So findet Economiesuisse wieder zum Erfolg zurück
Nach der Abstimmung über die 13. AHV-Rente herrscht beim Wirtschaftsdachverband Katzenjammer. Seine Schlagkraft ist aber nach wie vor hoch – wenn er sie richtig einsetzt.
Im Nachgang zur Niederlage von Economiesuisse und den bürgerlichen Parteien in der Volksabstimmung über die 13. AHV-Rente musste der Verband viel Kritik einstecken. Kann Economiesuisse zum Erfolg zurückfinden?
Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit der Erfolgsbilanz von Wirtschafts- und Unternehmensverbänden in Volksabstimmungen befasst: sowohl mit der Niederlage des britischen Wirtschaftsverbandes CBI in der Brexit- Abstimmung von 2016 als auch mit der Performance von Economiesuisse.1 Trotz der jüngsten Niederlage kann der Verband eine beeindruckende Erfolgsbilanz vorweisen. 90 Prozent der Referenden und Volksabstimmungen, die er im Zeitraum von 2000 bis 2022 anführte, gewann er. Auf Grundlage meiner Forschung möchte ich in diesem Beitrag zeigen, wie Economiesuisse diese Erfolge erzielen konnte, mit welchen Herausforderungen der Verband konfrontiert ist und wie er wieder zum Erfolg zurückfinden kann.
Kampagnen nach Handbuch
Der Erfolg in Abstimmungskampagnen beruht auf vielen unterschiedlichen Faktoren. Abstimmungskampagnen sind ressourcenintensiv, aber obwohl ausreichende finanzielle Mittel notwendig sind, sind sie doch keine hinreichende Bedingung für den Erfolg. In den Worten von Oliver Steimann, der bis 2023 Newsroom- und Kampagnenleiter bei Economiesuisse war:
«Mit viel Geld allein ist es unmöglich, eine Abstimmung zu gewinnen. Bei der Abzockerabstimmung hatten wir sehr viel Geld und konnten damit praktisch nichts bewirken. Eine gute Strategie ist wichtig – aber wenn man kein Geld hat, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, nützt sie auch nicht sehr viel. Trotzdem kann man mit einer sehr guten Strategie, wenn man sie früh ausarbeitet und mit engagierten Menschen umsetzt, enorm viel bewirken.»
In Bezug auf die Abstimmungskampagnen verfolgte Economiesuisse sehr lange unverändert die gleiche Strategie. Es gab ein 200 Seiten dickes Handbuch, in dem alles festgelegt war. Weil die Erfolgsquote sehr hoch war, wurde diese Routine nicht hinterfragt – bis es zur Zäsur kam. 2013 verlor Economiesuisse nach einer sehr teuren Kampagne die Abstimmung über die Abzockerinitiative. Claude Longchamp sprach in diesem Zusammenhang sogar vom «Todesstoss» für Economiesuisse.
Doch der Abgesang erwies sich als verfrüht. Economiesuisse hat (ebenso wie seine Vorgängerorganisationen Vorort und Wirtschaftsförderung) immer wieder aus Niederlagen gelernt – zum Beispiel aus jenen in der Abstimmung über den EWR 1992, über die Abzockerinitiative 2013 sowie die Masseneinwanderungsinitiative 2014 – und sich neu aufgestellt. Der ehemalige stv. Direktor von Economiesuisse, Urs Rellstab, sagt dazu: «Man lernt aus Niederlagen am meisten.»2 Es folgte eine Transformationsphase, deren Resultat die 2015 lancierte europapolitische Allianz «Stark + vernetzt» war.
«Economiesuisse hat immer wieder aus Niederlagen gelernt –
zum Beispiel aus jenen in der Abstimmung über den EWR 1992, über die Abzockerinitiative 2013 sowie die Masseneinwanderungsinitiative 2014 – und sich neu aufgestellt.»
Neues Erfolgsrezept
«Stark + vernetzt» ist ein Netzwerk von über 90 Organisationen, aber vor allem ein Verbund und eine Plattform für Organisationen und Firmen, die sich gemeinsam für die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU einsetzen. Die Allianz führt jeweils parallele, aber hinter den Kulissen gut koordinierte Abstimmungskampagnen für unterschiedlichste Zielgruppen. Sie arbeitet mit flachen Hierarchien und pflegt einen offenen Austausch zwischen Akteuren aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft und NGOs. Der Allianz liegt die Einsicht zugrunde, dass wirtschaftliche Argumente und Botschaften oft nicht ausreichen, um das Stimmvolk zu überzeugen. «Stark + vernetzt» hat nach Einschätzung des Verfassers wesentlich zum Erfolg von Economiesuisse bei europapolitischen Abstimmungen beigetragen, wie die Abbildung zeigt.
Seit der Masseneinwanderungsinitiative 2014 hat Economiesuisse mit der Kampagne «Stark + vernetzt» alle europapolitischen Abstimmungen deutlich gewonnen, mit teilweise grösseren Mehrheiten als in den 2000er-Jahren. Der Fokus der Kampagne auf ein emotionales Narrativ und auf Identitäten zahlt sich für die Wirtschaft aus. «Stark + vernetzt» verdeutlicht die Innovations- und Lernfähigkeit sowie Experimentierfreudigkeit von Economiesuisse, was ganz wesentlich zum Erfolg in Abstimmungskampagnen beigetragen hat. Für Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl ist klar: «Wir sind eine lernende Organisation.»3 Oliver Steimann sagt:
«Eine Erkenntnis, die sich bei mir durchgesetzt hat: Man darf sich nie ausruhen. Wenn etwas funktioniert hat, gibt es keine Garantie, dass es wieder funktioniert. Man muss jede Kampagne neu erfinden, man muss immer Neues ausprobieren. Die Welt entwickelt sich so schnell – wenn man einmal stehen bleibt, dann hat man verloren.»
Lärm schadet
In der heutigen Welt gibt es zahlreiche Brandherde, Kriege und Krisen; auch die schweizerische Politik und Gesellschaft wird fragmentierter, polarisierter und gespaltener. Der gesellschaftliche Diskurs wird zunehmend lauter, was eine Herausforderung für Economiesuisse darstellt, denn meine Forschung zeigt: Mit einer hohen Medienresonanz sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Economiesuisse eine Volksabstimmung oder ein Referendum gewinnt. Und genau das war laut Linards Udris von der Universität Zürich beim Urnengang zur 13. AHV-Rente der Fall.4
«Mit einer hohen Medienresonanz sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Economiesuisse eine Volksabstimmung oder ein Referendum gewinnt.»
Meines Erachtens hat diese hohe Medienresonanz zur Niederlage von Economiesuisse beigetragen. Der Wirtschaftsdachverband muss neue Wege finden, um innerhalb dieses Lärms erfolgreich sein zu können, wenn er den neuen Verträgen mit der EU zum Erfolg verhelfen will gegen den Widerstand der SVP. Das Framing der Nachhaltigkeitsinitiative als Kündigungsinitiative ist vielversprechend. Aber die SVP vertritt eine harte Rhetorik und Zuwanderung ist ein sensibles Thema. Der Diskurs wird mit Sicherheit sehr laut. Economiesuisse und «Stark + vernetzt» sollten laut Operation-Libero-Geschäftsführerin Isa Gerber «mutig, fordernd und laut für eine Lösung der aktuellen Situation einstehen».5 Auch eine Beweglichkeit innerhalb der Kommunikation sowie Kampagnenführung ist sehr wichtig, um die Schlagkraft von «Stark + vernetzt» zu erhöhen. Economiesuisse muss offen sein für neue Kampagnenansätze und neue, kreative Partnerschaften. Das Kampagnenteam muss genügend Freiheiten erhalten.
Nicht zu brav
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Nach Niederlagen wird immer wieder vom Niedergang der Economiesuisse gesprochen. Die Rhetorik und Behauptungen, dass Economiesuisse «nichts mehr zu sagen hat», sollte man nicht zu ernst nehmen. Trotz ihrer Erfolgsbilanz steht Economiesuisse vor grossen Herausforderungen. Economiesuisse muss es schaffen, die bestehenden, breiten Allianzen wie beispielsweise «Stark + vernetzt» aufrechtzuerhalten und gleichzeitig neue Akteure zu finden. Economiesuisse braucht Leute mit Mut, die sich proaktiv und stärker engagieren. Economiesuisse brauche mehr Menschen, die in der Öffentlichkeit auftreten wollen, wie FDP-Nationalrat und Unternehmer Simon Michel, betont Raphaël Bez, Generalsekretär der Europäischen Bewegung Schweiz.6 Um erfolgreich zu sein und viel Wirkung zu entfalten, muss die Economiesuisse-Kampagne «Wirtschaft. Wir alle» eine sehr gute Social-Media-Präsenz zeigen, «viral» und attraktiv sein. «Stark + vernetzt» muss sich die Freiheit nehmen, noch stärker Stellung zu beziehen und Positionen zu vertreten, die mehrheitsfähig sind – ein schwieriger Spagat.
Economiesuisse braucht schlagkräftige und nicht zu brave Kampagnen. «Es braucht [auch] Fantasie, um ohne ideologische Scheuklappen und Berührungsängste erfolgreiche Kampagnen zu führen», sagt Thomas Haemmerli, der bei verschiedenen Abstimmungen zu den Bilateralen mit Economiesuisse zusammenarbeitete.7 Ausserdem ist es im Hinblick auf die kommende Abstimmung zu den neuen Verträgen für den Erfolg entscheidend,
«dass Economiesuisse ‹Stark + vernetzt› mit ausreichend Ressourcen ausstattet und die Allianz nochmals weit über die Wirtschaft hinaus verbreitert. Und im Gegensatz zum Verhalten beim gescheiterten Rahmenabkommen muss sich die oberste Führungsriege in den entscheidenden Momenten ohne Wenn und Aber, auch gegen interne und externe Widerstände, zu einem Ja zum bilateralen Weg bekennen.»8
Ein Blick ins Ausland verdeutlicht den Erfolg von Economiesuisse: Vor der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 gab es Gespräche sowie einen Austausch zwischen dem Economiesuisse-Kampagnenteam und der britischen Schwesterorganisation CBI. Economiesuisse hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die «Stark + vernetzt»-Allianz auf die Beine gestellt und Erfahrungen mit «Community Campaigning» gesammelt. Ein solcher Kampagnenansatz hätte möglicherweise der «Remain»-Seite in Grossbritannien zum Sieg verholfen, aber die CBI-Führung lehnte eine Anwendung dieser Kampagnenstrategien ab.9
Economiesuisse muss noch mehr tun, um innovative, schlagkräftige und nicht zu brave Kampagnen zu entwerfen, die online und offline gehört werden: um Kompromisse zu finden, die den Bedürfnissen der Bevölkerung und der Arbeitnehmer entgegenkommen, und auch um kleinere Kampagnen zu entwickeln, die zielgruppenspezifischer sind. Vor der Abstimmung über die 13. AHV-Rente hätte man zwei unterschiedliche Teilkampagnen führen können: sowohl eine auf die ländliche, konservativere Bevölkerung zugeschnittene Kampagne mit Absendern wie SVP, Bauernverband und Gewerbeverband wie auch eine andere, progressivere Kampagne mit starkem Fokus auf Generationengerechtigkeit und jungen Absendern aus der Wirtschaft und FDP, Mitte und GLP, die mehr auf die Mitte der Gesellschaft und die grossen Agglomerationen abzielt.10 Economiesuisse ist nicht der achte Bundesrat, aber mit grossen Anstrengungen, etwas Beweglichkeit und Offenheit für neue Lösungen könnte der Verband wieder zum Erfolg zurückfinden.
Daniel Kinderman: Business Power, Right-Wing Populism, and Noisy Politics: Lessons from Brexit and Swiss Referendums. In: Socio-Economic Review, 14. November 2023, https://doi.org/10.1093/ser/mwad061 ↩
Interview des Verfassers mit Urs Rellstab am 28. September 2021. ↩
Interview des Verfassers mit Monika Rühl am 5. April 2024. ↩
Persönliche Mitteilung von Linards Udris am 6. März 2024. ↩
Interview des Verfassers mit Isa Gerber am 27. März 2024. ↩
Interview des Verfassers mit Raphaël Bez am 10. April 2024. ↩
Persönliche Mitteilung von Thomas Haemmerli vom 6. Mai 2024. ↩
Dieser Hinweis bekam der Verfasser von einem ehemaligen Kampagnenleiter der Wirtschaftsverbände. ↩
Es gab auch andere Gründe, warum dieser Ansatz nicht ausprobiert wurde, die in meinem Socio-Economic Review-Artikel erläutert werden. ↩
Dieser Hinweis bekam der Verfasser von einem ehemaligen Kampagnenleiter der Wirtschaftsverbände. ↩