Sinnlicher, engagierter und besser
Nicht nur die Schweizer Wirtschaft profitiert von hochqualifizierten Einwanderern, sondern auch die Literatur. Margrit Zinggeler erklärt, wie man dank ihnen Chur riechen, die Kindheit schmecken, die Liebe ertasten – und mit der Sprache eine völlig neue Heimat erobern kann.
Pianistin Rahel Senn und Model Xenia Tchoumitcheva sind Kolumnistinnen dieses Magazins. Erstere hat einen Schweizer Vater und eine Mutter aus Singapur und sie berichtet über ihre transkulturellen Erfahrungen als Schweizerin auf der ganzen Welt. Xenia Tchoumitcheva macht es ganz ähnlich und beweist gemäss nomen est omen, wie sie als «Fremde» eine Schweizer Staatsbürgerin und erfolgreiche Kosmopolitin mit verschiedenen Sprachen und «Heimaten» wurde. Die beiden sind keine Einzelfälle: Viele Autoren dieses Magazins, darunter auch viele regelmässige, stammen ursprünglich nicht aus der Schweiz, sondern aus der ganzen Welt. Einige von ihnen leben heute zwischen Schaffhausen und Chiasso, und nicht wenige von ihnen sind – wie Xenia Tchoumitcheva – sogenannte «Secondas/Secondos»: sie gehören der zweiten Generation von Einwanderern an. Der «Monat» bietet für meine Arbeit als Literaturwissenschafterin mit dem Fokus auf sogenannte «Migrationsliteratur» folglich hervorragendes Anschauungsmaterial.
Während noch im letzten Jahrhundert Begriffe wie Arbeiter-, Ausländer- und Fremdenliteratur gebraucht wurden, um Einwanderergeschichten zu klassifizieren (und der Begriff «Secondos» mehrheitlich abwertend die italienischen und spanischen Gastarbeiter bezeichnete), spricht man heute neutraler von Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund. Im Jahre 2009 hatte Ilma Rakusa (geboren in Rimavská Sobota, Slowakei) den ersten Schweizer Buchpreis für den Band «Mehr Meer: Erinnerungspassagen» erhalten; ein Jahr später wurde Melinda Nadj Abonji (geboren in Bečej, Serbien) für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen und gleich noch mit dem Schweizer Buchpreis geehrt. Im Herbst 2011 wurde dieser an Catalin Dorian Florescu (geboren in Timișoara, Rumänien) für «Jacob beschliesst zu lieben» überreicht. Diese drei buchstäblich ausgezeichneten Schriftsteller kamen als Kinder in die Schweiz, wie viele weitere aus der Literaturlandschaft des Landes kaum mehr wegzudenkende Autoren. Bekannt wurden auch Zsu-zsanna Gahse, Dragica Rajĉeć, Irena Brežná, Erica Pedretti und Amor Ben Hamida. Letzterer wurde 1958 in Tunesien geboren und kam als 5jähriger in die Schweiz, genauer: ins Pestalozzi-Kinderdorf. Heute schreibt er ganz spezifisch über die Integration von Menschen aus muslimischen Gesellschaften. Eine beträchtliche Anzahl von literarisch versierten Secondas und Secondos (z.B. Franco Supino, Francesco Micieli, Perikles Monioudis, Vinzenzo Todisco, Giuseppe Garcia, Sunil Mann) und solche mit einem Schweizer und einem ausländischen Elternteil (z.B. Martin R. Dean, Silvano Cerutti, Dante Andrea Franzetti, Sabine Wen-Ching Wang, Yangzom Brauen) tun es ihm gleich – und verändern die Literatur in der deutschsprachigen Schweiz mit ihren transkulturellen Erzählungen und Romanen. Ihre Literatur überschreitet Grenzen innerhalb der Grenzen und begeht dabei Wege, die unser multikulturelles und multilinguales Land zu einer globalen Literatur führen.1 Die Texte dieser transkulturellen Autorinnen und Autoren erweitern nämlich nicht nur den Horizont, sie fügen unserer journalistischen und literarischen Kultur inhaltliche wie stilistische Nuancen hinzu, die zwar mit herkömmlichen Mitteln schwer messbar, aber ebenso unschätzbar wertvoll sind. Es ist heute unbestritten, dass die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten zur Qualitätssteigerung unserer Literatur beigetragen hat – wie das aber genau geschieht, wird weiterhin untersucht. Schauen wir also einmal genauer hin.
Wir können, wie oben bereits getan, die These aufstellen, dass Migrationserfahrungen die Erzählkunst und Sprachkreativität positiv beeinflussen oder sogar auslösen. Erwiesen ist: ein Migrationshintergrund und das Aufwachsen zwischen zwei oder gar mehreren Kulturen beeinflussen die Identitätsbildung auf mehrschichtigen Ebenen oder innerhalb ständig oszillierender Kreise: der Kreis der elterlichen Kultur, der Kreis der Schule und Arbeit sowie der Kreis der Freunde und des sozialen Netzwerks. Martin Ebel sprach diesbezüglich von einem «Secondo-Faktor» in seiner Rezension von «Tauben fliegen auf» («Tages-Anzeiger», 6. Oktober 2010). Meine Untersuchungen von Schweizer Autorinnen und Autoren der zweiten Generation2 (in der amerikanischen Soziologie nach Ellis und Goodwin-White sowie Alejandro Portes «G2» bzw. «G1.5» bei Einwanderung im Kindesalter genannt) und von solchen mit einer hybriden Sozialisation (ein Elternteil ist Ausländer) zeigen, wie sie im sogenannten «Secondo-Space» ständig Wahrnehmungen der elterlichen und der multikulturellen, schweizerischen Kulturräume und Sprachen ausgesetzt sind. Dieser «Secondo-Space», eine Art innerkulturelles Habitat, wird oft als eine Konfliktzone wahrgenommen, die sich auf der Suche nach Identität in ergreifenden sprachlichen und ästhetischen Narrativen äussern kann. Wenn Secondos die Geschichte ihrer Eltern oder ihre eigene erzählen – besonders wenn sie diskriminierend und schmerzlich war –, werden sie nicht mehr von dieser ihrer Geschichte – negativ – beherrscht. Durch ihre kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Identitätsbildung kann sich das Verhältnis sogar umkehren. Als Paradebeispiel können wir Melinda Nadj Abonjis «Tauben fliegen auf» oder die Werke von Franco Supino und Francesco Micieli aufführen, die ganz bewusst die elterlichen und eigenen Migrationsgeschichten fiktiv (wieder)erzählen und verarbeiten.
Eine ungeheure Bereicherung im «Humankapital» dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist dabei die Mehrsprachigkeit, und zwar nicht wegen des multilingualen Nebeneinanders von vier Nationalsprachen und der lingua franca Englisch in der Schweiz, sondern weil die Mutter- und Vatersprache der Secondas und Secondos im Spannungsfeld mit der Umgebungs- und Schulsprache, die ja wiederum im Deutschschweizer Raum zweigeteilt ist, zum erweiterten Experimentieren mit Sprache direkt veranlasst. Richtig: Mit der Diglossie von Dialekt und Schriftsprache setzt sich wohl jeder Deutschschweizer auseinander. Aber das sprachliche Kulturerbe der Einwanderer ist ein riesiges, verinnerlichtes, geschenktes Kapital im «Secondo-Raum», das sich zu einer fast magischen Sprach- und Erzählkraft entwickeln kann. Diese Sprachbereicherung kann als eine Art kognitives Kapital verstanden werden, das sich unwillkürlich in Flexibilität und Kreativität umsetzt. Die Schriftsteller unter den Secondas und Secondos erleben intensiv, dass Sprache Kultur ist, und sie nehmen Kultur als Sprache wahr, was ihr ganz besonderes Humankapital darstellt.
Bewusst oder unbewusst machen sich auch viele schweizerische Autorinnen und Autoren die Erfahrung des Fremden zunutze, indem sie sich für einige Zeit (u.a. Adolf Muschg, Milena Moser, Rolf Lappert, Hansjörg Schertenleib, Martin Suter) oder gar dauerhaft im Ausland ansiedeln (so etwa Paul Nizon, Gabrielle Alioth, Verena Stefan, Christian Kracht) oder regelmässig intensive Reisen unternehmen, um damit ihre Narrationsfähigkeiten anzukurbeln. Das Phänomen ist kein neues, kennzeichnet aber die allermeisten «Grossen» der Schweizer Literatur. Schon Gottfried Keller, dann Max Frisch, vor allem aber Hugo Loetscher, Alex Capus und auch die beiden Peter (Bichsel und Weber) profitierten vom Reisen. Dante Andrea Franzetti erklärt diese Muse in «Mit den Frauen» folgendermassen: «Der Ort, an dem ich mich befinde, beeinflusst meine Gedanken und mein Gefühl für das Geschriebene.» Dies gilt im besonderen für diejenigen, die eine neue Heimat erfassen müssen: ihre Sinne sind scharf, ihr Interesse gilt anderen Phänomenen als das Interesse der Einheimischen, die ihre Welt ohnehin «gewohnt» sind.
Die Wahrnehmungen der Sinne sind im «Secondo-Space» doppelt intensiviert, da sich die verschiedenen sozialen Beziehungssysteme der elterlichen Einwandererkultur und -sprache im Sozialisierungsnetz des Individuums verfangen. Schreibende mit Migrationshintergrund erfassen dieses Phänomen in ihren Erzählungen – und ein genaues Lesen ihrer Texte bestätigt, dass die Sinne, die im transkulturellen Raum (ähnlich dem «Third Space» in «The Location of Culture» von Homi K. Bhabha) sensibilisiert wurden, die entstehenden Narrative thematisch ausfüllen und auch strukturell anregen: Menschen, die zuziehen, fühlen Orte und sehen in Bildern, sie hören die Stimmen der Vorfahren aus dem anderen Land, sie riechen die Liebe und die Abneigungen, sie schmecken die elterliche und doch fremde Ess- und Trinkkultur, und Hände und Füsse tasten sogar anders.
Wir können neben den fünf Sinnen gemäss Aristoteles einen sechsten hinzufügen, nämlich das Sichbewegen oder die Bewegungen im «Secondo-Space»: das ständige Hin und Her zwischen den Kulturen beeinflusst die Identitätsentwicklung dynamisch. Das Experimentieren mit den Sprachen, Bewegungen im Raum und in der Zeit, die körperlichen und geistigen Erinnerungen, die gehörte Migrationsgeschichte der Eltern und der Vorfahren im Spiel mit den eigenen komplexen Sinneswahrnehmungen im schweizerischen Alltag – all das sind integrale Bestandteile in Texten dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Kultur in der Nase
Der Geruchssinn nimmt eine besondere Stellung in den Narrativen der Migrationsliteratur ein. Gerüche sind soziokulturell verankert und wirken als die stärksten Erinnerungskatalysatoren. «Das Vergessen», sagt Ilma Rakusa, «macht um den Geruch einen Bogen» («Mehr Meer»). Francesco Micieli «riecht» deshalb «seinen Vater», und er beschreibt minutiös die Küchengerüche im italienischen Arbeitermilieu. Auch Sunil Mann beschreibt die Currygerüche in der Küche seiner indischen Mutter, und immer wenn sein Detektiv in «Fangschuss» in ein Haus tritt, kommt er nicht umhin, zu beschreiben, was dort erschnuppert werden kann. Distinktive, kulturelle Gerüche aus Südosteuropa beschreibt auch Catalin Dorian Florescu in seinen Werken, zwischenzeitlich erinnern die sinnlichen Passagen gar an den wohl synästhetisch stärksten Romanbeginn der Literaturgeschichte, an Patrick Süskinds «Das Parfum». Auch Pablo, der Protagonist in Vincenzo Todiscos «Der Bandoneonspieler», riecht die Bewegungen der Tangotänzer und er «liebte sofort den Geruch des Mittelalters» in Chur, der Stadt, die seine Heimat wird und ihn immer wieder zurückholt. Haben Sie in Chur schon einmal das Mittelalter gerochen? Nein? Beim nächsten Mal sollten sie genauer «hinriechen».
Die Erzählerin in Melinda Nadj Abonjis «Tauben fliegen auf» beschreibt den Geruch ihrer ersten Liebe, Dalibor aus Serbien. Aber auch das schrecklichste Diskriminierungserlebnis, das sie in der Cafeteria ihrer aus Bečej stammenden Eltern erlebt, ist – hier die Kehrseite – verbunden mit Geruch, genauer: mit dem Gestank an die Spiegel geschmierter Fäkalien. Laut der Autorin war es dieses autobiographische Schlüsselerlebnis, das sie zum Schreiben des preisgekrönten Romans veranlasste. Sie ist kein Einzelfall: Dante Andrea Franzetti erinnert ebenfalls schmerzliche Begebenheiten seiner Kindheit durch den Geruch – den seiner verhassten Schule in Kloten. Kontrastiert werden sie von den angenehmen Düften bei seinen Grosseltern in Italien – und später von denen der Frauen. Giuseppe Garcias Roman «Kippzustand» ist durchtränkt vom Gestank in der fiktiven Schweizer Stadt Furtnau (wohl verwandt mit Güllen in «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt), verursacht durch Betrug und den Zerfall aller einheimischen wie auch Gastarbeiter-Werte, die den Secondo-Protagonisten zu Mordabsichten veranlassen. Bewusst oder unbewusst schreiben Secondas und Secondos von transkulturellen Erlebnissen via Geruchssinn, der Bilder wachruft oder erzeugt. Riechen ist die scharfsinnigste Empfindung des Erinnerns gemäss dem kanadischen Anthropologen David Howes, der soziokulturelle Theorien der Sinne aufgrund von empirischen Studien entwarf: «If one has grown up in a society in which the sense of smell is valued or trained, one cannot hope to suddenly be able to perceive all the complex olfactory nuances of another societal environment.»3 Deswegen sind Gerüche oft ambivalent und besonders intensiv in den Integrationsgeschichten beschrieben.
Kultur über den Magen
Der Geschmackssinn ist der mit dem Geruchssinn am innigsten verbundene. Die Ess- und Trinkkultur verschiedener geographischer Regionen und dort ansässiger ethnischer Gruppen spielt deshalb die zweite Hauptrolle in den Sinnbeschreibungen der Migrationsliteraten.
Jedes Land, jede Region hat eigene Nahrungsmittel und Gewürze sowie Kochtraditionen, worüber es unzählige (Koch-)Bücher gibt. Aber die Wahrnehmungen des Geschmackssinns eindrücklich zu beschreiben, das ist eine besondere Kunst. Wohl weil Sprache im Mundraum artikuliert wird, wo auch der Geschmackssinn angesiedelt ist, «schmeckt» die italienische Muttersprache für Francesco Micieli «anders». Mit dieser Beschreibung sagt er mehr, als ihm vielleicht bewusst ist: Im Deutschen gibt es vier grundlegende Kategorien, den Geschmackssinn zu beschreiben (süss, salzig, bitter, sauer), aber im Japanischen sind es derer schon fünf, und andere Kulturen haben sieben oder auch nur deren drei. Ich möchte behaupten, dass die Schweizer Autoren mit Migrationskultur mindestens derer acht besitzen! Vier von der elterlichen Esskultur und weitere vier Geschmackskategorien, die durch die Schweizer Sozialisation internalisiert werden.
So wird in vielen Texten nicht nur die elterliche und grosselterliche, sondern auch die schweizerische Esskultur intensiv beschrieben und ebenso, wie diese im übertragenen Sinn «schmeckt», d.h. sich soziokulturell als Wertsystem entwickelt. Die italienischen Gastarbeiter in Micielis Lützelflüh machen deshalb auch die ersten Annäherungsversuche zu den Schweizer Nachbarn mit pasta, polpettine, calamari, lesso di manzo. Lange geschieht nichts, doch dann bringen die Nachbarn «Bärner Platte, Suure Mocke, Härdöpfustock und Öpfuchüechli», und an Weihnachten sogar einen Braten; Fleisch, das nach ihrer italienischen Sitte am Heiligen Abend verboten war! An solch denkwürdigem Abend war aber die Gastfreundschaft heiliger. «Das Gastmahl als Wunder des Fleisches und des Geistes, eine Brüderlichkeit der Gäste. In diesem Augenblick werden die Unterschiede vergessen. Die Unterschiede zwischen dem Fremden und dem Gastgeber.»
Kultur im Ohr
«Leute, die Stimmen hören, landen früher oder später im Irrenhaus», so der erste Satz in Vincenzo Todiscos Roman «Der Bandoneonspieler». Oder sie beginnen zu schreiben und geben den Stimmen der Vorfahren aus dem fremden Land eine Geschichte, die sich mit der eigenen verbindet. «Da sind die Stimmen, ständig sehne ich mich nach meiner eigenen Geschichte, nach etwas, das mir gehört», fährt sein Protagonist Pablo fort. Sein Grossvater war ein Tangospieler in Argentinien, und als Pablo zum ersten Mal den Tango hört, ergreift der hinreissende Rhythmus der Klänge seinen Körper: «Die Stimmen drangen in mich ein und zogen mich in einen Strudel, der alles vernichtete, was ich bisher gewesen bin.» Diese Sätze können stellvertretend für viele Erzähler mit Migrationshintergrund stehen, die ihre akustischen Sinneserlebnisse in Bilder umwandeln. Sie sehen die Personen und Orte ihrer kulturellen Herkunft, und so bilden sich die Geschichten in einer geistigen Visualisation, die dann ihrerseits in Worte gefasst und beschrieben werden muss. Gewohnte Stimmen, Musik, Geräusche evozieren die Imagination und damit einhergehend lässt sich auch die schweizerische Umgebung mit schärferen Augen «hören». Dieser «fremde Blick» mit den Ohren, ein Faszinosum, das auch Touristen an fremden Orten kennen und schätzen, findet sich in bezug auf die Schweiz synästhetisch aufbereitet in beinahe allen Literaturen der Zugezogenen.
Kultur in der Hand
Der physische und emotionelle Tastsinn ist kulturell im menschlichen Körperkontakt verankert, sei er liebend oder gewalttätig. Das Berühren und Berührtwerden berührt die Seele so tief, dass die Tangotänzerin Maria ihren Körper dem Aids-kranken Teenager Max vor seinem Tod zum Ertasten geben kann, dass der Migrantenjunge Luca in Giuseppe Garcias «Kippzustand» sich umbringt, dass der Erzähler aber an dem metaphorischen Täter nicht Hand anlegen kann, dass Edith in Perikles Monioudis «Fäulers Rückkehr» den Vater ins Gesicht schlägt und dass das Streicheln in Liebesszenen der Secondo-Literatur sich in ein synästhetisches, transkulturelles Pandämonium erweitert. Das Fühlen durch körperliche Berührung ist ebenso kulturell beeinflusst wie das Berührtsein als seelische Erregung. Sich fremd fühlen in den Augen der Eltern sowie sich fremd fühlen in der schweizerischen Umgebung wird oft in der Secondo-Literatur thematisiert. Auch in Irene Brežnas «Die undankbare Fremde» erfahren wir diese doppelt schizophrene Tastwahrnehmung, die sich schlussendlich in eine neue, selbstsichere Secondo-Identität verwandelt. Gemäss Aristoteles, der die Klassifizierung der fünf Sinne in «De Anima» beschreibt, ist der Tastsinn auch eng verbunden mit der Geschmackswahrnehmung: Das Essen berührt ja die Zunge. Und die Zunge wird gebraucht zum Sprechen. Und «Sprache ist eine langsam eroberte Heimat», meint Francesco Micieli in «Meine italienische Reise».
Zusammenfassend stimuliert der transkulturelle «Secondo-Space» mit seiner verinnerlichten Sprachenvielfalt und den erhöhten Sinnesempfindungen die Kreativität und Virtuosität in der Erzählkunst, die in dieser Form den einheimischen Schriftstellern fehlt, weil die doppelt verfremdete Sozialisation nicht am eigenen Leib erlebt wurde und der eigenen Seele widerfuhr. Die Synästhesie der Gefühle und Sinneswahrnehmung im Secondo-Raum ist oft der Anlass zum Schreiben überhaupt. «Jetzt gibt es keinen Halt mehr. Schauen, riechen, betasten, vor und zurück, von früh bis spät, alles einsaugen» (Ilma Rakusa, «Mehr Meer»). Und man möchte hinzufügen: «…alles in neue Worte fassen und aufschreiben.» Nur so kann auch die schmerzliche Empfindung der Angst vor dem gegenseitigen Fremden sich kritisch und ausgleichend in ein menschliches Verstehen entwickeln. Denn vergessen wir nicht: die so evozierten Gefühle der Leser und Leserinnen wiederum beeinflussen ihre eigenen sozialen und kulturellen Beziehungen mit den Migranten. Sie bestimmen, wie sie dem «Fremden», begegnen, sprich: ihn sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten.
Nicht nur die Schweiz verändert sich durch die Migration, auch die Schweizer Literatur. Einheimische Autoren erzählen neuerdings ebenfalls sensorische Migrantengeschichten: Martin Suter in «Der Koch», Klaus Merz in «Der Argentinier» und Rolf Dobelli in «Massimo Marini». Warum aber haben sie nicht den Schweizer Buchpreis erhalten, wie Ilma Rakusa, Melinda Nadj Abonji und Catalin Dorian Florescu? Die Antwort ist einfach: Schriftsteller schreiben über ihre Erfahrungen, über das, was sie wissen und ihre Sinne wahrnehmen, und über das, was sie imaginieren können, obwohl sie diese Einflüsse oft und kategorisch verneinen. Fiktion und Dichtung ist also stets biographisch motiviert – und jede Biographie hat Narrative, die sich ständig verändern. Authentische interkulturelle Sinneserfahrungen im Secondo-Raum kann man also nicht wirklich nachahmen. Autoren und Autorinnen mit persönlichen Migrationserfahrungen schreiben – über ebendiese – auch deshalb sinnlicher, engagierter und: besser.
1 Charlotte Schallié und Margrit Zinggeler (Hg.): Globale Heimat.ch: Grenzüberschreitende Begegnungen in der zeitgenössischen Literatur. Zürich: edition8, 2012.
2 Margrit Zinggeler: How Second Generation Immigrant Writers Have Transformed Swiss and German Language Literature. A Study of Sensorial Narratives by Authors Writing from the Swiss «Secondo-Space». Leviston: Edwin Mellen Press, 2011.