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Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne?

«Er fährt wir ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen, holt ihn mir herunter, sagt: ‹Herr General, hier habe ich für Sie eine Bibliographie der Bibliographien› – du weisst, was das ist? – also das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher […]

«Er fährt wir ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen, holt ihn mir herunter, sagt: ‹Herr General, hier habe ich für Sie eine Bibliographie der Bibliographien› – du weisst, was das ist? – also das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher und Arbeiten, die sich in den letzten fünf Jahren mit den Fortschritten der ethischen Fragen, ausschliesslich der Moraltheologie und der schönen Literatur, beschäftigt haben – oder so ähnlich erklärt er es mir und will verschwinden. Aber ich packe ihn noch rechtzeitig an seinem Jackett und halte mich an ihm fest. ‹Herr Bibliothekar›, rufe ich aus, ‹Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir das Geheimnis verraten zu haben, wie Sie sich in diesem› – also ich habe unvorsichtigerweise Tollhaus gesagt, denn so war mir plötzlich zumute geworden – ‹wie Sie sich›, sage ich also, ‹in diesem Tollhaus von Büchern selbst zurechtfinden.› Er muss mich missverstanden haben; nachträglich ist mir eingefallen, dass man behauptet, Wahnsinnige sollen mit Vorliebe anderen Menschen vorwerfen, dass sie wahnsinnig seien; jedenfalls hat er immerzu auf meinen Säbel geschaut und war nicht zu halten. Und dann hat er mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müsste: ‹Herr General›, sagt er, ‹Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!›

Weisst du, das war mir nun beinahe wirklich zuviel! Aber er hat es mir, wie er meine Bestürzung gesehen hat, auseinandergesetzt. Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, dass sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ‹Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren!›, hat er mich belehrt. ‹Er wird niemals einen Überblick gewinnen!›

Ich fragte ihn atemlos: ‹Sie lesen also niemals eines von den Büchern?›

‹Nie, mit Ausnahme der Kataloge.›

‹Aber Sie sind doch Doktor?›

‹Gewiss. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich›, erklärte er. ‹Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General,› fragt er, ‹gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtigstellt und so weiter?›

Ich muss dir gestehn, wie er mich danach allein gelassen hat, hat es nur zweierlei gegeben, was ich gern getan hätte: entweder in Tränen ausbrechen oder mir eine Zigarette anzünden; aber beides war mir an diesem Ort nicht gestattet!»

zitiert aus: Robert Musil, «Der Mann ohne Eigenschaften», hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowolth, 1981, S. 461 f.

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