Sonderfall Ticino
Eine Art Zürcher Hinterland? Oder doch eher
eine Erweiterung Norditaliens? Die Tessiner fühlen
sich marginalisiert. Zu Recht?
Wenn wir Tessiner über die Lage unseres Kantons zwischen den nördlichen und südlichen Nachbarn sprechen, so gebrauchen wir oft das Bild der «Brücke». Dies ist durchaus positiv gemeint. Das Tessin erfüllt die wichtige Funktion, zwei Kulturen zu verbinden. Aber es ist zugleich ein zweischneidiges Bild, das sich bei näherer Betrachtung auch für andere – weniger günstige – Deutungen eignet.
Die Brücke verbindet nicht einfach zwei Gebiete, sondern sie überbrückt auch das, was unter ihr liegt. So gesehen, hat die Brückenfunktion auch eine negative Seite: das Tessin ist ein blosser «Übergang», sozusagen eine Erweiterung der Autobahn, die Hamburg mit Reggio di Calabria verbindet. Man bringt sie möglichst schnell hinter sich, womöglich ohne eine Pause einzulegen. Es ist, als existierte das Tessin als eigenständige Wirklichkeit gar nicht.
Das ist gewiss eine etwas extreme Sicht der Dinge, aber sie kommt der Wahrnehmung ziemlich nahe, die die Tessiner von sich selbst haben. Es ist in der Tat so, dass die Autobahn für die Eingliederung des Kantons in ein europäisches Verbindungsnetz, also für die Öffnung gegenüber dem Ausland, von grosser Bedeutung ist. Zugleich hat sie jedoch dazu beigetragen, ein bereits bestehendes Gefühl der Zerbrechlichkeit, ja der Randständigkeit zu verstärken.
Dieser Wesenszug durchzieht auf verschiedene Art und Weise die ganze Geschichte des Kantons. Er zeigt sich in den geographischen und demographischen Grundgegebenheiten – das Tessin ist zerklüftet und in vielen Bergtälern eher spärlich besiedelt. Er zeigt sich auch in den politischen und kulturellen Besonderheiten, die auf diesen Gegebenheiten aufbauen. Das Tessin ist amtlich «Republik und Kanton», verfügt also über eine grosse, vom Bund anerkannte Autonomie, und es ist jener Kanton, in dem Italienisch die offizielle Sprache ist. Zugespitzt formuliert: das Tessin gehört politisch zur Schweiz, aber kulturell zu Italien. Es ist dieses Spannungsfeld, das die Mentalität der Tessiner geprägt hat und weiterhin prägt. Davon zeugt die nie zur Ruhe kommende Debatte über die Tessiner Identität, die eine Art politisch-kulturellen Leitmotivs unserer Geschichte darstellt.
Um nun zum Bild der Brücke zurückzukehren, das ich eingangs angesprochen habe: man gewinnt den Eindruck, dass diese Sorge um die Identität das anhaltende Gefühl widerspiegle, «unter die Brücke zu fallen». Dieses Gefühl findet immer wieder aufs neue Nahrung. Die bekannten Anrufungen der Verwandtschaft und Freundschaft von seiten Italiens kontrastieren augenfällig mit den aggressiven und zuweilen verächtlichen, die Offensive gegen das angebliche Tessiner «Steuerparadies» begleitenden Erklärungen. Und wie reagierte Bundesbern oder – allgemeiner – der Schweizer, also der Deutschschweizer Finanzplatz? Derselbe Finanzplatz, der dem Tessin sonst freundlicherweise die Rolle des Bankenvorpostens für die Hortung der aus dem Süden kommenden Gelder zuweist? Er überliess den Kanton beim Krisenmanagement sich selbst, reagierte – wenn überhaupt – erst spät, und dann viel zu unentschlossen.
Solche Erfahrungen sind dazu angetan, die Gefühle von Zerbrechlichkeit und Ambivalenz zu fördern, die das Tessiner Gemüt ohnehin schon prägen. Wir fühlen uns einerseits in der elveticità und ihren Grundwerten – insbesondere im Föderalismus und in der direkten Demokratie – fest verwurzelt, wobei wir uns von unseren südlichen Nachbarn abgrenzen; doch sind wir uns anderseits der starken Abhängigkeit von Bern und Zürich bewusst – und orientieren uns umgekehrt gen Süden.
Dieser Zwiespalt führt geradezu zwangsläufig zu Frustration. Und in dieser Frustration wiederum liegen jene aggressiven Forderungen nach Unabhängigkeit begründet, die ein Ventil in der Lega dei Ticinesi gefunden haben, einer Bewegung mit durchaus folkloristischem Potential. Es ist ein sonderbarer Zufall, dass sie denselben Namen benutzt wie die politische Partei in Italien, die sich den Einsatz für den Föderalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Dass die italienische Lega Nord viele Anleihen beim helvetischen Föderalismus macht, widerspiegelt letztlich bloss einmal mehr, wie stark Norditalien mit dem Tessin verbunden ist. Kommt hinzu, dass die Tessiner Wirtschaft stark mit dem nahen Italien verzahnt ist. Täglich kommen 45’000 italienische Grenzgänger ins Tessin, um hier ihrer Arbeit nachzugehen.
Das ständige Spannungsfeld zwischen Nord und Süd, zwischen Abhängigkeit und Abgrenzung hat zur Herausbildung eines Charakterzugs geführt, der dem Kanton mehr schadet als nützt: die Selbstbezüglichkeit. Der Tessiner empfindet Probleme, mit denen sich auch andere Regionen herumschlagen, als spezifisch und ausschliesslich ticinese.
So erweist sich das Tessin als eine Art Resonanzraum für die Probleme, die sich nördlich der Alpen und südlich der Grenze abspielen. Es überrascht deshalb nicht, dass dieser Kanton, der in jeder Hinsicht ein eigener Staat ist (mit einer eigenen Regierung, einem eigenen Parlament und einer eigenen Sprache), eine Art politische Eigendynamik entwickelt, die sich vor allem um sich selbst dreht. Weniger verständlich – aber vielleicht nicht weniger überraschend – ist die Tatsache, dass staatliche Kommunikationsmittel, wie die Radio Televisione della Svizzera Italiana (RTSI), die eigentlich den nationalen Zusammenhalt stärken sollten, diese Selbstbezüglichkeit zusätzlich verstärken. Das Ergebnis ist ein Hang zur Verschlossenheit, der die Stellung des Tessins noch schwieriger macht, als sie ohnehin ist.
Und wie steht es mit der Sprache? Ich habe mir die Behandlung dieser Frage absichtlich für den Schluss aufgespart – nicht weil sie nicht wichtig wäre, sondern weil sie sich nur von dem bereits Gesagten her verstehen lässt. Es ist ein Fakt, dass das Italienische, obwohl es als Landessprache anerkannt ist, in den letzten Jahrzehnten – nicht nur, aber gerade im politisch-behördlichen Bereich – in der Schweiz an Einfluss verloren hat.
Es gab zwar eine massive Einwanderung von Italienern in den 1960er und 1970er Jahren. Doch sprechen sie zumeist ein südlich-dialektal gefärbtes Italienisch – ganz abgesehen davon, dass sie sich gut integriert haben und je nach Wohnsitz zumeist sehr gut auf Schwizerdütsch oder Französisch kommunizieren. Zugleich hat das wirtschaftliche Wachstum des Tessins bewirkt, dass das Interesse der neuen Generationen merklich abgenommen hat, jenseits des Gotthards, vielleicht gar in Bundesbern zu arbeiten. Dies wiederum hat dazu geführt, dass wir uns ständig über die geringe Bedeutung des Italienischen als dritter Landessprache beklagen, ohne dass wir dabei in der Lage wären, durch eine qualifizierte Präsenz in der Verwaltung daran etwas zu ändern. Die Vorstellung, diese Schwierigkeiten liessen sich durch einen politischen Akt – also durch ein Gesetz – beheben, ist durchaus heikel. Auch wenn sie immer wieder vorgebracht wird.
Die Tessiner tun sich schwer damit anzuerkennen, dass es hier weniger um ein spezifisches Problem des Tessins als vielmehr um ein Problem der sich wandelnden Schweiz geht. Die Schweiz hat, als ein komplexes Gebilde von grosser Vielfalt, eine besondere Aufmerksamkeit für Ausgleich und Herstellung von Gleichgewichten entwickelt, die zentral für die Geschichte, das Selbstverständnis und die Identität des gesamten Landes ist. Wenn nun zunehmend Abschottungs-tendenzen kultureller und sprachlicher Minderheiten sichtbar werden, so lassen sich jene nicht nur auf Eigenheiten dieser zurückführen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer tieferreichenden Krise im Selbstverständnis der Schweiz.
Mit einer Paradoxie könnte man sagen, dass in dem Masse, in dem der Sonderfall Tessin erkannt und anerkannt wird, auch der Sonderfall Schweiz weiterhin seine Existenzberechtigung hat. Das stimmt zuversichtlich. Denn es wäre bedauerlich, wenn die Schweiz eines Tages bloss noch ein Sammelsurium sprachlicher und regionaler Besonderheiten ohne verbindendes Element wäre. Was geschieht, wenn lediglich noch irgendwelche Sonderinteressen den politischen Alltag bestimmen, können wir um uns herum in der EU beobachten.
Die Probleme des Tessins sind also zugleich Probleme der Schweiz. Daher täte der Rest der Schweiz gut daran, das Tessin genau zu studieren. Und umgekehrt sollte sich das Tessin nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit dem Rest der Schweiz auseinandersetzen. Damit verschafft es sich Achtung und Glaubwürdigkeit – in den Augen der Miteidgenossen, aber vor allem auch in den eigenen.