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So war es nicht gemeint

Zunehmend werden die in der Verfassung verankerten Menschenrechte herangezogen, um den Ausbau der staatlichen Fürsorge zu begründen. Vergessen geht dabei, dass Menschenrechte in ihrem ursprünglichen Sinn Abwehr- und nicht Anspruchsrechte sind.

So war es nicht gemeint

Es war ein Scheitern mit Ankündigung: Nach monatelangem Hin und Her zwischen den beiden Parlamentskammern hat der Ständerat am 27. September 2012 das Präventionsgesetz versenkt. Dessen Ziel wäre es gewesen, Präventions- und Gesundheitsförderungsmassnahmen zentral von Bundesbern aus zu steuern. Das Scheitern der Vorlage ist aus freiheitlicher Sicht zu begrüssen. Denn Gesundheitsvorsorge liegt in der Verantwortung jedes einzelnen.

Das Präventionsgesetz, das harmlos klingt («fördern», «vorbeugen»), aber den Behörden die Möglichkeit eröffnet hätte, durch Propaganda massiv in die Lebensführung der Bürger einzugreifen («Trinken Sie weniger!», «Essen Sie weniger fett!»), ist freilich kein Einzelfall. Die Schweizer Bevölkerung sieht sich in den letzten Jahren zunehmend mit Vorlagen konfrontiert, die ihre persönliche Freiheit aus Gründen der staatlichen Fürsorge einschränken wollen. Sei es eine Bewilligungspflicht für das familieninterne Kinderhüten oder die Kurspflicht für jeden Hundehalter – der Staat neigt dazu, vorsorgend und bis in die intimsten Bereiche hinein das Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger zu beschneiden.

Vertreter einer umfassenden staatlichen Fürsorge argumentieren jeweils, es sei Pflicht des Staates, Schaden von seinen Bürgern abzuwenden. Im Fall des Präven­tionsgesetzes konnten dessen Befürworter zwar kein direktes Recht auf gesundheitsfördernde Massnahmen aus der Bundesverfassung ableiten. Hergeleitet wurde der Gesetzgebungsauftrag vielmehr aus dem programmatischen Charakter der Menschenrechte, insbesondere aus dem Recht auf körperliche Integrität und dem damit verbundenen Gesetzgebungsauftrag, Massnahmen für den Gesundheitsschutz zu treffen (Art. 118 der Bundesverfassung).1

Bei all diesen Debatten stellt sich die Grundsatzfrage: Bilden die in der Verfassung garantierten Menschenrechte eine Anspruchsgrundlage des Bürgers gegenüber dem Staat – oder sollen sie den einzelnen vielmehr vor Eingriffen des Staates und staatlicher Willkür schützen?

Die Menschenrechte sind der Kern jedes modernen Rechtsstaates. Historisch betrachtet ist die Deklaration der Menschenrechte eine junge Errungenschaft. Die Idee der staatlichen Verbriefung von Menschenrechten findet ihren Ursprung in der Aufklärung und ist besonders geprägt durch Thomas Hobbes als Vordenker sowie durch John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Die erste staatliche Anerkennung der Menschenrechte ist die amerikanische «Bill of Rights» von 1776. Sie basiert auf der liberalen Staatstheorie von John Locke, wonach der Staat seine Legitimation durch die Gewährleistung von Menschenrechten und der Begrenzung der Staatsgewalt begründet. In Europa wurden Menschenrechte 1789 im Zuge der Französischen Revolution zum ersten Mal ausgerufen. Dieser Akt war eine Reaktion auf den Absolutismus und sollte fortan die Freiheitssphäre des einzelnen vor staatlichen Eingriffen schützen.

Keine dieser Deklarationen räumte jedoch dem einzelnen einen Anspruch auf staatliche Leistung oder Unterstützung ein. Die ursprünglich liberale Motivation der Menschenrechte zeigt sich besonders deutlich bei den unveräusserlichen Freiheitsrechten wie dem Recht auf persönliche Freiheit. Verstünde man dieses Recht als Anspruchsgrundlage, so liesse sich daraus allenfalls ein leistungsunabhängiger Grundlohn vom Staat für jeden Bürger ableiten. Den Datenschutz könnte man unter dem Titel «Schutz der Privatsphäre» stets weiter ausbauen und den Staat für dessen Vollzug in die Pflicht nehmen. Ein solches Recht wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit eigenen Internet-Einträgen in sozialen Netzwerken wie Facebook unter dem Titel «Recht auf Vergessen» durch das Postulat von Nationalrat Jean Christophe Schwab (SP) im März 2012 gefordert. Und verstünde man beispielsweise die Religionsfreiheit als Leistungsrecht, hiesse dies, dass die Religionsgemeinschaften nicht nur ihren Kultus ausüben dürften und ihren Gläubigen dafür die notwendige Infrastruktur zur Verfügung stellen könnten, sondern auch dass sie den Staat zum Bau ihrer Kultusstätten verpflichten könnten.

Die Schweiz proklamierte den ersten Grundrechtskatalog in der Bundesverfassung von 1848. Auch diese Deklaration ist von der damaligen liberalen Bewegung motiviert. Während der Regeneration in den 1830er Jahren gaben sich bereits neun Kantone Verfassungen mit verbrieften Grundrechten. Als Anspruchsgrundlagen waren diese nicht gemeint.

Freiheitsschützende Funktion

Eine grosse Errungenschaft im ersten eidgenössischen Katalog der Freiheitsrechte ist die Niederlassungsfreiheit, die den Schweizer Bürgern das Recht gibt, sich im ganzen Land niederzulassen und dort ihre Grund- und politischen Rechte vollumfänglich auszuüben. Weiter statuierte die Verfassung von 1848 die «Beförderung der gemeinsamen Wohlfahrt». Dieser Zweckartikel ist keine Anspruchsgrundlage für staatliche Fürsorgeleistungen des einzelnen. Vielmehr wurde mit ihm der Grundstein für einen freien Binnenmarkt gelegt. Ziel war die Schaffung eines Wirtschaftsraums durch den Abbau von Handelshemmnissen wie Zöllen und die Vereinheitlichung des Mass-, Währungs- und Verkehrssystems. Im jungen Bundesstaat bedeutete der Begriff «Wohlfahrt» nicht primär ein soziales Grundrecht. Vielmehr war damit gleichsam der Auftrag zum Abbau von Handelsschranken gemeint.

Auch die frühe schweizerische Verfassungslehre war dem liberalen Gedanken verpflichtet. Ein wichtiger Vertreter war der Staatsrechtler Fritz Fleiner, der anfangs des 20. Jahrhunderts in Zürich lehrte. Laut ihm spricht «im Rechtsstaat die Vermutung für die Freiheit des Individuums von staatlichem Zwang (…). In diesem Sinne enthält der Satz Was nicht verboten ist, ist erlaubt eine Rechtswahrheit.» Diese ist gemäss Fleiner niedergelegt in den Vorschriften der Verfassungsurkunden, die Freiheit und Eigentum der Bürger ausdrücklich garantieren. Ebenso vertraten auch spätere Verfassungsrechtler wie Zaccaria Giacometti und Hans Huber die Auffassung, dass Freiheitsrechte primär den Schutz des einzelnen vor staatlichen Eingriffen garantierten und keine Anspruchsgrundlage für ein aktives Tun des Staates lieferten.

Auch das Bundesgericht betont in seiner Rechtsprechung grundsätzlich, dass Freiheitsrechte Abwehrrechte gegenüber dem Staat seien. Es hat beispielsweise bereits 1979 festgehalten, dass die Eigentumsgarantie eine Bestandesgarantie sei. Als solche schützt sie den Eigentümer vor staatlichen Eingriffen, gibt diesem jedoch keinen Anspruch auf staatliche Erschliessungsleistungen, wie den Bau von Leitungen oder die Anpassung eines Grundstücks an neuere Umweltschutznormen.

Eine bedingte staatliche Schutzpflicht anerkennt das Bundesgericht nur in Einzelfällen. Beispielsweise statuierten die Lausanner Richter eine solche im Zusammenhang mit der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit: Demnach muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen, so dass bewilligte öffentliche politische und religiöse Veranstaltungen ohne Störungen Dritter durchgeführt werden können.

Die restriktive Praxis des Bundesgerichts ist darin begründet, dass auch die heutige Bundesverfassung dem einzelnen nur selten einen unmittelbaren Anspruch auf staatliche Leistungen einräumt. Eine Ausweitung der Leistungspflicht alleine durch die Rechtsprechung wäre deshalb schon wegen der Gewaltenteilung nicht angebracht. Es würde, wenn schon, am Souverän liegen, direkte Anspruchsgrundlagen in der Verfassung zu schaffen. Wichtigste Beispiele für unmittelbare staatliche Leistungspflichten in der Verfassung sind das Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV), die das Existenzminimum sichern soll und somit eine Konkretisierung der Menschenwürde ist, sowie der Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV).

Letzterer verpflichtet den Staat, den Kindern eine unentgeltliche Grundausbildung zur Verfügung zu stellen. Die Grundausbildung aller ist ein Pfeiler der Chancen- und Rechtsgleichheit und soll die Schüler auf ein Leben in Eigenverantwortung vorbereiten. Träger dieses Rechts sind alle Kinder, die in der Schweiz leben. Hier liegt auch einer der wesentlichen Unterschiede zum Präventionsgesetz: Adressaten von Präventionsmassnahmen wären mündige Menschen gewesen. Mündige Menschen sollten indes fähig sein, verantwortungsbewusst zu leben. Teil dieser Verantwortung ist, für die eigene Gesundheit zu sorgen – oder eben nicht. Das Nein zur Passivraucher-Initiative der Lungenliga hat gezeigt, dass das Schweizer Volk staatliche Einschränkungen im Gesundheitsbereich nur so weit akzeptiert, wie es das Zusammenleben erfordert. Nicht erwünscht ist dagegen die staatliche Sorge um jede einzelne Lunge.

Weitgehende Raucherprävention und andere Vorstösse wie der reglementierte Familienhütedienst oder eine durch staatlichen Zwang motivierte Organspende sind alles gutgemeinte Versuche, den einzelnen vor allen möglichen und unmöglichen Gefahren des Lebens zu schützen. Aber so war das nicht gemeint: Gemäss aufklärerischer Idee diente die Verankerung der Menschenrechte in der Verfassung dem Schutz des Individuums vor staatlichen Eingriffen – und nicht als Begründung einer umfassenden Fürsorgepflicht.

Von selbst versteht sich, dass die Menschenwürde auch durch den Staat geachtet und geschützt werden muss (Art. 7 BV). Und ein wichtiger Bestandteil der Menschenwürde ist das Gebot der Rechtsgleichheit, das den Staat verpflichtet, alle Menschen gleichwertig zu behandeln. Aber gerade wenn man die Menschenrechte als Grundlage für staatliche Schutz- und Leistungspflichten versteht, läuft man Gefahr, den eigenverantwortlichen und autonomen Menschen gegenüber dem anspruchsberechtigten zu benachteiligen.

Deshalb muss auch künftig die freiheitsschützende Funktion der Menschenrechte hochgehalten und dem überrissenen Ausbau einer staatlichen Fürsorgepflicht entgegengewirkt werden: Denn primär und wesentlich sind die Menschenrechte Abwehrrechte, die den einzelnen vor staatlichen Eingriffen und Willkür schützen.

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