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So hat die EU eine grosse Zukunft

Plädoyer für eine raffinierte Mischung aus «mehr Europa» und «weniger Brüssel»

Über die allgemeinen Ziele der Europäischen Union herrscht weitgehend Einigkeit: Die EU soll ein freiheitlicher und friedlicher Wohlstandsraum sein. Sie soll von Vielfalt geprägt sein, denn Vielfalt ist ein Wert an sich sowie Voraussetzung für fruchtbaren Wettbewerb. Die EU soll keine Wohlstandsinsel sein, denn sie profitiert vom Wohlstand ihrer Nachbarn durch Handel, Ideenaustausch und Wettbewerbsdruck. Die EU soll durch nachhaltige Politik auch zukünftigen Generationen hervorragende Lebensbedingungen bieten. Und die EU soll eine positive Rolle zur Mehrung der Freiheit und des Wohlstands in der ganzen Welt spielen.

Umstritten ist hingegen, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Eine Gruppe von Europäern beruft sich auf das Mantra von «mehr Europa» und wünscht sich eine umfassendere und raschere Integration der EU-Mitglieder durch die Stärkung zentraler In-stitutionen. Die Idee eines europäischen Bundesstaats aber erzeugt vehemente Opposition von jenen Europäern, die sich «weniger Brüssel» wünschen und die Entscheidungen (wieder) möglichst dezentral ansiedeln wollen. Ein unüberbrückbarer Gegensatz? Nicht unbedingt. Wir schlagen im folgenden eine Lösung vor, die die Vorteile beider Wege vereint: eine Stärkung der zentralen Entscheidungsträger bei gleichzeitiger massiver Dezentralisierung mit echter lokaler Autonomie.

Heutige Stärken und Schwächen der EU

Wo steht die EU heute? Sie hat mindestens fünf Stärken, die den genannten Zielen zuträglich sind:

1. Der offene Binnenmarkt mit freiem Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr ist ein riesiger Erfolg! Er ist der Wohlstandsmotor Europas und hat den Menschen eine zuvor ungeahnte Bewegungsfreiheit gebracht.

2. In der EU herrscht grosse Vielfalt – kulturell, sprachlich, politisch und ökonomisch. Zwar leiden einige Mitgliedsstaaten unter grossen Problemen. Doch vor allem in Skandinavien sowie im und an der Grenze zum deutschen Sprachraum schneiden viele Länder im internationalen Vergleich sehr gut ab und gehen ihre wirtschaftlichen Herausforderungen wirkungsvoll an. Diese Vielfalt bietet Lernmöglichkeiten, die den Krisenländern eine Chance geben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.

3. Die EU steht bezüglich nachhaltiger Entwicklung im internationalen Vergleich nicht schlecht da. Das zeigt sich in der Umwelt- genauso wie in der Finanzpolitik. Trotz der offensichtlichen Überschuldung einiger Mitglieder ist die durchschnittliche Verschuldung auf gesamteuropäischer Ebene klar tiefer als jene der USA und Japans.

4. Die EU ist verglichen mit anderen Ländern und Regionen der Welt in vielerlei Beziehung ein Hort der Freiheit. Das gilt sogar im Vergleich mit den USA. Deren Bürger sind selbst dann steuerpflichtig, wenn sie nicht dort leben, und die gesellschaftlichen Zwänge infolge Übermoralisierens und politischer Überkorrektheit dürften dort weitaus einschneidender und einschränkender sein als in der EU.

5. Die EU spielt eine vergleichsweise positive Rolle in der Weltpolitik. Sie bedroht die Welt weit weniger stark als andere politische Grossmächte, die permanent Kriege gegen Drogen, Terrorismus und Geldwäscherei führen, die die mit diesen Übeln zusammenhängenden Probleme oft nur noch verschlimmern sowie in andere Bereiche verdrängen und für viele Länder katastrophale Folgen haben.

Gleichzeitig ist die EU mit Problemen konfrontiert, deren Gewicht schwer auf künftigen Generationen lastet. Sieben davon erscheinen in unserem Zusammenhang besonders wichtig:

1. Viele EU-Länder sind wirtschaftlich und gesellschaftlich weit weniger erfolgreich, als sie mit einer alternativen Wirtschafts- und Sozialpolitik sein könnten. Insbesondere leiden sie unter einer Arbeitslosigkeit, deren Mass sozialen Sprengstoff birgt. Verantwortlich dafür sind völlig verkrustete Arbeitsmarktstrukturen, die aus unsinnigen Regulierungen resultieren, die wiederum eine Folge mangelnder Reform-anreize für Regierungen sind. Eine Deregulierung der Arbeitsmärkte würde zwar nach wenigen Jahren bedeutende Wohlstandsgewinne bringen, kurzfristig aber die Profiteure der heutigen Regelungen belasten, etwa die «Insider», die heute durch unkündbare Arbeitsverträge geschützt sind.

2. Die Einkommensungleichheit in der EU ist erschreckend hoch. Genau genommen ist sie sogar höher als in den USA. Während dort die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten in die Masse für individuelle Ungleichheit einfliessen, beziehen sich die Daten aus der EU im Regelfall auf die durchschnittliche Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder. Würde aber die Ungleichheit in der EU so wie in den USA systematisch über den gesamten Wirtschaftsraum gemessen, würde die EU schlechter abschneiden.

3. Die EU leidet unter starken Zentrifugalkräften. Die schnelle wirtschaftliche Entwicklung Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer lässt nicht nur die Nachfrage nach hochtechnologischen Produkten und Dienstleistungen, sondern auch das Angebot an weniger anspruchsvollen Produkten wachsen. Das bewirkt eine schnelle Veränderung der «terms of trade», des internationalen Handelswerts der Güter und Dienstleistungen. Die technologisch führenden eher nördlichen EU-Länder profitieren dabei weit mehr von der weltwirtschaftlichen Entwicklung als die südlichen Länder.

4. Zahlreiche EU-Länder leiden an einer tiefen Steuermoral ihrer Bürger, hoher Korruption und schlechter regionaler/lokaler Standortpolitik. Ein Hauptgrund dafür ist die völlige Überzentralisierung dieser Länder. In ihnen fliesst oft fast das gesamte Steueraufkommen zuerst in die Hauptstadt, von wo es dann nach einem undurchschaubaren Verteilkampf über undurchsichtige Transfers und nahezu gänzlich unabhängig vom lokalen Steueraufkommen zurück an die Regionen und Gemeinden fliesst. Folglich sind die Bürger kaum motiviert, selbst Steuern zu zahlen und die Steuerzahlung ihrer Mitbürger zu kontrollieren. Nicht nur ist damit die Steuermoral tief, vielmehr wird Steuerhinterziehung sogar sozial anerkannt. Wer Steuern zahlt, statt mit seinem Geld die lokale Wirtschaft zu stützen, wird zum eigentlichen Sünder. Zugleich lohnt sich für Lokalpolitiker eine gute Standortpolitik weit weniger, weil die so erzielbaren Steuereinnahmen ja gänzlich abfliessen. Wichtig ist für sie, im Transfergemauschel in der Hauptstadt vorne mit dabei zu sein.

5. In manchen EU-Ländern wurden viele Gesetze und Regulierungen erlassen, die gar nicht wirklich darauf ausgerichtet waren, tatsächlich auch umgesetzt zu werden. Dabei wurden Steuergesetze oft in unsinniger und missbräuchlicher Weise ausgestaltet. Ein erster Reformschritt in Krisenländern ist nun oft, zuerst einmal die bestehenden Gesetze und insbesondere die Steuergesetze ernsthafter durchzusetzen. Wenn aber Länder wie Griechenland oder Italien all die viel zu komplizierten, verzerrenden und oft viel zu hohen Steuern wirklich einzutreiben versuchen, sind die Konsequenzen für die Wirtschaft dramatisch.

6. Die EU hat keine Regierung im Sinne von demokratisch gewählten Entscheidungsträgern, die starke Anreize haben, eine gute Politik für die EU als Ganzes zu entwickeln und durchzusetzen. Alle volksgewählten Entscheidungsträger sind auf nationaler Ebene gewählt und dementsprechend eher «Beutejäger zu Brüssel» als wirklich Anwälte einer guten gesamteuropäischen Politik. Damit unterscheidet sich die EU von den USA, die eine vergleichsweise starke Zentralregierung haben, die die nationalen öffentlichen Güter wenigstens teilweise erbringt. Gleichzeitig können bei den derzeitigen Strukturen der EU Fehler der nationalen Regierungen allzu leicht den «Bürokraten in Brüssel» angelastet werden.

7. Die erfolgreichen Regionen der meisten EU-Länder leiden zunehmend unter ihrer eingeschränkten Autonomie. Die schnell zunehmende Globalisierung stärkt den internationalen Standortwettbewerb und damit das Bedürfnis nach schnellem, autonomem und effizientem Handeln auf regionaler und lokaler Ebene. Dank dem EU-Binnenmarkt sind die Regionen weniger auf die Integration in einen nationalen Markt angewiesen, aber sie benötigen mehr Freiheiten, um sich in den internationalen Markt zu integrieren und sich an veränderte Bedingungen anzupassen.

Erklärung: Es ist immer die Vielfalt

Der eben skizzierte heutige Zustand der EU geht generell – aber natürlich nicht ausschliesslich – auf eine Eigenschaft Europas zurück: Vielfalt. Diese ist paradoxerweise Quelle sowohl vieler europäischer Stärken wie auch Schwächen.

Vielfalt ist einerseits Voraussetzung für fruchtbaren Wettbewerb, doch die in Europa mit ihr verbundene Vielsprachigkeit mindert gleichzeitig den Wettbewerb. Sie macht es für die Bürger schlecht funktionierender Staaten teuer, in andere Länder abzuwandern. Gleichzeitig erschwert sie das Lernen von anderen Staaten (und mindert die Chancen, dass beispielsweise dieser Artikel in Slowenien, Spanien oder Irland gelesen wird). Der Wettbewerb spielt deshalb vor allem innerhalb von Sprachräumen mit mehreren unabhängigen Ländern. Der intensive Wettbewerb zwischen den deutschsprachigen sowie zwischen den skandinavischen Ländern ist unseres Erachtens massgeblich am Erfolg dieser beiden Ländergruppen beteiligt. In Sprachräume mit nur einem Land wie etwa dem griechischen fällt es den Bürgern und Politikern hingegen viel schwerer, von positiven ausländischen Beispielen zu lernen.

Die grosse Vielfalt und Vielsprachigkeit innerhalb der EU hat bisher das Entstehen einer starken Zentralregierung verhindert. Dies bringt gewisse Nachteile, aber auch grosse Vorteile mit sich. Starke Zentralregierungen grosser Einheiten erliegen leicht einer Kontrollillusion, die sie glauben macht, sie könnten Übel wie Drogen und Terrorismus mit einer Strategie der harten Hand besiegen. Genauso erlaubt es erst die Zentralisierung der Fiskalkompetenzen in grossen Einheiten, die Kosten von Staatsschulden und sonstiger schlechter Politik auf die nächsten Generationen abzuwälzen. Wie wir anderenorts ausführlich zeigen, kapitalisieren sich die Schulden von kleinen staatlichen Einheiten mit mobilen Bürgern und mobilem Kapital in den dortigen Bodenpreisen aufgrund in Zukunft erwarteter höherer Steuern oder geringerer öffentlicher Leistungen, d.h. mit wachsenden Staatsschulden sinken die Bodenwerte.1 Die Last zusätzlicher Schulden tragen in kleinen Ländern deshalb nicht die zukünftigen Steuerzahler, sondern die heutigen Bodenbesitzer. In grossen Ländern hingegen können die zukünftigen Einwohner der Besteuerung auf zentraler Ebene schlechter ausweichen und tragen deshalb einen beträchtlichen Teil der Schuldenlast mit, weshalb die Landpreise weniger stark sinken. Die Finanzierung des Staates mittels Verschuldung ist deshalb vor allem für die heutigen Einwohner grosser Länder attraktiv, weil sie so einen Teil der Kosten auf zukünftige Generationen abwälzen können.

Schliesslich kann auch die Vielsprachigkeit eine wirkungsvolle Dezentralisierung behindern. In kleinen Sprachräumen gibt es oft nur einen einzigen Staat. In solchen Sprachräumen entwickelt sich leichter eine nationale Orientierung mit Überzentralisierung. Häufig ist die Zentralisierung auch historisch bedingt. Staaten, die ganze Sprachräume umfassen, sind oft in Einigungs- oder Unabhängigkeitskämpfen entstanden, die zumeist zu einer Überbetonung der nationalen Ebene führen. Auch dieser Mechanismus wird durch den wettbewerblichen deutschsprachigen und den skandinavischen Raum illustriert. Die Gemeindeautonomie ist in diesen beiden Ländergruppen deutlich höher als im Rest der EU, der aus Sprachräumen mit nur einem oder zwei Nationalstaaten besteht.

Vorteile von Zentralisierung und Dezentralisierung vereinen

Wie kann die EU vor diesen Hintergründen die eingangs erwähnten Ziele erreichen? Unabdingbar ist, dass sie Institutionen schafft und entstehen lässt, die die Vorteile von Zentralisierung und Dezentralisierung vereinen. Zum einen bedürfen Entscheidungsträger auf EU-Ebene wirkungsvoller Anreize, gute Lösungen für die EU insgesamt zu entwickeln. Zum anderen braucht es echte lokale Autonomie. Doch wie geht zusammen, was sich vordergründig zu widersprechen scheint? Wir präsentieren nachfolgend einen Katalog von konkreten Massnahmen, die uns geeignet scheinen, diese scheinbar widerstrebenden Kräfte positiv zu bündeln.

Stärkere zentrale Institutionen

Eine Stärkung der Union ist nur zu erreichen, wenn die wichtigsten Entscheidungen auf EU-Ebene von volksgewählten Entscheidungsträgern vorbereitet, getroffen und umgesetzt werden. Dazu sollte aber keinesfalls ein System wie in den USA mit einem einzelnen starken nationalen Entscheidungsträger, dem Präsidenten, eingeführt werden. Denn er würde den gleichen Kontrollillusionen und Machtverführungen wie manche US-Präsidenten zu erliegen drohen. Deshalb müsste er auch gleich wie sie durch vielerlei «checks and balances» kontrolliert werden, die allzu oft zu Politikblockaden führen. Die bessere Lösung besteht darin, dass die wichtigsten Entscheidungen durch mehrere Personen getroffen werden, die alle auf EU-Ebene in einem Wahlkreis im Majorzverfahren volksgewählt werden. Dieses Entscheidungsgremium hätte eine gewisse Verwandtschaft mit einem volksgewählten Bundesrat oder den heutigen Kantonsregierungen. Das Majorzverfahren führt dazu, dass die Politiker mehrheitsfähige Positionen vertreten müssen.2 Da kein einzelnes Land der EU mehr als 17 Prozent der Wähler stellt, könnten solche Politiker keine nationalen Positionen vertreten, sondern müssten möglichst in der ganzen EU Stimmen sammeln und damit möglichst eine für die Bürger aller Länder gute Politik verfolgen. Die Vielsprachigkeit steht Wahlen in einem gesamteuropäischen Wahlkreis keinesfalls entgegen. Weil kein Politiker alle Sprachen der EU beherrscht, würden sie den Wahlkampf nicht alleine, sondern mit Unterstützung von Spezialisten für die einzelnen Länder/Sprachen führen. Dank den sprachlichen Barrieren müssten Spitzenpolitiker weniger durch schöne Reden als durch konkrete Politik glänzen.

Die Stärkung der zentralen Institutionen müsste allerdings durch Mechanismen begleitet werden, die die mit ihnen einhergehenden Gefahren bannen. Hinsichtlich der Fiskalpolitik wären strikte Schuldenbremsen zu etablieren. Entscheide, die eine Zentralisierung von neuen Entscheidungskompetenzen bewirken, müssten dem Volk in bindenden Abstimmungen ohne Beteiligungsquoren vorgelegt werden. Daneben sollte das Volk auch auf EU-Ebene die Möglichkeit erhalten, die Politik und insbesondere die Institutionen aktiv durch Volksinitiativen mitzugestalten.

Echte Dezentralisierung

Die EU kommt nicht umhin, in den einzelnen Mitgliedsländern eine wirksame Dezentralisierung durchzusetzen, um Gemeinden und Regionen zu stärken. Die Gemeinden und Regionen bedürfen für die effiziente Bereitstellung von lokalen und regionalen öffentlichen Leistungen echter Besteuerungs- und Ausgabekompetenzen. Die Dezentralisierung muss dabei nicht symmetrisch sein, sondern kann asymme-trisch sein und einzelnen Gebietskörperschaften mehr Autonomie als anderen geben. Wenn alle Gebietskörperschaften das gleiche Ausmass an Autonomie haben müssen, droht die notwendige Dezentralisierung verschleppt zu werden, weil es immer einzelne Körperschaften gibt, die von der neu zu schaffenden Autonomie überfordert zu werden drohen. Illustrativ für den Erfolg asymmetrischer Dezentralisierung ist Spanien, das zahlreiche Kompetenzen in grösserem Ausmass dezentralisiert hat und wo die Regionen mit besonders grosser Autonomie – insbesondere das Baskenland oder Navarra – heute weit besser dastehen als die stärker von Madrid abhängigen Regionen.

Wirksamer politischer Wettbewerb auf allen Ebenen

In allen Bereichen der Politik – auf Ebene der EU, der Nationalstaaten, der Re­gionen und Gemeinden – sollte der politische Wettbewerb mit drei Massnahmen gestärkt werden.

1. Die Bürger müssen mehr Einfluss bekommen. Die gegen mehr direkte Demokratie regelmässig vorgebrachten Argumente sind hinfällig. Das zeigt nicht nur die wissenschaftliche Literatur zur direkten Demokratie. Illustrativ für die Chancen und Möglichkeiten der Stärkung der direkten Demokratie sind die deutschen Bundesländer Bayern sowie Hamburg, wo seit 1995 die direkte Demokratie auf lokaler Ebene mit grossem Erfolg massiv gestärkt wurde. Keine der Befürchtungen der Gegner von mehr direkter Demokratie hat sich dort bewahrheitet.

2. Zwischen der Regierung (oder Par­lamentsmehrheit) und konkurrierenden Entscheidungsgremien muss Wettbewerb geschaffen werden. Dafür sind im Majorzverfahren volksgewählte Kritik- und Kon-trollgremien nötig, die alle Vorschläge der Regierungen kritisieren und kontrollieren können und im Parlament oder noch besser direkt dem Volk konkrete Alternativvorschläge vorlegen können. Solche Kritik- und Kontrollgremien existieren in jeder Schweizer Gemeinde mit Gemeindeversammlung in der Form von Rechnungsprüfungs- oder Geschäftsprüfungskommissionen. Sie können nicht nur – wie etwa der deutsche Bundesrechnungshof oder der EU-Rechnungshof – vor allem die gesetzestreue Mittelverwendung prüfen und im nachhinein über die Politik schimpfen, sondern im vornhinein – also vor den Entscheidungen – die Politikalternativen evaluieren und kritisieren. Unsere Forschung dazu zeigt, dass starke Rechnungsprüfungskommissionen einen äusserst fruchtbaren Einfluss auf die Qualität der Finanzpolitik haben.3 Diese Gremien haben auch ganz andere Anreize als Oppositionsparteien. Während letztere selbst an die Regierungsmacht wollen und deshalb immer versuchen, die Politik der Regierung möglichst zu torpedieren und zu blockieren, wollen die Mitglieder von Rechnungsprüfungskommissionen zumeist als Kommissionsmitglied wiedergewählt werden. Deshalb erarbeiten sie konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Regierungspolitik.

3. Der repräsentativ-demokratische Wettbewerb muss gestärkt werden. Dafür sollte ein «Markt für gute Politik» geschaffen werden, in dem die Wohnsitzvorschriften für Kandidaten bei Wahlen aufgehoben werden. Heute dürfen in fast allen Ländern für die politischen Ämter auf lokaler und regionaler Ebene nur Politiker kandidieren, die in der betreffenden Gebietskörperschaft Wohnsitz haben – die grosse Ausnahme sind Bürgermeister in Deutschland und insbesondere Baden-Württemberg. Durch diese Vorschrift werden die lokalen Politiker vor Wettbewerb von auswärtigen geschützt und ihre Anreize geschwächt, eine gute Politik zu betreiben.4 Solange Politiker nicht leicht in andere Gebietskörperschaften wechseln können, haben sie Anreize, eine Politik zu betreiben, die eher ihren eigenen Zielen dient. Sie werden also möglichst das Budget erhöhen, die Steuern nicht senken, keine direkte Demokratie einführen und keine Aufgaben dezentralisieren. Wenn Politiker hingegen in andere Gebietskörperschaften wechseln können, erhalten sie bessere Anreize, eine Politik zu betreiben, die der Bevölkerung nützt. Denn dank ihrer erworbenen Reputation aus kleineren Gemeinden oder Regionen können sie in andere, grössere Gebietskörperschaften wechseln und leiden dann nicht mehr unter ihren bürgerfreundlichen, aber «politikerfeindlichen» Reformen.

Wettbewerb zwischen EU und Alternativen stärken

Der Wettbewerb mit den nichteuropäischen EU-Ländern setzt Anreize, die die Entscheidungsträger auf EU-Ebene dazu anspornen, eine bürgerorientierte Politik zu betreiben. Die EU und ihre Mitgliedsländer profitieren auf vielfältige Weise von den Aussenseitern: Diese können oft leichter mit neuen Konzepten experimentieren, was Lernmöglichkeiten eröffnet. So haben schon viele Politikideen aus der Schweiz, wie die Einführung von Schuldenbremsen, ihren Weg in EU-Länder gefunden. Die EU sollte deshalb Aussenseiter nicht diskriminieren, sondern fördern.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass auch der Austritt aus der EU möglich ist. Oft können Konflikte viel besser gelöst werden, wenn ein Austritt wenigstens denkbar ist. Eine Austrittsdrohung ist ein wichtiges Instrument zur Verhinderung von Entscheidungen, die einzelnen Ländern grosse Kosten auferlegen. Damit ein Austritt aus der EU ohne grosse Kosten möglich ist, ist es nötig, potentiellen Aussteigern konkrete Alternativen anzubieten. So könnte jedem bestehenden EU-Mitglied garantiert werden, dass es auf Antrag in den EWR übertreten kann oder bei einem Austritt automatisch gewisse neue vertragliche Bindungen mit der EU wie etwa Freihandelsabkommen eingehen kann.

Einheitlichere Ergebnisse und Wohlstand

Gute Politik entsteht durch gute Institutionen. Diesbezüglich besteht auf allen Ebenen Europas Handlungsbedarf. Dabei sollte die EU keinesfalls die Institutionen der USA als Vorbild nehmen. Denn mit den Institutionen der USA wären auch die Leiden der USA verbunden. Vielmehr braucht die EU eine neue raffinierte Mischung aus einer Stärkung der zentralen Entscheidungsträger bei gleichzeitiger massiver Dezentralisierung mit echter lokaler Autonomie. Uns schwebt ein flexibler politischer Raum vor, in dem «best practice»-Institutionen etabliert werden und in dem die Regionen ihre eigenen Institutionen weiterentwickeln können. Insbesondere derzeit schlecht dastehende Länder könnten durch Dezentralisierung viel gewinnen und von erfolgreichen Beispielen lernen. Dies würde über längere Sicht zu einheitlicheren Ergebnissen und Wohlstand führen, da jeweils die erfolgreichen Beispiele übernommen würden. Unterschiede zwischen den Regionen innerhalb der EU würden dadurch verkleinert und die bestehenden Zentrifugalkräfte würden eingedämmt.

Gleichzeitig kann eine sorgfältige Machtteilung und direkte Volkswahl der Entscheidungsträger auf EU-Ebene verhindern, dass sich die EU wie andere «Weltmächte» gebärdet. Wird parallel dazu der politische Wettbewerb auf allen Ebenen gestärkt, schafft dies für die Entscheidungsträger Anreize, eine Politik im Sinne der Bürger zu betreiben und die politischen Institutionen im diskutierten Sinne weiterzuentwickeln.

 


 

1 Reiner Eichenberger und David Stadelmann: Wenn Staatsschulden nicht auf die Zukunft überwälzbar sind. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.1.2013, S. 28 (verfügbar auch auf www.oekonomenstimme.org). Reiner Eichenberger und David Stadelmann: How Federalism Protects Future Generations from Today’s Public Debts. In: Review of Law & Economics 6 (3), Dezember 2010, S. 395–420.
2 David Stadelmann, Marco Portmann und Reiner Eichenberger: Preference Representation and the Influence of Political Parties in Majoritarian vs. Proportional Systems: An Almost Ideal Empirical Test. CREMA Working Paper Series, WP 2012-03, Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA), 2012.
3 Mark Schelker und Reiner Eichenberger: Auditors and fiscal policy: Empirical evidence on a little big institution. In: Journal of Comparative Economics 38 (4), Dezember 2010, S. 357–380.
4 Reiner Eichenberger und Michael Funk: The deregulation of the political process. Towards and international market for good politics. In: Geoffrey Brennan und Giuseppe Eusepi (Hg.): The Economics of Ethics and the Ethics of Economics. Values, Markets, and the State. Cheltenham: Edward Elgar, 2009. Reiner Eichenberger und Michael Funk: Wider den politischen Heimatschutz. In: Schweizer Monat 993,
Februar 2012, S. 22–25.

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