Gegenteil: wie haben sich Medien, Vorsorgeeinrichtungen und Parteien über den «Fehlentscheid» der Bevölkerung enerviert! Während der Volksentscheid als symptomatisch für die Kurzsichtigkeit und das Unverständnis der breiten Masse für die Probleme der Vorsorge gewertet wurde, echauffiert sich kaum jemand über das kurzfristige Kalkül bei der zuständigen Fachkommission.

Wir stehen vor dem Puzzle, dass sich einerseits die Bevölkerung zunehmend Sorgen über die Sicherheit der Vorsorge macht, dass aber anderseits eine kollektive Verdrängung der Probleme und Reformunwilligkeit bei den massgeblichen Akteuren – den Experten und Politikern – festzustellen ist. Das «beispielhafte Erfolgsmodell» wird von Behörden und Politikern auch nach einem Vierteljahrhundert in ritueller Manier beschworen, aber die Frage nach Wirkungsgrad und volkswirtschaftlicher Effizienz ist überfällig. Im neusten Sorgenbarometer der Credit Suisse liegt die Altersvorsorge hinter der Arbeitslosigkeit auf dem zweiten Platz und wird von 45 Prozent der Befragten als Sorgenkind erwähnt – vor dem Gesundheitswesen (41 Prozent) oder der sozialen Sicherheit (37 Prozent).

Zweifellos haben Bevölkerung und Unternehmungen mit der zweiten Säule im internationalen Vergleich einen beachtlichen Kapitalstock aufgebaut; mit rund 80’000 Euro pro Kopf der Bevölkerung weist die Schweiz einen Spitzenplatz auf.1 Nur muss der Kapitalstock ins Verhältnis zu den angestrebten Altersleistungen gesetzt werden. In Anbetracht des international hohen Lohnniveaus und der hohen Lebenserwartung der Bevölkerung liegt die Bruttoersatzquote mit 58 Prozent knapp unter dem OECD-Durchschnittswert von 59 Prozent und mehr als bloss knapp unter dem in der Schweiz angestrebten Wert von 60 (bei hohen) resp. 80 Prozent (bei mittleren und tiefen Einkommen).2 Immerhin ist festzuhalten, dass im Vergleich zu den meisten anderen Staaten der kapitalgedeckte gegenüber dem umlagefinanzierten Anteil sehr hoch ausfällt, was ein nachhaltiges System verspricht – sofern alles so bleibt, wie es ist.

Die Vergangenheit ist jedoch ein schlechter Indikator für die zukünftige Bewährung des Systems. Zunächst befindet sich dieses immer noch in der Aufbauphase des Kapitalstocks; dies wird sich in den nächsten zwei Jahrzehnten ändern, wenn die Baby-Boomer ins Rentenalter kommen und die geburtenschwachen Jahrgänge den Arbeitsmarkt dominieren. Zudem wurde das BVG-Obligatorium Mitte der 1980er Jahre zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt eingeführt, als die Kapitalanlagen vom kräftigen Boom an den Finanzmärkten profitieren konnten. Trotz schwarzem Montag, Inflation, Zahlungskrise in einigen Wachstumsmärkten, Platzen der Internetblase und gegenwärtiger Finanzkrise liess sich seit 1985 an den Aktien- und Obligationenmärkten eine Rendite erzielen, die deutlich über den technischen Anforderungen der Kassen liegt, die sich aus den Leistungsversprechen ergeben. Hätte zum Beispiel eine Vorsorgeeinrichtung Ende 1985 ihr Kapital zu 30 Prozent in schweizerische Aktien und zu 70 Prozent in schweizerische Obligationen investiert, so würde sie Ende 2009, bei jährlichem rebalancing, einer jährlichen Leistungsgutschrift von 4 Prozent und Verwaltungskosten von 1 Prozent, immer noch einen Deckungsgrad von 122 Prozent aufweisen. Ob die Kapitalmärkte in den nächsten Jahrzehnten solch komfortable Leistungen ermöglichen, ist zu bezweifeln. Auf keinen Fall dürfen Leistungsgarantien abgegeben werden, die auf diesen historischen Vorgaben beruhen.

Es liegt im Wesen eines kapitalgedeckten Vorsorgesystems, dass die Produktivität des Kapitalstocks, unter Einbezug der damit verbundenen Risiken, letztlich die Höhe der späteren Leistungen bestimmt. Wenn Leistungen überhaupt garantiert werden sollen, dann kann dafür nur die Höhe des risikolosen Zinssatzes massgebend sein, der für den jeweiligen Leistungshorizont am Kapitalmarkt gilt. Dass das Vorsorgekapital zur Sicherstellung solcher Garantien im Sinne einer risikolosen Anlage in langfristige Staatsanleihen investiert werden muss, ist mehr als ein Schönheitsfehler eines kapitalgedeckten Systems; denn: gehören Staatsschulden zum Nettovermögen und damit zum Kapitalstock einer Volkswirtschaft? Schürt der (nominelle) Sicherheitsanspruch bei den Rentenversprechen nicht geradezu den Anreiz zu vermehrter öffentlicher Verschuldung? Können die öffentlichen Haushalte den geforderten Sicherheitsanspruch überhaupt erfüllen? Die aktuelle Zahlungskrise europäischer Staaten zeigt, dass es sich dabei um zentrale Fragestellungen hinsichtlich eines kapitalgedeckten Vorsorgesystems handelt.

Der Vorzug eines kapitalgedeckten gegenüber einem umlagefinanzierten Vorsorgesystem ergibt sich daraus, dass in einer wachsenden Wirtschaft bei der Rentenfinanzierung von einer hohen Verzinsung des Realkapitals profitiert werden kann. Bei relativ beschränktem Kapitalangebot liegt die Rendite auf den Investitionen über der Lohnwachstumsrate, die die implizite Rentabilität auf den Beiträgen beim Umlageverfahren definiert. Die Leistungsfähigkeit eines kapitalgedeckten Rentensystems leitet sich also nicht her aus der Verzinsung von Schuldtiteln des Staates, sondern aus der erwarteten Rendite realwirtschaftlicher Investitionen. Dass dies mit Risiken verbunden ist, dürfte offensichtlich sein. Dabei werden die demographischen Risiken häufig unterschätzt; in einer alternden Gesellschaft wird die Produktivität des Realkapitals gegenüber jener von Arbeit schwer einzuschätzen sein, höchstwahrscheinlich aber sinken (da viel Kapital, aber wenig Arbeit vorhanden ist). Wir haben das scheinbare Paradox, dass eine alternde Gesellschaft zur Finanzierung der Renten just in dem Zeitpunkt auf die Erträge des von ihr angesparten Kapitalstocks angewiesen wäre, wenn – etwas überspitzt formuliert – dieser keinen realwirtschaftlichen Nutzen mehr stiftet. Das Problem lässt sich natürlich lösen, wenn der Kapitalstock frühzeitig dort in der Welt investiert wird, wo Arbeitskräfte reichlich vorhanden sind und Kapital knapp ist, also in den Schwellenmärkten.3 Mit welchen Risiken diese durchaus produktiven, mit hohen Ertragserwartungen verbundenen Investitionen einhergehen, vermögen die Erfahrungen der letzten 15 Jahre aufzuzeigen. Am meisten profitiert die schweizerische Wirtschaft wohl als Standort internationaler Gesellschaften – und hier sind nicht nur die grossen Multis gemeint, sondern ebenso KMUs und Jungunternehmungen mit internationaler Ausrichtung. Aber klar ist: es handelt sich um Risikokapital! Wer auf seinem Vermögen eine risikolose Verzinsung erwartet, hat etwas anderes im Kopf als realwirtschaftliche Investitionen.

Ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem erfordert gerade in einer alternden Gesellschaft einen hohen Grad an Mobilität der Produktionsfaktoren; die volkswirtschaftlichen Ressourcen müssen dort eingesetzt werden, wo sie knapp sind und damit die höchste Produktivität aufweisen. Die Alternative dazu ist die Finanzierung der öffentlichen Verschuldung (durch Kauf von Staatsanleihen) aus einem falschen Sicherheitsdenken heraus – dagegen ist von Behörden und Politikern kein grosser Widerstand zu erwarten, da dies ihren Einflussbereich eher erhöht als schmälert. Letztlich handelt es sich dabei um eine Aushöhlung der Kapitaldeckung durch eine verdeckte Umlagefinanzierung. Es ist erschreckend, wieviele Regulierungselemente in den letzten Jahren entstanden sind, die der Staatsverschuldung nachfrageseitig Vorschub leisten, indem die Schulden der öffentlichen Hand als vermeintlich risikolose Anlagen zur Sicherung nomineller Verpflichtungen betrachtet resp. anerkannt werden. Sollten Pensionskassen demnächst nach den gleichen Grundsätzen wie Lebensversicherungsgesellschaften reguliert werden, so hätte dies für das Anlageverhalten der Vorsorgeeinrichtungen als langfristig orientierter Investoren verheerende Konsequenzen.

Um dies abzuwenden, muss Schluss sein mit der Sicherheitsillusion, die das schweizerische Vorsorgesystem vorgaukelt. Denn sie hält die Leute davon ab, frühzeitig den Einkommensrisiken entgegenzuwirken, durch Altersarbeit, zusätzliche persönliche Ersparnis oder innovative Formen der Kapitalbildung.

Damit würde sich auch der bürokratische Aufwand erübrigen, der sich aus der Überwachung von Deckungsanforderungen, den davon abgeleiteten anlagepolitischen Folgerungen und Sanierungen ergibt. Bereits ist nämlich absehbar, dass der nächste Schritt in der Bewertung der – nach nicht nachvollziehbaren Kriterien – vorgeschriebenen Zinsgarantien besteht, analog zur oben angesprochenen Regulierung der Lebensversicherungen. Dies gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.

Es ist psychologisch nachvollziehbar, dass in Zeiten der Krise und Unsicherheit das Bedürfnis nach Sicherheit, nach einer sicheren Vorsorge, besonders gross ist. Doch eine solche kann es in einem kapitalgedeckten System nicht geben. Der Kapitalmarkt ist ein denkbar ungeeigneter Mechanismus, um sozialpolitische Anliegen, wie jenes einer garantierten Mindestrente, umzusetzen. So etwas lässt sich über ein Umlagesystem effizienter erreichen: Leistungsgarantien werden über den ordentlichen Budgetierungsprozess dem demokratischen Willensbildungsprozess unterworfen und sind in den Kostenfolgen transparenter.

Aus ökonomischer Sicht liegt der Konstruk-tionsfehler des BVG darin, dass die Prinzipien der klassischen Lebensversicherung auf die einkommensabhängige Rentensicherung einer ganzen Volkswirtschaft übertragen werden. Für viele der mit einem Vorsorgesystem verbundenen Risiken ist dies unmöglich. Langlebigkeit lässt sich versichern, solange sich die Lebenserwartung der versicherten Bevölkerung nicht auf einen Schlag gleichgerichtet verändert. Systemische Risiken, von denen sämtliche Destinatäre in genau der gleichen Richtung betroffen sind, lassen sich nicht versichern, höchstens umverteilen. Einkommensschwankungen, Zinssatzveränderungen, Kursveränderungen an den Börsen oder bei Währungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu einem grossen Teil systemischer Natur sind.

Kurz, der Versicherungsgedanke, ein inhärenter Bestandteil der zweiten Säule, lässt sich nicht auf die aggregierten Risiken der Gesellschaft übertragen, wenn diese über den Kapitalmarkt abgesichert werden sollen.

Es besteht derzeit wenig Hoffnung, dass die angesprochenen Konstruktionsmängel der beruflichen Vorsorge erkannt, debattiert und die nötigen Anpassungen in Angriff genommen werden. Die vielfältigen Reformansätze und Diskussionsforen, wie etwa «Innovation zweite Säule», bilden notwendige, aber nicht hinreichende Anstösse dazu. Die Reformresistenz des schweizerischen Systems ergibt sich nicht nur aus der Komplexität der Vorsorgematerie an sich, sondern vor allem auch aus der komplexen Ausgestaltung des schweizerischen Systems. Diese Komplexität zeichnete bereits den langwierigen Entstehungsprozess des Gesetzes aus, dergegenüber einfachere Alternativen chancenlos blieben.5 Das Argument, wonach es darum ging, verschiedene existierende Vorsorgemodelle unter einen einheitlichen gesetzlichen Hut zu bringen, vermag wenig zu überzeugen, im Gegenteil: eine an Prinzipien orientierte Rahmengesetzgebung vermag der Vielfalt von Systemen effizienter Rechnung zu tragen als eine detailbehaftete Regulierung. Die Komplexität des BVG bringt ferner eine durch Experten und Interessenvertreter dominierte Fachdiskussion mit sich, bei der sich die breite Bevölkerung ausgegrenzt fühlt. Je länger mit den Reformen zugewartet wird, umso mehr werden in Anbetracht der demographischen Entwicklung Meinungs- und Mehrheitsbildung von den Begünstigten – den Rentnern – dominiert, was Reformen in die angesprochene Richtung unwahrscheinlich macht und die Gefahr der umlageorientierten Entfremdung des Kapitalstocks weiter ansteigen lässt. Bereits in den 1950er Jahren hat der deutsche Volkswirt Gerhard Mackenroth in seinem Vergleich kapitalgedeckter und umlagefinanzierter Vorsorgesysteme vor den politischen Begehrlichkeiten gewarnt, die das Vorhandensein eines (hohen) angesparten Vorsorgekapitals weckt. Ein aktueller Fall aus Osteuropa zeigt, dass es sich dabei um keine Fiktion handelt.

1) OECD, Global Pensions Statistics, aktualisierte Werte online. Der Kapitalbestand bezieht sich auf Ende 2009, die Bevölkerungszahl auf Ende 2008.

2) OECD, Pensions at a Glance, Ausgabe 2009.

3) Für eine ausführliche Diskussion der demographischen Effekte eines kapitalgedeckten Vorsorgesystems siehe: Börsch-Supan, A., F. Heiss, A. Ludwig und J. Winter: «Pension Reform, Capital Markets, and the Rate of Return». In: German Economic Review 4 (2003).

4) Angesprochen ist der europäische Solvenz-standard Solvency II resp. der schweizerische Solvenztest (SST). Siehe den Beitrag von G. Fürer und J. Haegeli in der NZZ vom 17. Dezember 2010 («Problematische Präfe-renz für Staatsanleihen unter ‹Solvency II› im Versicherungssektor»).

5) Für eine Aufarbeitung der Entstehungs-geschichte des BVG siehe Lüthje, G.: «Reformprozess in der betrieblichen Vorsorge der Schweiz. Eine polit-ökonomische Analyse». Basel: Dissertation, Universität Basel, 2008.

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